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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

870–873

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Jakob, Volker

Titel/Untertitel:

Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schleswig-Holstein in der Weimarer Republik. Sozialer Wandel und politische Kontinuität.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 1993. 505 S. 8 = Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2. Kart. DM 78,80.ISBN 3-89473-123-0.

Rezensent:

Hasko v. Bassi

Seit einer Reihe von Jahren ist ein verstärktes Interesse von Allgemeinhistorikern an kirchen- und theologiegeschichtlichen Themen zu konstatieren. Dies gilt erfreulicherweise auch für den Bereich der Territorialkirchengeschichte. Der Bielefelder Historiker Frank-Michael Kuhlemann hat in diesem Zusammenhang vor einigen Jahren auf die "neuerdings immer deutlicher geforderte ’Regionalisierung’ der sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Kirchen- und Religionsforschung im 19. und 20. Jahrhundert" (JGNKG 93,1995, 85) aufmerksam gemacht.

Mit den Stichworten "sozialer Wandel" und "politische Kontinuität" bezeichnet Volker Jakob (im VLB irrtümlich Jacob) in seiner hier anzuzeigenden sozialgeschichtlichen Studie die innere Spannung, die die evangelisch-lutherische Landeskirche Schleswig-Holsteins in der Weimarer Republik charakterisiert. Die von Karl-Georg Faber angeregte Arbeit wurde 1984 an der Universität Münster als Dissertation angenommen und erschien neun (!) Jahre später 1993 im Druck mit offenbar nur wenigen Änderungen und Aktualisierungen.

Während Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 19. und 20. Jh.s in aller Regel die universitäre Theologie und deren akademische Vertreter in den Blick nehmen, bemüht J. sich - weithin mit Erfolg - darum, theologische Anschauungen, Frömmigkeitsstile und politische Optionen in ihren jeweiligen Wechselwirkungen auf der Ebene der Pastorenschaft und der kirchlichen Gemeinden zu analysieren. Darin liegt zunächst das Hauptverdienst seiner Studie.

Nach einer mit "Intention" überschriebenen Mischung aus Vorwort und Einleitung sowie einer "Prolog 1917/1919" genannten Eröffnung, in der die Phase des Umbruchs einer knappen Betrachtung unterzogen wird, gelangt der Leser zum Hauptteil der Darstellung mit der in diesem Zusammenhang merkwürdigen Überschrift "Kontext", handelt es sich hier doch um den eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Dieser, so schreibt der Vf., "zerfällt (!, H. B.) in drei selbständige und in sich geschlossene Abschnitte, zwischen denen es allerdings eine Vielzahl von Bezugspunkten gibt." (3)

In einem ersten Kapitel also versucht der Vf., die Landeskirche als ganze in ihrer Entwicklung durch die Jahre der Weimarer Republik hindurch vor allem auf der Ebene der Synodalpraxis zu analysieren. Er präsentiert dabei die wesentlichen Debatten, die zwischen Vertretern der von ihm so bezeichneten "drei kirchenpolitischen Kartelle" (rechts, Mitte, links; 42) auf der Landeskirchenversammlung 1921/22, bei der es vorrangig um die Bekenntnis-, die Bischofs- und die Wahlrechtsfrage ging, sowie auf den vier Landessynoden zwischen 1924 und 1930 geführt wurden. Ende der 20er Jahre spitzte sich die Systemkrise der Weimarer Republik zu und mündete schließlich in den Zusammenbruch des demokratischen Staatswesens. In der Landeskirche vollzog sich ein paralleler Prozeß. Mehr und mehr machte die Kieler Kirchenregierung vom Notverordnungsrecht Gebrauch. Die Deutschen Christen wurden ab 1932 zur beherrschenden kirchenpolitischen Strömung, gegen die eine zersplitterte Bekenntnisbewegung, die vielfach freilich ebenso autoritäre Strukturen aufwies, sich kaum bemerkbar machen konnte. Die fünfte Landessynode 1933 schließlich beschloß mehrheitlich, die letzte ihrer Art sein zu wollen, und löste sich selbst auf.

