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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

630–632

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Mühling, Andreas

Titel/Untertitel:

Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik.

Verlag:

Bern-Berlin-Bruxelles-Frankfurt am Main-New York-Oxford-Wien: Lang 2001. 371 S. 8 = Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte, 19. Kart. ¬ 67,20. ISBN 3-906765-89-X.

Rezensent:

Ernst Koch

Die Bonner Habilitationsschrift widmet sich einem Thema, das von hohem Interesse für die europäische Dimension der Wirkungen der Zürcher Reformation ist und dessen Durchführung mit Spannung zu erwarten ist. Lässt doch bereits die länger als ein halbes Jh. währende Tätigkeit Bullingers (im Folgenden: B.) in Zürich und der Umfang seines literarischen Werkes neben dem seines Briefwechsels auf eine enorme Breitenwirkung dieses Theologen schließen.

Die Einleitung, die neben der Skizzierung der Forschungssituation Rechenschaft über Ansatz und Methodik der Untersuchung gibt, macht auf die Bedeutung von Widmungsvorreden für B.s Kirchenpolitik aufmerksam und terminiert den Einsatz des zu untersuchenden Feldes mit dem Consensus Tigurinus von 1549, ohne die Zeit davor im Einzelfall gänzlich auszuklammern. Aus wohl begründeten Überlegungen, die in der Überlieferung des Briefwechsels B.s liegen, klammert der Vf. Frankfurt am Main, die Niederlande und die habsburgischen Länder einschließlich Böhmens und Ungarns aus der Darstellung aus (die Ausnahme, Johann Sebastian Pfauser als Hofprediger Maximilians II., findet lediglich in einer Fußnote auf S. 25 Erwähnung).

Ein eigenes Kapitel ist den Grundlagen von B.s Kirchenpolitik gewidmet, die M. in ihren politischen Vorbedingungen und- möglicherweise für die Bullinger-Forschung überraschend - in der Naherwartung des Weltendes durch die Zürcher Reformatoren sieht. Der Fortgang der Untersuchung legt allerdings die Frage nahe, ob zu den Grundlagen von B.s Kirchenpolitik nicht auch eine in ihrer Verhältnisbestimmung von inklusiv und exklusiv spezifische Ekklesiologie gehört, die nicht einfach als Funktion von Christologie zu verrechnen ist.

Zur Sprache kommen in der Untersuchung das Herzogtum Württemberg einschließlich seiner Nebengebiete und der Herrschaft Rappoltstein, die Landgrafschaft Hessen, die Kurpfalz, die Wetterauer Grafschaften, die Freie Reichsstadt Köln, England, Frankreich und Polen-Litauen. M. beobachtet sowohl zeitliche Schwerpunkte von B.s Kontakten mit europäischen Territorien wie auch seinen Umgang mit länderspezifischen Themen. Zu diesen gehörte beispielsweise im Fall Hessen die Confessio Augustana. Als der "wichtigste Brückenkopf der Reformierten im Reich, den zu halten Bullingers höchstes Ziel war", bis hin zum Entwurf einer Verteidigungsrede vor dem Reichstag an den Kaiser, erscheint die Kurpfalz (112). Erst der Ausbruch des Konflikts um die Kirchenzucht zeigte B. in einer "für ihn ungewohnte[n] Hilflosigkeit" (116). Der Streit "besaß europäische Dimension", sofern er sich auf Frankreich und England auswirkte (277). Aus der Darstellung M.s ergibt sich der Schluss, dass der Streit um die Kirchenzucht den Zusammenbruch des Einflusses Zürichs auf Europa einläutete, der mit B.s Tod 1575 eintrat, wie sich auch an den Wetterauer Grafschaften ablesen lässt.

Für England kann M. auf zahlreiche Dokumente aufmerksam machen, die in der bisherigen Forschung unberücksichtigt blieben. Sie betreffen vor allem den Streit über die liturgische Kleidung unter Edward VI. 1550/51. Eine Korrektur des bisherigen Bildes ergibt sich für die Untersuchung im Blick auf Graf Ludwig von Sayn-Wittgenstein (133-143).

In Polen vollzog sich im Vergleich mit der Kurpfalz zunächst ein umgekehrter Prozess. Genf überließ von 1563 an Zürich die polnische Kirchenpolitik (256). Als langfristig verhängnisvoll wirkte sich für B. jedoch eine zunächst auffallende Blindheit für den Einfluss italienischer Exilprotestanten in Polen aus. Unter den von M. erhobenen Ergebnissen der Untersuchung seien folgende resümiert:

B. erreicht nach der innenpolitischen Konsolidierung Zürichs sein Hauptziel: Bestand und Ausbau reformierter Kirchen auf europäischer Ebene. Die kirchenpolitische Initiative ging nicht, wie bisher immer wieder behauptet, zu Beginn der fünfziger Jahre des 16. Jh.s von Zürich auf Genf über, jedoch rückte für B. das Reich nach 1566 in den Hintergrund. Seit der Durchsetzung des Genfer Modells des Verhältnisses von Kirche und Obrigkeit in der Pfalz kam es zu einer Art "Arbeitsteilung" zwischen Zürich und Genf in der "Zuständigkeit" für Polen bzw. Frankreich, bis die von B. konzipierte Kirchenpolitik außerhalb der Schweiz mit seinem Tod zusammenbrach.

