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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

873–875

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Meenken, Immo

Titel/Untertitel:

Reformation und Demokratie. Zum politischen Gehalt protestantischer Theologie in England 1570-1660.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromman-holzboog 1996 380 S. gr.8 = Quaestiones; 10. ISBN 3-7728-1599-5.

Rezensent:

Kurt Nowak

Die Suche nach den Wurzeln der modernen Demokratie führt auf ein Themenfeld, auf dem sich historische Recherchen und ideenpolitische Interessen besonders intensiv miteinander verquicken. Auch die Trierer Dissertation Immo Meenkens - Doktorvater war Günter Birtsch - bietet dafür einen Beleg. Der Vf. weiß es. Deshalb hat er viel Mühe darauf verwandt, die Voraussetzungen seiner Studie transparent zu machen. Das geschieht in einem "Grundlagenkapitel", welches zum einen der Klärung der Begriffe Puritanismus und Demokratie dient, und das zum anderen aus einer umfangreichen Skizze des Forschungsstandes besteht (35-85).

Der Vf. hat sich von jenen Forschungen zum englischen Revolutionschristentum des 17. Jh.s anregen lassen, welche die schon kanonische "Whig interpretation of history" grundlegend in Frage stellten, also den vermeintlich substantiellen Zusammenhang zwischen der Reformation des 16. Jh.s sowie des Puritanismus des 17. Jh.s mit der modernen Demokratie. Besonders verpflichtet weiß sich der Vf. dem älteren Monumentalwerk Samuel R. Gardiners (Betonung des Glaubens-, nicht des Sozial- und Politikaspekts in der puritanischen Revolution) und der Studie von Michael Walzer: "The revolution of the Saints". London 1966 (Hervorhebung der regressiven Züge des Puritanismus, die dieser aktivistisch-revolutionär überspielte). Unter den deutschen Autoren waren für die Urteilsbildung des Autors D. Ritschl, W. Huber, H. E. Tödt und W. Finkentscher mit ihren differenzierenden und entmythologisierenden Betrachtungen zur christlichen bzw. protestantischen Genese der modernen Demokratie wichtig. Huber und Tödt verwiesen auf die breiten Zustromgebiete der Demokratie (Stoa-Rezeption, bürgerlicher Besitzindividualismus u. a.), Fikentscher beleuchtete die beachtliche Rolle des Anglikanismus, namentlich Richard Hookers.

Da der Vf. seinen Forschungsbericht post festum schrieb, d.h. im Licht der bei den Einzelanalysen gewonnenen Erkenntnisse, diese aber wiederum durch die Bewertung der Forschungsliteratur präformiert sind, könnte man von einem hermeneutischen circulus sprechen. Jedenfalls weiß oder ahnt man nach dem Forschungsbericht, was in den beiden Hauptkapiteln B ("Theologische Entwürfe der fortgeschrittenen Reformation") und C ("Die Emanzipation des Menschen und der Politik in der Theologie des Anglikanismus") folgen wird, nämlich eine demokratietheoretische und demokratiegeschichtliche Herunterstufung der "fortgeschrittenen Reformation" (Puritanismus) bei gleichzeitiger Aufwertung des Anglikanismus.

Ob die Zusammenfassung der vom Vf. behandelten puritanischen Bekenntnisgruppen unter dem Begriff "fortgeschrittene Reformation" glücklich ist, sei dahingestellt. Der Begriff suggeriert ein evolutionäres Moment, das am Selbstverständnis der Protagonisten der "true Reformation" nur partiell Anhaltspunkte findet, vor allem aber die Frage nach einer übergreifenden Theorie des Protestantismus aufwirft. Was der Vf. im Einzelnen über das Politikpotential der "fortgeschrittenen Reformation" bei der Generierung der Demokratie mitzuteilen hat, ist gleichermaßen lehrreich wie ernüchternd. Man wird ihm kaum widersprechen können oder wollen, wenn er den Kernimpuls des Presbyterianismus nicht in der Modernisierung der Politik sieht, vielmehr im Eifer für den wahren Glauben und für die Gotteskirche, und wenn er die Vorbildwirkung der kongregationalistischen Kirchenstruktur für die politische Verfassung der modernen Demokratie erheblich einschränkt.

