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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

649–652

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Haspel, Michael

Titel/Untertitel:

Friedensethik und Humanitäre Intervention. Der Kosovo-Krieg als Herausforderung evangelischer Friedensethik.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2002. 240 S. 8. Kart. ¬ 29,90. ISBN 3-87887-1902-8.

Rezensent:

Andreas Pawlas

Für die evangelische Friedensethik bedeutet diese Arbeit einen Meilenstein. Der Autor stellt sich in ihr dem nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation durch die schweren Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Jugoslawien aufgebrochenen Konflikt zwischen dem gebotenen Schutz der Menschenrechte und dem ebenso gebotenen Schutz der Souveränität von Einzelstaaten. Grundorientierung seiner Untersuchung ist dabei nicht allein die in der evangelischen Friedensethik seit dem zweiten Weltkrieg einmütig herausgestellte vorrangige Option für die Gewaltfreiheit, sondern ein "organisatorischer Pazifismus" (82), der im Gegensatz zum radikalen "Gesinnungspazifismus" in eng begrenzten und begründeten Fällen akzeptieren will, dass zur Erzwingung des Friedens oder zum Schutz vor massiven Menschenrechtsverletzungen militärische Gewalt als "ultima ratio" etwa im Sinne einer humanitären Intervention gerechtfertigt oder geboten sein kann (6). Bemerkenswert mag nun hier gerade für den Kosovo-Krieg sein, dass für ihn in Deutschland eine Regierung verantwortlich war, in der eine Partei mitwirkte, zu deren Grundüberzeugungen bis dahin durchaus ein "Gesinnungspazifismus" gehörte.

Es ist das Verdienst der Arbeit H.s für die evangelische Friedensethik, dass er zur konkreten ethischen Untersuchung des Kosovo-Krieges ein detailliertes Beurteilungsraster erarbeitet, um anhand dieses Rasters seine Wertung zu treffen.

Dazu gehört nach einer Problembeschreibung im I. Kapitel zunächst ein historischer Rückblick im II. Kapitel. Entscheidend ist hier seine Analyse, dass der ethische Ort der Frage militärischer Gewaltanwendung traditionell die so genannte "Lehre vom gerechten Krieg" war. Er kritisiert jedoch, dass diese Lehre angesichts eines drohenden Atomkrieges und der dort nicht zu wahrenden Verhältnismäßigkeit der Güter nicht nur seitens radikaler "Gesinnungspazifisten" verabschiedet wurde. Selbst in den Heidelberger Thesen von 1957 sieht er eine Konfusion der Bellum iustum-Lehre mit dem liberum ius ad bellum (43). Dagegen schließt sich H. letztlich der nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes von W. Huber und H.-R. Reuter (wieder-) gewonnen Einsicht an, dass die Elemente bzw. Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg unverzichtbar seien, auch wenn die Lehre selbst als ambivalent angesehen wird (55 ff.).

Interessant wäre es hier allerdings zu hören, warum H. im Einklang mit großen Teilen der evangelischen Friedensethik die breite mittelalterliche und reformatorische Diskussion über diese Lehre (vgl. z. B. die Darstellung bei J. Plösch) übergeht, obwohl bereits dort ein guter Teil der von ihm dann später bemühten Beurteilungskriterien präsentiert wird. Warum kommentiert er nicht den bereits 1976/77 von R. Gramm in der ZEE aufgenommenen, viel gescholtenen Versuch, mit Hilfe eines "Bedingungsrahmens" auch im Nuklearzeitalter die Kriteriendiskussion nicht in Vergessenheit geraten zu lassen? Und hat es etwa mit der katholischen Provenienz zu tun, dass H. die im Barsbütteler Institut für Theologie und Frieden zusammengetragene Literatur nicht bemüht und so auch nicht auf Ernst Josef Nagel und seine seit Jahren vorgetragenen Kriterienkataloge zurückgreift?

Dennoch bleibt es für die Friedensethik evangelischer Tradition bedeutsam, dass H. sich in seinem Kapitel IV einer kontextualisierenden Reinterpretation der "Lehre vom gerechten Krieg" anschließt und sie durch Rezeption der neueren Ansätze der US-amerikanischen "Just and Limited War-Theorie" weiterentwickelt (63). Vorher geht er noch im III. Kapitel auf Begründungsprobleme normativer Kriterien der legitimen Anwendung militärischer Gewalt (78 ff.) ein und versucht dabei, Gerechtigkeitsvorstellungen im Sinne des Gleichheitsprinzips (90) zu konkretisieren.

Das Ergebnis des interessanten und fruchtbaren IV. Kapitels ist das auf S. 144 vorgeschlagene Tableau "Ethische Kriterien der legitimen Anwendung militärischer Gewalt" als Kriterienraster für jede "Lehre vom gerechten Krieg". Dabei ist nach H. zu fordern, "daß jedes Kriterium für sich eine notwendige Bedingung darstellt und somit nur die gemeinsame Erfüllung aller Kriterien hinreichend für die Legitimität ist" (142).

Bei mancher Problematik in einzelnen Kriterienbereichen, präsentiert Haspel hier zu Recht das klassische Kriterien-Ensemble des ius ad bellum (gerechter Grund, legitime Autorität, äußerstes Mittel, Verhältnismäßigkeit der Güter, richtige Absicht, Ziel des Friedens, vernünftige Aussicht auf Erfolg) und des ius in bello (Verhältnismäßigkeit der Mittel, Diskriminierungsgebot, verbotene Waffen).

