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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

656–658

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lohmann, Friedrich

Titel/Untertitel:

Zwischen Naturrecht und Partikularismus. Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. X, 467 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 116. Geb. ¬ 118,00. ISBN 3-11-017375-1.

Rezensent:

Peter Dabrock

In öffentlichen Debatten wird immer wieder gefragt, was denn überhaupt eine partikulare Ethiktradition, wie beispielsweise die christliche, legitimerweise zur Gestaltung des politischen Gemeinwesens beitragen könne und dürfe. Auch wenn man dieser eher rechtsethischen Frage damit begegnen kann, dass weltanschauliche Neutralität nicht Wertneutralität meint und somit nicht nur ein offensichtliches Interesse, sondern auch ein legitimes Recht der Kirchen existiert, sich an der Gestaltung der "öffentlichen Vernunft" (Rawls) zu beteiligen, so muss man sich doch eingestehen, dass über solche extrinsischen Legitimationsdiskurse hinaus die intrinsische Frage nach der Grundlegung einer christlichen Ethik noch längst nicht beantwortet ist. Im Gegenteil, nahezu alle derzeit in Deutschland relevanten evangelisch-theologischen Ethiker teilen die Wahrnehmung, dass die Kirchen und die theologischen Ethiken material viel, aber begründungstheoretisch, d. h. über Voraussetzungen, Strukturen und Implikationen genuin theologisch-ethischer Urteile, zu wenig Substantielles haben verlautbaren lassen. Unter der nur auf den ersten Blick simpel erscheinenden Fragestellung: "Was liegt dem ethischen Urteil zugrunde?" (3) wendet sich Friedrich Lohmann in seiner Tübinger Habilitationsschrift diesem allgemein konstatierten Defizit zu. Zu ihrer Beantwortung trifft er die einleuchtende, aber folgenreiche Grundentscheidung (11- 14), dass die Grundlegung einer christlichen Ethik so beschaffen sein muss, dass sie nicht nur intrinsischen Maßstäben genügen darf, sondern auch dem Problematisierungsniveau des Menschenrechtsdiskurses entsprechen können muss. Weil er in ihm den neuzeitlichen Erben der alten metaphysisch orientierten Naturrechtslehre sieht (10 f.), ist die Matrix der Untersuchung gespannt: Theologische Grundlegung - Naturrecht - Menschenrechte.

Angesichts der intrinsischen Ausgangsfrage und dem extrinsischen Vermittlungsziel ist der Aufbau der Arbeit konsequent und konzise durchgehalten: Im ersten Teil (17-164) stellt L. kenntnisreich und ohne Polemik Modelle evangelisch-theologischer Ethikgrundlegung dar (ausführlich W. Herrmann, E. Troeltsch, K. Barth, E. Brunner, E. Hirsch, T. Rendtorff; kürzer D. Bonhoeffer, obwohl dieser dem Anliegen L.s, das Naturrecht begrenzt positiv zu würdigen, entgegenkäme, H. Thielicke, St. Hauerwas und D. Lange). Dabei berücksichtigt er nicht nur die Spezifika des jeweiligen Autors, sondern fragt immer auch nach seiner (meist kritischen) Haltung zum (traditionellen) Naturrecht. An ihr zeigt sich jeweils paradigmatisch das für L. im Gang durch die verschiedenen Positionen gewonnene Fazit, dass es den Autoren nicht gelingt, die Spannung von partikularer Bindung und Eröffnung universaler Perspektiven fruchtbar aufrecht zu halten. Entweder kommt es nach L. zur Überdehnung des Pols Universalität (so bei Herrmann, Hirsch oder Rendtorff) oder zur einseitigen Preisgabe der Vermittelbarkeit durch eine zu enge sprachliche Festlegung auf die dogmatischen Vorgaben (so insbesondere natürlich bei Barth, wobei L.s Barth-Lektüre die Verarbeitung neuerer Barth-Deutungen, die den bekannten Interpretationsklischees entgegenarbeiten, vermissen lässt).

Während die Theologen der Skylla "Universalität trotz Partikularität" nicht ausweichen können, scheinen die anschließend befragten Philosophen an der Charybdis "Partikularität" zu zerschellen. Die im zweiten Hauptteil "Naturrecht und Menschenrechte" (165-319) nach einer soliden Darstellung der Geschichte des Natur- und frühen Menschenrechtsgedankens ausführlicher vorgestellten Autoren (Hegel, Alexy und Höffe) haben nach L. die bleibende Partikularität jeglicher ethischen Argumentation nicht hinreichend in ihren Begründungsdiskurs integriert.