"Die Brauchbarkeit einzelner Theoreme ... für politische Forderungen war eher zufällig" (135). In manchen Passagen kehrt der Vf. den Zusammenhang Religion - Demokratie sogar um, und er läßt dieser Umkehrung den Salto mortale einer funktionalen Deutung folgen: "Mentale Wurzeln der Demokratie, Begriffe, Vorstellungen und Maximen ... entstammen, so viel ist sicher, nicht originär der religiösen Theorie. Aus deren restriktiven, den Spielraum der menschlichen Existenz eher verengenden Tendenzen waren sie nicht zu entwickeln. Die religiöse Theorie war aber offenbar in der Lage, sie aufzugreifen und zu transportieren. Aufgrund ihrer eigenen weitreichenden Akzeptanz verschaffte sie ihnen dann einen Geltungs- und Wirkungskreis, der die demokratische Entwicklung beachtlich gefördert haben mag" (148).

Bei den Beschreibungen der "einengenden Tendenzen" des Puritanismus scheut der Vf. nicht den Gebrauch kräftiger, gelegentlich brandmarkender Worte: fromme Gesinnungstyrannei, politischer Indifferentismus, gesetzliche Bibel(um-)deutung, autoritäres Wertgefüge. Die Konklusion lautet: "Für eine eindeutige Einweisung der fortgeschrittenen Reformation in das mentale Vorfeld der modernen Demokratie fehlt ihren religiösen Theorien der unverzichtbare Bodensatz der Humanität." Es scheint, daß der Vf., inspiriert durch ein bestimmtes Bild der Demokratie und gebannt durch seine geistesgeschichtliche Methode, hinter kritischen Differenzierungsleistungen der Historiker bei der Bestimmung des Ranges des Puritanismus für die Demokratiegeschichte ein wenig zurückbleibt. Denn historische Rekonstruktionen - wie bei Gardiner und Walzer - lesen sich insgesamt doch ein wenig anders als viele der ins Normative zielenden Sätze des Vf.s, weil sie den "Sitz im Leben" bewußt halten. Bei der Reformation des 16. Jh.s unterliegt er m. E. manchen Fehldeutungen. Kann man wirklich behaupten, Luther meinte mit der "Freiheit eines Christenmenschen" (1520) nur eine passive Freiheit: "das grundsätzliche Befreitsein der menschlichen Seele [sic!] durch die Gnade Gottes" (133)?

Im Mittelpunkt des "anglikanischen" Teils der Studie stehen Richard Hookers "Ecclesiastical Polity", William Chillingworth’ "Religion of Protestants" und Jeremy Taylors Plädoyer für ein "vernünftiges Christentum". Die lehrreichen Details, die der Vf. bei der Analyse dieser bedeutenden Repräsentanten des Anglikanismus ausbreitet, können hier nicht weiter referiert werden. Gewiß ist ihm zuzustimmen, wenn er energisch für die Einbringung des anglikanischen Wertehorizonts in der Geschichte der modernen Demokratie plädiert. Obschon auch der Anglikanismus kein "demokratisches System" repräsentierte, habe er sich durch Aufwertung der Vernunft, Rückstufung des Dogmas hinter die christliche Existenz, Respekt vor dem Personsein des Mitmenschen, Entfanatisierung der Wahrheitsfrage in diskursiver Gesinnung und anderes mehr unverlierbar in die Demokratiegeschichte eingeschrieben. Ein Spitzensatz - er findet sich in der dem Buch vorangestellten "Zusammenfassung"- lautet: "So finden sich entscheidende Aspekte moderner demokratischer Individual- und Sozialethik in der Theologie des Anglikanismus entwickelt".

Irritationen erzeugt die Methode des Vf.s, in einem idealtypisch anmutenden Schwarz-Weiß-Verfahren die vor- und anti-demokratischen Defizite der "fortgeschrittenen Reformation" durch die demokratiefähigen Tugenden des Anglikanismus zu konterkarieren.

Zu Hooker heißt es: "Dem ,dictate of conscience’ setzte er das ,sentence of reason’ entgegen. Wider den absoluten und kategorischen Wahrheitsanspruch des Puritanismus fand er zu einer der Natur des Menschen gemäßeren Form der Wahrheitsfindung und der positiven christlichen Existenz" (219). Bei der Gewichtung von "Gewinn und Verlust in Chillingworth’ Denken" liest man, Chillingworth habe die "Härten der puritanischen Lebens- und Weltauffasssung" (und den unduldsamen Habitus des Katholizismus) durch Überführung der Toleranz von der pragmatischen in die ethische Dimension überwunden (237).

Die Studie stellt als akademische Graduierungsschrift eine respektable Leistung dar. Willkommen und beachtenswert ist sie schon deshalb, weil die englische Theologie- und Kirchengeschichte des 17. Jh.s in Deutschland von der Forschung vernachlässigt wird. Warum beim Puritanismus John Milton außer Betracht blieb, wird nicht erklärt. Daß historischer Erkenntnisgewinn und deutungspolitisches Interesse gerade auch in dieser Studie eng miteinander verzahnt sind, dürfte deutlich sein.