Das zweite Kapitel widmet der Vf. den Kirchengemeinden und ihren Pastoren. Vor allem die Analysen der Herkunft und des beruflichen Werdegangs der Pastorenschaft sind hochinformativ. Die Pastoren stammten zu mehr als drei Viertel aus dem Lande selbst, über ein Viertel kam aus Pfarrhäusern, weitere 20% hatte Lehrer zu Vätern. Ihre Schulbildung erfuhren die meisten an einer der traditionsreichen Gelehrtenschulen des Landes. Erstaunlich ist das hohe Maß an Mobilität, das sich in der Wahl der Studienorte dokumentiert. Zwar absolvierten die allermeisten einen Teil ihres Studiums an der heimatlichen Alma Mater in Kiel, aber kaum einer studierte ausschließlich dort. In der Wahl der weiteren Studienorte zeigen sich theologische Moden, vor allem aber konfessionelle Achsen, und es ist durchaus bezeichnend, daß es kaum einen Schleswig-Holsteiner zu Karl Barth nach Göttingen, Münster oder Bonn zog (123). Über das Preetzer Predigerseminar, ein Lehrvikariat und das Amtsexamen führte der weitere Weg mit durchschnittlich 27 Jahren zur Ordination. Theologisch waren die Pastoren im Grundsatz von einem "milden" lutherischen Bekenntnisglauben geprägt, der allen Extremen abhold ist. Freilich bestimmte zunehmend eine "kulturpessimistische Geschichtsphilosophie" (130) das theologische Denken auch im Norden des Reiches. Damit verband sich ein Wandel der politischen Weltsicht. Nation und Deutschtum erfuhren dabei in steigendem Maße eine religiöse Weihe, die der lutherischen Tradition fremd war. Wirtschaftlich ging es der Pastorenschaft während der Weimarer Jahre leidlich; Anfang der 30er Jahre bewegten sich die Gehälter dann spürbar bergab.

Weniger überzeugend gelingt J.s Versuch, die gemeindliche Frömmigkeit und ihre Entwicklung während der Weimarer Jahre zu beschreiben. Mit den Daten, die er zu Gottesdienstbesuch, Abendmahlsbeteiligung und Kirchenaustritten zusammenträgt, weiß er interpretatorisch nicht recht etwas anzufangen. So stellt er zwar zutreffend fest, daß der Kirchgang in Schleswig-Holstein traditionell, "wenn überhaupt, nur an Fest- und Feiertagen, und dann als Konvention absolviert" (135) wurde, meint dann aber an anderer Stelle, dieses Faktum zum Gradmesser für den Niedergang der Volkskirche machen zu können, um sich dann wieder an anderer Stelle vollkommen zurecht auf Trutz Rendtorffs Feststellung zu beziehen, "daß es sogar durchaus kirchliche Sitte sein kann, nicht zur Kirche zu gehen" (140). (Vor allem die Abendmahlsteilnahme taugt ja schlechterdings nicht als Frömmigkeitsmesser, kann doch der Verzicht auf den Gang zum Tisch des Herrn in bestimmten Fällen gerade Ausdruck besonders tief empfundener religiöser Skrupel sein.)

