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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

654–656

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Koffler, Joachim

Titel/Untertitel:

Mit-Leid. Geschichte und Problematik eines ethischen Grundwortes.

Verlag:

Würzburg: Echter 2001. XIV, 321 S. 8 = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, 34. Kart. ¬ 24,50. ISBN 3-429-02405-6.

Rezensent:

Doris Hiller

Die gegenwärtige bioethische Debatte, die den Wert des menschlichen Lebens ins Verhältnis zur medizinischen Machbarkeit und zum Fortschritt genetischer Forschung setzt, hält im Hintergrund ein Argument parat, das an den so genannten gesunden Menschenverstand appelliert: das Mitleid. Wo Leid ist, ist auch Mitleid, und dessen Anspruch kann nur die Beseitigung von Leid sein.

Die im Sommersemester 2000 von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwig-Universität in Freiburg/Breisgau (E. Schockenhoff) angenommene und 2001 veröffentlichte Dissertation von Joachim Koffler stellt dieses Argument in den Vordergrund und beleuchtet es aus philosophischer, ethischer und christlicher Perspektive. Der Titel der eingereichten Fassung der Arbeit formuliert dabei das Anliegen und die Zielsetzung von K. noch präziser: "Aus lauter Mitleid - dem Leben ein Ende machen?". Die Vereinnahmung des Mitleids als eines quasi-logischen Arguments zur Begründung der Euthanasie bildet die Basis, von der aus der Vf. nach dem Verständnis des Mitleids fragt. Die biblische Rede von der Barmherzigkeit wird dabei als Leitkriterium für ein christlich-humanes Mitleidsdenken herausgearbeitet und als eindeutige Stellungnahme nicht nur bezüglich der Euthanasiedebatte formuliert.

Der Vf. gliedert seine Arbeit in sechs Kapitel. Einführend gibt er dazu einen kurzen Überblick zur einschlägigen Literatur. Bemerkenswert ist dabei die Beobachtung, dass erst in der TRE (1993) und im LThK3 (1998) "Mitleid" zu einem eigenständigen Stichwort theologischer Lexika wird. Der Vf. begründet seine Konzentration auf die Thematik des Mitleids im 19. und 20. Jh. damit, dass es auch das Mitleidsargument war, welches die Praxis der Euthanasie im Nationalsozialismus begünstigte. Einer eigenen Betonung dessen, dass der Vf. aus christlicher Perspektive argumentieren will, hätte es im Entstehungskontext der Dissertation nicht ausdrücklich bedurft; jedoch nutzt der Vf. dies, um auf das Mitleid als eine Grundkonstante aller Religionen, insbesondere des Buddhismus, hinzuweisen.

In Kap. I resümiert der Vf. die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zum Begriff "Mitleid" und ergänzt diese durch zwei literarische Zeugnisse zur Problematik (M. M. Sforim; S. Zweig).

Die folgenden Kapitel haben im Wesentlichen darstellenden Charakter. Der Vf. setzt ein mit den ethischen Konsequenzen des (Sozial-)Darwinismus (Kap. II). Die Folgen aus dem Kampf ums Dasein zeichnet er mit der drastischen Überschrift "Tödliches Mitleid" nach, indem er die Vorboten des Euthanasie-Programms, das in der Zeit des Nationalsozialismus wirksam wurde, aufzeigt. Zu Recht greift er dabei auf die schon von Kurt Nowak geleistete Arbeit in diesem Bereich zurück. Das philosophische Fundament bezüglich der Diskussion um das Mitleid (Kap. III) skizziert der Vf. in einer ausführlichen Behandlung der Anthropologie Schopenhauers, der Antwort Nietzsches darauf und der wiederum als Antwort auf Nietzsche konzipierten Werteethik Schelers. Für die Zeit nach Auschwitz, wo "alle humanen Ethiken" (154) versagt haben, folgt eine Übersicht über die ethischen Konzeptionen des 20. Jh.s, die zum Verständnis des Mitleids herangezogen werden müssen (Kritische Theorie, Walter Schulz, Werner Marx, Ursula Wolf).