Es ist allerdings schade, dass H. bei den zur Konkretisierung der Rubrik "Gerechter Grund" von ihm vorgeschlagenen, gerade für humanitäre Interventionen wichtigen und gutteils auch plausiblen Kriterien nicht ausführlich genug angibt, woher sie kommen und wie sie im Einzelnen zustande kommen. Wenn man so z. B. im Kohärenzprinzip verständlicherweise für die ganze Welt Rechtsgleichheit und Sanktionsgleichheit fordert (105), so müsste das die gegenwärtige Völkergemeinschaft angesichts der vielen Weltkrisen schlicht überfordern und darum letztlich tatenlose Hinnahme von Terror und Genozid bedeuten. Oder wenn im Kontinuitätsprinzip mit einigem Recht gefordert wird, dass nur Staaten an humanitären Interventionen teilnehmen dürften, die "durch ihr früheres Handeln Gewähr dafür bieten, dass sie nicht vorwiegend aus eigenem Interesse agieren und das Völkerrecht achten" (106), so bedeutet das nicht nur von vorneherein einen Ausschluss der USA (siehe S. 167), sondern würde völlig offen lassen, ob es überhaupt einen Staat geben kann, der nicht nur derartig ethisch qualifiziert ist, sondern auch die nötigen militärischen Mittel hat, um dem Unrecht tatsächlich zu wehren.

Solche einzelnen Bestimmungsprobleme ändern jedoch nichts an H.s Einschätzung, dass es "schwerwiegende Verletzungen der Gerechtigkeit, z.B. durch Gewaltanwendung gegen Staaten oder durch schwerste Menschenrechtsverletzungen geben kann, die ihrerseits die Anwendung militärischer Gewalt geboten erscheinen lassen" (143).

Mit Hilfe dieses von ihm entwickelten Kriterienkataloges untersucht H. deshalb nun im V. Kapitel exemplarisch den Krieg, den die NATO aus eigener Vollmacht und - wie H. im Prinzip zu Recht kritisiert (171 f.) - nicht durch den Sicherheitsrat mandatiert gegen die Serben führt. Allerdings berücksichtigt H. als Vorgeschichte nicht das unmittelbar vorangegangene UN-Debakel in Jugoslawien, wo die beteiligten Blauhelme entsetzliche Massaker hinnehmen mussten, ohne eingreifen zu dürfen, womit quälend demonstriert wurde, dass die UN-Konfliktlösungswege nicht funktionierten.

H. kommt am Ende seiner Prüfung zu dem ethischen Urteil, dass in diesem Krieg praktisch ausnahmslos alle Kriterien verletzt worden seien und dass deshalb "nicht nur die von der NATO als Humanitäre Intervention dargestellte Anwendung militärischer Gewalt nicht rechtfertigbar ist, also illegitim war, sondern daß es sich nach Art des Einsatzes militärischer Mittel auch gar nicht um eine Humanitäre Intervention gehandelt hat" (216).

Dieses Ergebnis wirft jedoch schwerwiegende Fragen auf: etwa ob damit nicht nur die USA, sondern genauso alle Verbündeten- also auch die Bundesrepublik Deutschland - letztlich vieler Kriegsverbrechen angeklagt werden müssten. Oder, wenn weder verbrecherisches Handeln noch Desinformation des Bürgers beabsichtigt war, und wenn nunmehr H. bessere Informationen als die damalige Öffentlichkeit und der Bundestag hätte, wie es zu beurteilen wäre, wenn ein ex ante "gerecht" geführter Krieg, sich ex post als nicht mehr "gerecht" herausstellen sollte? Allerdings bleibt unter der Voraussetzung, dass seine Informationen stimmen, die von H. an die NATO ernst gestellte Frage offen, warum militärische Gewalt im Kosovo angewandt wurde, während es international vergleichsweise schlimmere Menschenrechtsverletzungen gab, ohne dass reagiert wurde (166).

Ferner bleibt bei den von H. zu Recht angeführten Verstößen gegen das Diskriminierungsgebot und seiner Forderung, dass bei Übernahme eines höheren Risikos für die NATO diese zivilen Opfer hätten vermieden werden können (213), die Frage, wer so zum Vergießen von eigenem Blut für den Frieden in einem anderem Land bereit wäre und welcher Politiker dazu Soldaten entsenden mag und darf? Oder könnte es am Ende sein, dass die von H. vorgeschlagenen Kriterien zu scharf oder gar wirklichkeitsfremd sind, so dass hier nachgebessert werden müsste, allerdings ohne die grundsätzliche Qualität seiner Vorschläge zu beschädigen?

Wie dem auch sei, es ist von H. insgesamt eine Untersuchung vorgelegt worden, an deren Kriterienkatalog und der von ihm eingeforderten Weiterentwicklung der Kriterien (219) künftig weder die evangelische Friedensethik noch eine verantwortungsvolle nationale und internationale Politik vorübergehen kann, wenn sie sich ernsthaft dem Ziel des Schutzes der Menschenrechte und der internationalen Sicherheit durch die Bindung von Gewalt an Recht und internationale Verteilungsgerechtigkeit (220) stellen will.