Sehr viel gehaltvoller ist dann wieder die Beschreibung des politischen Einstellungswandels der Pastorenschaft, den J. auf dem Hintergrund der schleswig-holsteinischen Wahlentwicklung von 1918 bis 1933 skizziert. Mit guten Gründen ordnet J. 80 % der schleswig-holsteinischen Pastoren einer konservativ-nationalen Position zu, wobei er eine enge Korrelation zwischen den jeweiligen theologischen und politischen Optionen postuliert. Im Grundsatz hat er damit recht, wenngleich es zweifellos Ausnahmen gab, also theologisch liberale Pastoren, die antirepublikanisch orientiert waren (J. selbst spricht an anderer Stelle vom politisch "rechten Flügel der liberalen Theologie", 158), und konservativ-konfessionelle Geistliche, die den demokratischen Staat bejahten. Die antirepublikanische Gesinnung der großen, DNVP und DVP wählenden Mehrheit illustriert J. an einer Reihe von Predigten, aber auch an Verlautbarungen des Kieler Konsistoriums, das zwar 1921 beim Tode der Ex-Kaiserin ein Gedenken im Rahmen der Sonntagsgottesdienste anordnete, 1925 aber, als Friedrich Ebert, das verfassungsmäßige Staatsoberhaupt, starb, darauf verzichtete. Für Ende der 20er Jahre konstatiert J. eine partielle Annäherung konservativ-konfessioneller Kreise an den Staat von Weimar, aber schon kurze Zeit später wird das Bild mehr und mehr bestimmt vom aufkommenden Nationalsozialismus, der, wie in Schleswig-Holstein überhaupt, so auch in der Pastorenschaft des Landes schnell eine breite Anhängerschaft fand (s. ThLZ 122, 1997, 1142).

Auf Grundlage einer Analyse der kirchlichen Presse des Landes, namentlich der zahllosen Sonntagsblätter, versucht J. in seinem dritten Kapitel, "protestantische Politik und politischen Protestantismus" in Schleswig-Holstein zu beschreiben. Drei Stereotypen prägen die protestantische Weltsicht: Das Land ist von äußeren Feinden umgeben; es hat darüber hinaus einen Feind in Innern: die Linke; mit der Moral geht es in Weimar bergab: "Schmutz und Schund" prägen Kunst und Kultur. Die Wahlempfehlungen, die die Sonntagsblätter zwischen 1919 und 1933 ausgegeben haben, spiegeln diese Haltung dann auf entsprechende Weise.

Rückfragen im Blick auf den darstellenden Teil der Arbeit sind u. a. folgende. - Die Kriegsbegeisterung im Sommer des Jahres 1914 war eine allgemeine und ergriff alle Volksschichten, ja sie hatte gerade in diesem, ihrem umfassenden Charakter ihre besondere, sich selbst verstärkende Wirkung. Es ist nach den seit vielen Jahren vorliegenden Analysen der deutschen Kriegspredigt vollkommen unstreitig, daß die Theologen- und Pastorenschaft sich hier von breitesten Schichten des deutschen Volkes nicht unterschied. J.s Feststellung: "Wie kaum ein anderer Stand innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft hatte die evangelische Geistlichkeit der 28 deutschen Landeskirchen den Ausbruch des Krieges im August 1914 begrüßt" (6) schießt freilich über das Ziel hinaus. - Mühe hat der Rez. bisweilen mit theologischen Urteilen des Vf.s, etwa wenn J. die theologische und kirchliche "Linke" - so wird die liberale Strömung etikettiert - als Vertreter einer "schriftferne(n) und bekenntnisfreie(n) Kulturreligion" (44) bezeichnet und damit unkritisch die Sichtweise der theologischen Gegner übernimmt. - An einer Stelle spricht J. von Nordschleswigschen Pastoren, "die ihre Ämter aus politischen Gründen hatten verlassen müssen" (117). Solche hat es tatsächlich kaum gegeben. Die allermeisten derjenigen, die nach Süden gingen, taten dies nicht gezwungenermaßen. - Auf S. 11 fehlt Anm. 19.

Ein "Epilog 1932/34" beschließt den darstellenden Teil an den sich eine knapp 160seitige (!) Statistik anschließt mit einer enormen Fülle wichtiger und meist nur schwer erreichbarer Daten und Materialsammlungen zu folgenden sechs Themenfeldern:

1. Die Landeskirche - Territorium, Verfassung und soziale Organisation, 2. Geistliches Amt und geistliche Ämter - ein presbyterologischer Versuch, 3. Kirchlichkeit, Entkirchlichung, Unkirchlichkeit - Verläufe und Wandlungen der kirchlichen Sitte, 4. Wahlen, Wähler und Gewählte - Aspekte landeskirchlicher Wahlverläufe, 5. "Rechts" - "Mitte" - "Links" - Kirchliche Verbände und kirchenpolitische Konstellationen, 6. Kirchenpresse und Politik - Bestand, Verbreitung und politische Tendenz.

