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Ausgabe: | Juni/2003 |
Spalte: | 633–635 |
Kategorie: | Dogmen- und Theologiegeschichte |
Autor/Hrsg.: | Basse, Michael |
Titel/Untertitel: | Die dogmengeschichtlichen Konzeptionen Adolf von Harnacks und Reinhold Seebergs. |
Verlag: | Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 384 S. gr.8 = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 82. Geb. ¬ 62,00. ISBN 3-525-55190-8. |
Rezensent: | Ekkehard Mühlenberg |
Die Bonner Habilitationsschrift endet mit der These, dass die Dogmengeschichte eine unverzichtbare theologische Aufgabe sei. Begründet wird das nach Andeutungen von Karl Barth mit Anweisungen von Gerhart Sauter. Als seinen Lehrer und Betreuer nennt der Vf. Karl-Heinz zur Mühlen. Titel und Thema ergeben sich für den Vf. zu Recht daraus, dass Harnack und Seeberg die Blütezeit der dogmengeschichtlichen Forschung repräsentieren und jede Weiterentwicklung dieser Disziplin von der Auseinandersetzung mit ihnen ausgehen muss. "Hier wurden Standards einer theologischen Geschichtsforschung wenn auch nicht von ihnen selbst aufgestellt, so doch mit Nachdruck zur Geltung gebracht, die ungeachtet aller Denkvoraussetzungen, die Harnacks und Seebergs Werke unwiderruflich der Vergangenheit zurechnen, doch weiterhin Bestand haben" (340). Wer zweifelt, ob die "Denkvoraussetzungen" der beiden großen Dogmengeschichtler zeitbedingt und mit dem Historismus zusammen verloren sind, findet bei Basse reichhaltiges, fast erschöpfendes Material sowohl der damaligen Zeitgeschichte als auch ihrer neueren Interpreten (bis 1999).
Der Vergleich zwischen Harnack und Seeberg ist universalhistorisch angelegt. In einem ersten Kapitel (20-51) werden nacheinander biographische Daten vorgestellt. Sie führen eindrücklich vor Augen, dass der Vergleich zur Auseinandersetzung herausfordert: Harnack (geb. 1851) und Seeberg (geb. 1859) stammen beide aus dem Baltikum und haben beide in Dorpat studiert. Nach verschiedenen Zwischenstationen kam Harnack 1888 nach Berlin, Seeberg 10 Jahre später, und beider Berufungsverhandlungen waren von (kirchen-) politischen Konflikten belastet, was gerade in der Verschiedenheit ihre Positionen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit hervortreten lässt.
Das zweite Kapitel zeigt in der Überschrift "Dogmengeschichte als Entfaltung des Wahrheitsgrundes christlicher Religion" (52-224) das Ergebnis unzureichend an, weil die Dogmenkritik nicht genannt ist. Zwar ist die kritische Behandlung der Dogmengeschichte bei Harnack das Ziel, aber die Ambivalenz des Kritischen bei Seeberg hätte auch in die Überschrift eingehen können. In fünf Stufen analysiert der Vf. die dogmengeschichtlichen Konzeptionen. An den Anfang stellt er die geschichtstheoretischen Anschauungen mit ihrer zeitgenössischen Verwurzelung; dafür zieht er Quellen außerhalb der beiden dogmengeschichtlichen Lehrbücher heran. Die zweite Stufe ist die Identifizierung der jeweiligen "Aufgabe der Dogmengeschichte", dies wird ausschließlich aus den programmatischen Abschnitten der Dogmengeschichten erhoben. Die dritte Stufe ist dem "Ende der Dogmengeschichte als Zugang zu deren Konzeption" gewidmet, worin das Ziel Harnacks, das Christentum vom altkirchlichen Dogma zu befreien, und das Ziel Seebergs, "das Dogma als inhaltliche Zusammenfassung der biblischen Verkündigung zu verstehen" (195), um den Lehrbegriff der lutherischen Kirche zu retten, als Ergebnis festgehalten wird. Die vierte Stufe will das Ergebnis an den Stellungnahmen im Apostolikumsstreit erhärten. Die fünfte Stufe beschließt den Vergleich mit der Gegenüberstellung von Harnacks "Wesen des Christentums" (1900) mit Seebergs "Grundwahrheiten der christlichen Religion" (1902). In dem ganzen Zentralkapitel wird deutlich, dass der Vf. bei seinem geschichtstheoretischen Einstieg mehr auf Seeberg als auf Harnack zurückgreifen kann.
Im dritten Kapitel "Theologische Geschichtsforschung im Kontext und im Dienste lebendiger Geschichte" (225-294) wird das (sozial-) politische Engagement in seiner unterschiedlichen Parallelität verglichen. Die Absicht des Vf.s ist wohl, die gesellschaftliche und kirchliche Relevanz der dogmengeschichtlichen Forschung aufzuzeigen.
Im letzten Kapitel (295-342) werden nach einem Überblick über die zeitgenössische Kritik an Harnacks und Seebergs Dogmengeschichten und nach einem kritischen Bericht über die Aufsätze zur Möglichkeit einer Dogmengeschichte nach dem Kirchenkampf fünf Punkte für die heutige Dogmengeschichtsschreibung postuliert. Über das Fünfpunkterezept (320 f. mit Begründung 321-342) mag diskutieren, wer will. Ich beschränke mich auf drei Beobachtungen zu Darstellung und Beurteilung der dogmengeschichtlichen Konzeptionen des Vf.s.
