Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

664–666

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Volkmann, Evelina

Titel/Untertitel:

Vom "Judensonntag" zum "Israelsonntag". Predigtarbeit im Horizont des christlich-jüdischen Gesprächs.

Verlag:

Stuttgart: Calwer 2002. IX, 306 S. 8. Kart. ¬ 24,00. ISBN 3-7668-3762-1.

Rezensent:

Irene Mildenberger

Die Tübinger Dissertation von Evelina Volkmann, eine Untersuchung der Predigtarbeit zum 10. Sonntag nach Trinitatis, inzwischen als "Israelsonntag" bekannt, im Zeitraum von 1945-1996, ist für die Homiletik methodisch zweifach innovativ. Statt veröffentlichter Predigten, die ja eine zufällige Größe bilden, werden Predigthilfen untersucht, so dass eher repräsentative Ergebnisse erreichbar sind. Diese Texte analysiert die Vfn. mit einer aus der empirischen Sozialforschung übernommenen Methode, der Inhaltsanalyse, zu der es in der Homiletik nur vereinzelte ältere Arbeiten gibt, die sich methodisch nicht auf dem Stand des vorgelegten Beitrags befinden. Neben diesem methodischen Gewinn bietet die Arbeit aber vor allem einen wichtigen Beitrag zum "Predigen in Israels Gegenwart" und unterstützt damit das Anliegen des christlich-jüdischen Dialogs.

Nach einer Einleitung samt Forschungsüberblick folgen vier unterschiedlich umfängliche Kapitel. Teil A (20-95) behandelt das Profil des 10. Sonntags nach Trinitatis, den die Vfn. als überindividuellen Kasus interpretiert. Historisch war der Tag vor 1945 ausgehend vom Sonntagsevangelium Lk 19,41-48 "großteils auf judenfeindliche Weise" (41) vom Gedenken der Tempelzerstörung des Jahres 70 n. Chr. bestimmt. In einer kenntnisreich verfassten Abhandlung zum 9. Aw, dem jüdischen Gedenktag der Zerstörung Jerusalems und des Tempels (42- 64), werden neben historischem Hintergrund, Riten und Bräuchen vor allem auch Theologie und Bedeutung des Tages dargestellt. Nach jüdischer Überzeugung wurden Jerusalem und der Tempel Mipne Chata'enu (unserer Sünden wegen) zerstört, der 9. Aw trägt also paränetischen Charakter. Die Strafe ist aber nicht endgültig, das Miteinander von Ermahnung und Trost bestimmt diesen Tag, der angesichts vielfältiger Katastrophen des jüdischen Volkes, derer hier gedacht wird, zugleich die Hoffnung auf Gottes Erlösung und das Kommen des Messias wach- hält. Das nicht-orthodoxe Judentum erwartet und erbittet zwar nicht den Wiederaufbau des Tempels, aber auch hier hilft der 9.Aw "Vertreibungs- und Leiderfahrungen auf konstruktive Art und Weise in ... bestehende und nach wie vor anhaltende Gottesbeziehung zu integrieren" (63). Als Bezugsfelder des 10. Sonntags nach Trinitatis werden schließlich einerseits das christlich-jüdische Gespräch in seinen verschiedenen Phasen seit 1945 und in seiner Bandbreite zwischen Dialog und Mission, andererseits die Perikopendiskussion dieses Sonntags dargestellt.

Das kurze Kapitel B (96-108) bietet die methodischen Grundlagen der Arbeit, indem einerseits Begriff und Aufgabe der Predigthilfeliteratur und andererseits vor allem die Methodik der Inhaltsanalyse kurz dargestellt wird. Hierbei handelt es sich um eine systematische, d. h. regel- und theoriegeleitete Untersuchung fixierter Kommunikation (104 f.).

Entsprechend der sieben vorgegebenen Schritte der Analyse wird im Kapitel C (109-244) zuerst das Problem formuliert, die Frage nach der Überwindung des homiletischen Antijudaismus und nach der "sachgemäßen Rede von Israel in christlicher Predigt" (109). Nach der Benennung der "untersuchungsleitenden Hypothesen" und der Festlegung, dass semantisch und nicht pragmatisch, also nach dem Inhalt der Predigthilfen und nicht nach ihrer Wirkung auf die Rezipienten gefragt werden soll, erfolgt die Bestimmung des Analysematerials - 304 Predigthilfen, so genannte "Analyseeinheiten" aus 12 gängigen überregionalen Predigthilfereihen der Jahre 1946-96, dazu genau benannte spezielle Predigthilfe(reihe)n zum 10. Sonntag nach Trinitatis. Schließlich wird als "Kernpunkt" der Methode (8) anhand einer ersten Durcharbeitung der Predigthilfen mit Hilfe folgender Fragen ein Klassifizierungssystem für die Inhaltsanalyse entwickelt: Charakterisieren die Autoren den 10. Sonntag nach Trinitatis als Gedenktag der Tempelzerstörung oder Judenverfolgung, oder soll er das Verhältnis Israel-Kirche reflektieren? Soll die Predigt an diesem Tag als Paränese zur Buße rufen, sucht sie nach einem theologisch konstruktiven Verhältnis zum Judentum oder fordert sie auf Grund der Überzeugung von der Wahrheit des Christentums zur Judenmission auf? Und schließlich: Ist das Verhältnis von Israel und Kirche für die Autoren durch die Enterbung oder die bleibende Erwählung Israels bestimmt?