Von besonderem Interesse ist zweifellos das statistische Material, das J. zur Pastorenschaft Schleswig-Holsteins vorlegt und erschließt, indem er sämtliche Pfarrstellenbesetzungen dokumentiert und zugleich äußerst detaillierte Informationen zu Herkunft und Werdegang der jeweiligen Inhaber bietet. Erwähnung verdient darüber hinaus auch die Analyse der evangelischen Presse Schleswig-Holsteins, für die J. Verbreitungsgebiete und genaue Auflagenhöhen nennt. Künftige Arbeiten zur neueren schleswig-holsteinischen Kirchengeschichte werden von einer Vielzahl von Informationen dieses statistischen Teils nachhaltig profitieren.

Dem statistischen Material stellt J. auf zwanzig Seiten die entsprechenden Quellennachweise sowie - wichtiger noch - Hinweise auf spezielle Darstellungsprobleme und Ergänzungen voran, was freilich zu einer ungeschickten und für den Benutzer mühseligen Trennung von den jeweiligen Listen und Statistiken führt. Folgende Korrekturen sind im statistischen Teil vorzunehmen: auf S. 233: 1934 statt 1932; auf S. 313: die einfache Addition von Mark- und Reichsmarkbeträgen mit einem in "M/RM" ausgedrückten Ergebnis ist sinnlos; auf S. 333: statt "Caritas" muß es "Diakonie" heißen.

Ein Quellen- und Literaturverzeichnis beschließt das Buch. J. hat eine beeindruckende Fülle von Archivalien, unpublizierten Quellen und gedruckter Literatur zusammengetragen und ausgewertet. Einige wenige Ergänzungen bzw. Bemerkungen sind zu machen. - Von Pastor Martin Beuck, einer der zentralen Gestalten der Bekenntnisbewegung, sind Vorlesungsnachschriften aus den Jahren 1918 bis 1922 überliefert, die im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin als Bestand 600/3 verwahrt werden.

Der knappe Anhang zur Bibliographie mit "einigen Nachbemerkungen zur neueren Literatur" ist nicht wirklich geeignet, die knapp zehnjährige Forschungslücke zu schließen. An Literatur ist nachzutragen: Daniel R. Borg, The Old-Prussian Church and the Weimar Republic. A Study in Political Adjustment 1917-1927, University Press of New England, Hanover and London 1984; Klaus Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre, Göttingen 1989; Hans-Walter Krumwiede, Evangelische Kirche und Theologie in der Weimarer Republik, Neukirchen-Vluyn 1990; Kurt Nowak, Kulturprotestantismus und Judentum in der Weimarer Republik, Göttingen 1993. - Von der grundlegenden Quellensammlung von E. R. und W. Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jh., lagen bei Erscheinen des Buches von J. bereits 4 (nicht 2) Bände vor. - Schließlich stellt sich die Frage, wieso J. meint, daß mit der bislang fünfbändigen "Schleswig-Holsteinischen Kirchengeschichte" (Wachholtz, Neumünster) "die schleswig-holsteinische Kirchengeschichte ... einer grundlegenden Revision unterzogen wird" (4/5). Der Rez. jedenfalls kann dies nicht erkennen.

Alle kritischen Anmerkungen und Ergänzungen stellen den Wert der von J. geleisteten Arbeit keineswegs in Frage, doch präsentiert sich das vorliegende Buch in gewisser Weise als Rohdiamant, dem man den entsprechenden Schliff gewünscht hätte. Warum der Autor nicht gebeten worden ist, für die Buchpublikation eine gründlichere Überarbeitung vorzunehmen (auch ein Namenregister fehlt leider), diese Frage würde man in aller Regel an die Herausgeber einer Buchreihe, in der der fragliche Band erscheint, richten. Allein - die Reihe "Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" verfügt über dergleichen gar nicht.