Erstens zeigt der Vf. eine Präferenz für Seebergs Konzeption. Beiden Dogmengeschichten wird zugestanden, dass sie die "Grundsätze exakter Quellenforschung" eingehalten haben, dass sie vorbildlich ihr Material dargestellt haben und dass sie beide mit ihrer dogmengeschichtlichen Forschung "einen wichtigen Beitrag zur Standortbestimmung der Kirche und der Gesellschaft ihrer Zeit leisteten" (340 f.). Ebenfalls wird beiden zugebilligt, "der genetischen Orientierung der Dogmengeschichte endgültig zum Durchbruch verholfen" zu haben (341). Während Harnack nirgends gegen Seeberg Recht hat, werden Seeberg Vorzüge attestiert. Seebergs Konzept des Dogmas als Lehrbegriff sei im Ansatz "historisch und theologisch tragfähiger, während Harnacks Dogmenverständnis weder Luther noch dem Dogma gerecht wird" (196; vgl. 195, 325 Anm. 91 u. 330). Weiterhin: "Dass die Frömmigkeitsgeschichte nicht aus der dogmengeschichtlichen Perspektive ausgeblendet werden kann, hat insbesondere Seeberg deutlich gemacht" (337); aber doch wohl mit volkspsychologischer Tünche erkauft! Und in Bezug auf die Fortschreibung der Dogmengeschichte im Protestantismus: "Hier zeigen sich die Grenzen der dogmengeschichtlichen Konzeptionen Harnacks und Seebergs, wenngleich letzterer durchaus Ansätze in diese Richtung aufwies" (339); aber die endeten bei Reibi Müller! Schließlich betreffs der theologischen Kriterien der Wahrheitsfindung, die "pneumatologisch zu begründen ist", damit "die Autorität der Dogmen wie auch die Kontinuität ihrer Geschichte ergründet" werden kann: "Diese Perspektive ist bei Seeberg durchaus angelegt, allerdings wird von seinem ideengeschichtlichen Ansatz und seinem idealistischen Geistverständnis her dann doch wieder ein geschichtstheologisches Konzept von Totalität anvisiert, dem ein in historischer Hinsicht begrenzteres und damit zugleich theologisch offeneres Reden vom Wirken des Geistes in der Geschichte gegenübergestellt werden müßte, damit der dialogische Prozeß der Wahrheitsfindung nachgezeichnet werden kann" (329). In diesen Zusammenhang gehört die Kritik an Seebergs konfessionalistischem Kirchenbegriff, dem die Kritik an Harnacks undogmatischem Christentum die Waage hält.
Solche Präferenzen für Seeberg gegenüber Harnack sind nur möglich, wenn allein auf die programmatischen Partien beider Dogmengeschichten geblickt und von jeglichem Verweis auf die darstellende Stoffbehandlung abgesehen wird. Alle genannten Präferenzen erweisen sich im Vergleich mit Harnack obsolet, sobald die Erschließungskraft für das Quellenmaterial betrachtet wird. Historisch hat Seeberg der sicher provozierenden Anstößigkeit und Problematik Harnacks nichts entgegenzusetzen (vgl. z. B. Seeberg, DG I 210 Anm. 1 oder II 14-16, 82-84, 185 Anm. 1 und 201 Anm. 1). Deswegen ist zu fragen, ob Seebergs dogmengeschichtliche Konzeption angesichts der Darstellung der Alten Kirche mehr ist als eine dogmatische Konstruktion, die sich an den Quellen nicht bewährt. Andererseits besticht Seebergs Artikel "Scholastik" in RE3 Bd. 17 (1906).
Zweitens ist für Harnacks Konzeption und ihre Ausführung gewiss seine Entgegensetzung von Glaube und Erkenntnis grundlegend; Erkenntnis als ein System des Wahrheitsbeweises auszuführen, ist für Harnack das Hellenische in seiner These von der Hellenisierung des Evangeliums. Auf den Wahrheitsbeweis kommt es an, der an die Stelle von Glaube gesetzt wurde. In dieser Formulierung ist Harnacks Dogmendefinition m. E. theologisch relevant, während die Gegenüberstellung zu "Gesinnung" und "Erlebnis", wie es Basse tut, dem 19. Jh. angehört. Warum verbleibt B. im Sprachgewand des partiellen Referierens (vgl. 133-139) und vergisst, "Glaube" ins Register aufzunehmen? Außerdem fehlt ein Verweis auf Wilhelm Herrmann, der für Harnack (und Ritschl) mit der Hellenisierung die physische Erlösungslehre verband.
Drittens sieht der Vf., dass er sein Plädoyer für eine neue Dogmengeschichte begründen muss: Warum ist die Geschichte von Dogmen notwendig? Dafür aber begnügt er sich mit dem Verweis auf die "gegenwartsgenetische Konzeption" (332) und mit zwei Zitatverweisen auf einen Aufsatz von A. Beutel (320.334).
Das Buch beschließen nach einem Literaturverzeichnis ein vollständiges Namenregister und ein umfangreiches Sachregister.