Der fehlende oder kritisierte metaphysische bzw. religiöse Horizont im Verständnis des Mitleids aus philosophischer Sicht wird vom Vf. in einem biblischen und theologisch-spirituellen Teil aufgearbeitet. "Mitleid in der Bibel" (Kap. IV) geht aus vom Mitleid Gottes, seiner barmherzigen Zuwendung zu den Menschen, die in Jesus Christus als inkarniertem Mitleiden Gottes mit seiner Konsequenz des Todes am Kreuz gipfelt. Das menschliche Mitleiden in biblischem Sinne ist im Gedanken der Imitatio verwirklicht. Das Verständnis von "Misericordias Domini" und der "Imitatio Christi" in der nachbiblischen Theologie (Laktanz, Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomos, Augustinus, Bernhard von Clairvaux, Franz von Assisi und Thomas von Aquin) bildet den Inhalt des V. Kapitels. Dass Mitleid im Anschluss an Thomas von Aquin kein theologisches Thema mehr sei, versieht der Vf. mit Fragezeichen. Ob nicht allerdings, wenn auch aus protestantischer Sicht formuliert, Luthers Betonung der Barmherzigkeit Gottes und Schleiermachers Rede vom Mitgefühl eine ethisch-theologische Fortführung ermöglicht hätten, muss sich der Vf. fragen lassen. Ebenso wäre eine ausführlichere Berücksichtigung von A. Schweitzer und D. Bonhoeffer angebracht gewesen. Hier in Kap. V zeigt sich auch am deutlichsten die Schwäche der Arbeit. Der Vf. zitiert sehr ausführlich, womit dem Leser auch weniger bekannte Äußerungen erschlossen werden. Bei den einschlägig bekannten Autoren allerdings wirken diese Zitate eher plakativ (insbes. bei Schweitzer und Bonhoeffer), zudem erschwert es den Lesefluss, wenn neben Primärzitaten auch diesen zugeordnete Sekundärtexte in ebensolcher Ausführlichkeit und im Petitdruck erscheinen. Etwas mehr interpretatorische Freiheit des Vf.s wäre hier sinnvoller gewesen. Seine nicht geringe Kenntnis der Diskussion um das Mitleid wird ohnehin durch ein breites Literaturverzeichnis und präzisierende Fußnoten belegt.

Insgesamt bietet die Darstellung des philosophischen, biblischen und theologischen Befundes zum Thema "Mitleid" eine gute und hilfreiche Gesamtschau, die in der gegenwärtigen bioethischen und anthropologischen Diskussion durchaus zu beachten sein wird. Wie dabei mit dem Argument des Mitleids umzugehen ist, fasst der Vf. im letzten Teil seiner Arbeit (Kap. VI) zusammen. Zentral ist die Aussage, dass an das Mitleid nicht im Sinne eines allen bekannten Gefühls appelliert werden kann, sondern dass nur ein im Mitleben begründetes Mitleiden als Beziehungsgeschehen den Anspruch auf ein ethisches Argument erheben kann: "Nicht das Gefühl ist beziehungsstiftend ..., sondern die Beziehung weckt Gefühle" (285). Diesem Beziehungsgeschehen geht der Vf. dann noch einmal in zweifacher Weise nach: Zum einen skizziert er eine allgemeine Bestimmung der christlichen Rede vom Mitleid, inspiriert durch das Beispiel Henri Nouwens; zum anderen kommt der Vf. auf sein Leitthema zurück: die Kritik am Mitleidspathos innerhalb der Euthanasiedebatte. Hier greift der Vf. auch auf den gegenwärtigen Diskurs zurück (P. Singer, H. Kuhse; W. Jens, H. Küng), um auf "verblüffende Ähnlichkeiten mit der Diskussion am Anfang des 20. Jahrhunderts" (290) im Rekurs auf das Mitleid als emotionales Argument aufmerksam zu machen.

Der Vf. selbst argumentiert abschließend mit Ulrich Eibach. Er wirbt um die Überwindung der Sprachlosigkeit im Leid und angesichts des Leids und um den personalen Beistand als ein dem biblischen Mitleiden Gottes gemäßes sinnstiftendes Mitleiden zur Ermöglichung eines würdevollen Weiterlebens. Zwei Aufgaben stellt das solidarische Mitleiden: zum einen "diejenigen zur Sprache [zu] bringen, die sich selbst nicht mehr zu Wort melden können" (303), zum anderen "mit den Leidenden zu sprechen" (ebd.). In beidem wird der Beziehungsraum zu Gott eröffnet und Gott selbst als Mitleidender und als Quelle des Lebens erfahrbar gemacht (304 f.).

Auf dem Fundament einer vom Vf. geleisteten, überzeugenden Analyse eines Phänomens, das sich nicht allein der Emotionalität verdankt, jedoch immer von dieser vereinnahmt wird und erst in der Freilegung des christlich motivierten Beziehungsgeschehens seine wahre Bestimmung erlangt, ist der Leser nun dort angekommen, wohin ihn der Vf. seit Beginn seiner Untersuchung leiten wollte: Mitleid ist ethisch nicht als abstrakter Appell zu verantworten, sondern allein als Geschehen, als Mitleiden.

Abschließend muss allerdings bemerkt werden, dass der Vf. selbst Gefahr läuft, einem spirituellen Pathos zu unterliegen, insofern Aussagen immer dann der Kritik ausgesetzt sind, wenn sie als generalisierende Annahmen daherkommen, z. B.: Menschen, die Leiden in ihrem Leben integrieren können, sind notwendig glücklicher (295); Menschen mit dem Wunsch zu sterben wollen stattdessen immer menschliche Zuwendung und Schmerzlinderung (296), oder ethische Verantwortung muss zum Gelingen des Lebens auch in der Nacht des Leidens beitragen (302). Hier hätte es einer kritischen Reflexion der durchaus berechtigten Zitate bedurft.

Insgesamt hätte man sich auch eine differenziertere Sicht auf die aktuellen, durchaus komplexen ethischen Problemzusammenhänge gewünscht, in denen die Rede vom "Gnadentod" und der "Euthanasie" gegenwärtig eine Rolle spielen.