Diese inhaltlichen Klassen, die jeweils noch feiner untergliedert sind, liegen nun der eigentlichen Analyse und Interpretation zu Grunde (132-244), wobei die Vfn. vier Phasen unterscheidet. In der ersten (1945-1960) behält der Tag als "Judensonntag" ganz überwiegend seinen Charakter als Gedenktag der Tempelzerstörung. "Wie das Judentum entdeckt wird" - so überschreibt die Vfn. die zweite Phase (1961-74), eingeleitet durch den Eichmann-Prozess in Jerusalem, der ein neues Interesse für die Schoah weckt und u. a. dazu führt, dass die EKD 1961 eine eigene Predigthilfe von Hanns Lilje zum 10. Sonntag nach Trinitatis verfassen lässt. Der "Israelsonntag" kommt zumindest für einige Autoren in den Blick. Am Beginn der dritten Phase (1975-1989) steht die EKD-Denkschrift "Juden und Christen" von 1975. Der Israelsonntag erhält "ein klares, von Antijudaismus befreites Profil" (209), zumindest ein Drittel der Predigthilfen ist nun geprägt durch eine Theologie der bleibenden Erwählung Israels. Aber selbst in der letzten Phase (1990er Jahre) - charakteristisches Ereignis ist hier das Erscheinen der EKD-Denkschrift "Juden und Christen II" - erkennt die Vfn. noch ein doppeltes Kasusprofil des 10. Sonntags nach Trinitatis. Wo am klassischen Gedenktag festgehalten wird, kann "das Ziel der Antijudaismusfreiheit" (236) noch immer verfehlt werden. Die neue Grundausrichtung müht sich nun, die Israelthematik mit dem individuellen Alltagshorizont der Gemeinde zu verbinden.

Kapitel D (245-261) fragt nach den Resultaten der Inhaltsanalyse. Auch wenn nur ungefähr ein Drittel der Predigthilfen konsequent antijudaismusfrei von Israel reden, haben die entsprechenden Autoren als Vorreiter die Neuprofilierung des Sonntags erreicht, die erst seit Ende der 1980er Jahre auch in kirchlichen Verlautbarungen eingefordert wurde. Als Hauptaufgabe der Predigt sehen sie die Überwindung des theologischen Antijudaismus. Als Elemente einer Homiletik im christlich-jüdischen Gespräch, die sich aus der Analyse ergeben, benennt die Vfn. u. a. die Bestimmung der homiletischen Situation durch die Schoah - die "Zeitgeschichte spielt bei der Predigtvorbereitung eine konstitutive Rolle" (261) - und die Wichtigkeit eines differenzierten homiletischen Gesetzesbegriffs, der das Gesetz als Gegenbegriff von Evangelium nicht mit der Tora identifiziert. Von entscheidender Bedeutung sind die hermeneutische Frage nach dem Verhältnis von Israel und Kirche und vor allem die "je persönlich angeeigneten theologischen Überzeugungen der Predigenden" (261).

Obwohl die schematische Methodik manchmal zu Längen und Wiederholungen führt und vor allem verhindert, dass auch einmal eine Predigthilfe im Zusammenhang dargestellt und gewürdigt wird, bietet die Arbeit eine Fülle an interessanten Einzelbeobachtungen. Sie erprobt erfolgreich eine Methodik, eine große Zahl von Quellentexten systematisch auszuwerten. Vor allem aber ist es das Verdienst der Vfn., durch die Erhellung der Entwicklung seit 1945 Licht auf den schwierigen Kasus Israelsonntag geworfen zu haben. So ist die Arbeit methodisch und inhaltlich sowohl für die, die predigen oder das Predigen unterrichten, als auch für die, denen der Dialog mit dem Judentum am Herzen liegt, von hohem Interesse. Ihr sind darum viele Leserinnen und Leser zu wünschen.