Nach diesem sich aus der (Re-)Konstruktion ergebenden Patt drängt es sich nachgerade auf, eine neue Form der Verbindung von Partikularität und Universalität zu suchen. L. findet sie darin, dass er a) inhaltlich auf die anthropologische Fundierung und damit konstitutiv materiale Imprägnierung jeder Ethik aufmerksam macht (320-337) und b) methodologisch entsprechend an die Perspektivgebundenheit jeder Ethik erinnert (338 ff.). Um diesen methodischen Brückenschlag zu demonstrieren, sucht und findet er analoge Begründungsfiguren u. a. bei Walzer, Taylor und Schleiermacher (339-373). Gegenüber den genannten und weiteren, zur Vertiefung behandelten, allerdings den Gang der Untersuchung kaum weiterführenden Positionen (Rentsch, Tönnies, Rippe und Lütterfels) liegt L. jedoch auch daran, die Besonderheit der christlichen Ethik intrinsisch herauszuschälen. Dafür reserviert er eines der beiden Schlusskapitel (391-407). Vor ihm hatte er bereits die "Eschatologie als gedanklichen Ermöglichungsgrund für einen konsequenten perspektivischen Universalismus" (390) eingeführt. In ihm profiliert er entgegen dem Ausgang beim vermeintlich allgemeinen ethischen Bewusstsein oder entgegen einem exklusiven Ausgang beim Christus- oder Rechtfertigungsgeschehen (391) eine "Mittelposition" (ebd.), die bei einer christlichen Anthropologie einsetzt. Diese ist nicht einfach der Ethik vorgegeben, sondern steht mit ihr in einem komplexen Wechselverhältnis (394). Zwar verzichtet L. auf eine ausführliche materiale Entfaltung, gemeint ist aber gemäß dem letzten Absatz der Arbeit die "spannungsvolle Existenz zwischen zwei Welten" (429); der konstitutive Bezug der Anthropologie zur Christologie wird jedoch nicht konsequent in Betracht gezogen. Dies wird deutlich, wenn L. zwar konzediert, dass die Anthropologie sich wie alle Theologie "auf das Christusgeschehen" (394) zurückbeziehe, aber dann dennoch von der "grundlegenden Schwäche einer christologischen Grundlegung der theologischen Ethik" (397) ausgeht. Zumindest noematisch-geltungstheoretisch löst diese Aussage den Zusammenhang zwischen christlicher Anthropologie, Christologie und sich daraus ergebender Grundlegung christlicher Ethik auf.

Im zweiten Schlusskapitel schließlich (408-429) zieht L. in erneuter Aufnahme des Gesprächs mit den theologischen Kritikern des Naturrechts die Folgerungen seiner eigenen ethischen Grundlegungstheorie für das Verständnis von Naturrecht und Menschenrechten: Die Sache, wenn auch nicht der Begriff des Naturrechts kann bestätigt (416 f.), Begründungsstrategien für universale Menschenrechte können zumindest durch einen "fundierenden Bezug auf Gerechtigkeit" (428) unterstützt werden.

L.s Studie ist ein wichtiger Beitrag theologisch-ethischer Methodologie, weil es ihm gelingt, deutlich zu machen, dass theologische Ethik ihre Begründung genau darin finden kann, aus der eigenen Perspektive heraus einen nicht nur uneigentlichen, sondern originären Beitrag zur Gestaltung des Allgemeinen zu leisten. In der Klammer dieser Würdigung bleiben im Gespräch mit der Studie gewonnene Fragen: Hätte nicht das Spannungs- und Konfliktpotential gerade der gewählten "Mittelposition" (391) stärker berücksichtigt werden müssen? Liegt nicht die eigentliche Chance theologischer Ethik in ihrem Verständnis als "Konfliktwissenschaft" (Bayer)? Wenn dem von L. in der anthropologischen Grundlegung zugestimmt wird (vgl. 392.427), dann müssten nach phänomenologischem Axiom Zugangsart und Sachgehalt stärker korrelieren. Dazu hätte man auf die auch einer "Mittelposition" nicht zu ersparende Rechenschaft über die jeweiligen noetisch-erkenntnistheoretischen und noematisch-geltungstheoretischen Argumentationsvektoren stärker eingehen müssen. Anders formuliert: Der Status des "Zwischen" im Titel hätte noch stärker zum Thema werden können. Dann hätte sich aber wohl gezeigt, dass auch die vermeintliche Mittelposition zumindest geltungstheoretisch - und das ist entscheidend - nicht umhin kann, vom In-Anspruch-genommen-Sein durch "Gottes letztes Wort" (Verweyen) in Jesus Christus auszugehen. Ist dem so, reduziert sich die Mittelposition jedoch auf eine "modale Differenz" (Waldenfels) ethischer Kommunikationen. Aber auch dies wäre kein uninteressantes Ergebnis gewesen.