Aus der Lektüre der Untersuchung ergibt sich zusätzlich ein weiteres Ergebnis theologischen Inhalts. B.s Stellung innerhalb der Vestment Controversy 1550/51 wie auch seine Intervention in Polen (vgl. das Zitat S. 249 aus dem Brief an Fürst Radziwill) legt den Schluss nahe, dass ihm im Konfliktfall das Prinzip der obrigkeitlichen Leitung der Kirche wichtiger war als die Durchsetzung einer nach Gottes Wort reformierten Liturgie. Auf diesem Hintergrund erhebt sich jedoch auch die kritische Rückfrage, wie die Realisierung des von M. in der historischen Rückschau notierten "Vorschlags" des Aufbaus eines Kreises von "jungen, engagierten Theologen und Kirchenpolitikern" durch B. zur Sicherung der Fortsetzung der Zürcher Kirchenpolitik (vgl. 143 und 276) unter den innenpolitischen Bedingungen Zürichs hätte aussehen können. Diese kritische Rückfrage wird zusätzlich durch M.s Beobachtung einer realpolitisch problematischen auswärtigen Aktivität B.s gestützt (63).

Es wäre von großem Interesse gewesen, wenn M. den etwas unvermittelt auftauchenden Gesichtspunkt der "politischen Konsequenzen seiner [sc. B.s] Christologie" (218) etwas breiter entfaltet hätte.

Fragwürdig, im Rahmen einer Rezension freilich nicht diskutierbar, bleibt es, B.s theologische Reflexionen "von einer Gemeinsamkeit aller auf dem Boden der altkirchlichen Bekenntnisse stehenden christlichen Kirchen" und einer daraus resultierenden Ethik nicht nur als Vorwegnehme zentraler Überlegungen der ökumenischen Bewegung des 20. Jh.s zu deuten, sondern auch "Bullingers Vision eines friedlichen Miteinanders der Konfessionen unter einer gemeinsamen Obrigkeit" (!) als Auftrag und Ziel für die Gegenwart zu empfehlen (278). B. selbst genügte für seine kirchenpolitischen Aktivitäten oft genug eben nicht die Zustimmung zu den altkirchlichen Bekenntnissen (vgl. z. B. 239), und er ist nicht hinreichend verstanden, wenn dies als unflexible Handhabung seiner eigenen Vorgaben bzw. lediglich als politische Unklugheit gedeutet wird (so 275 mit Anm. 5). Die Interpretation des Textes S. 194 zu Anm. 24 scheint überdehnt. Hier geht es nicht um Bindung an Christus, sondern um die Verpflichtung durch diese Bindung. Die auch von M. übernommene Behauptung von der ökumenischen Gesinnung des Zürcher Reformators bedarf also dringend einer an den Quellen durchgeführten Überprüfung. Damit wäre jedoch auch eine nochmalige Durchsicht der in sich äußerst hilfreichen Darstellung und Systematisierung der Modellvarianten des kirchenpolitischen Handelns B.s zu wünschen, die die Arbeit vorgelegt hat (217-274).

Von großem Wert sind 38 - mit einer Ausnahme - ungedruckte Briefe aus dem Bullinger-Briefwechsel, die dem Band als Anlage beigegeben sind.

Leider weisen sie zwei Mängel auf. Da die Editionskriterien für die Texte nicht genau umschrieben sind, bleiben Zweifel bestehen, ob die Briefe vollständig abgedruckt sind. In zwei Fällen (292 und 309) ist eine Auslassung markiert. Außerdem enthalten sie Druckfehler, die bei schweizerdeutschen und lateinischen Texten verunsichern. Beispiele: S. 287, Z. 21 letztes Wort: wirklich "bißbar"? Oder vielmehr "bißhar"? S. 291, Z. 15 v. u.: wirklich "Albertus"? S. 297, Z. 2: "ellendencklich"? S. 304, Anlage 13, Z. 2 ist unverständlich, Z. 3: wohl "verbo" statt "verbio", Z. 8: "nullum" statt "nullu", Z. 9: "quisvisse"? Z. 14: "trisvisse"? S. 306, Z. 3: wirklich "anna"? Oder "anno"? S. 307, letzte Zeile: wohl "inclyto" statt "incylto". S. 313, Anlage 23: wirklich "kurtzt"? Auch in Anlage 25 (316) und 37 (337) häufen sich offensichtliche Druckfehler, die den Text teilweise unverständlich machen.

Auch im übrigen Text - und auch dort in Zitaten, vgl. S. 168, 180, 220 Anm. 126, 243 und 265 zu Anm. 160 (wirklich "Antitrinitarum"?) - ist die Zahl der Druckfehler bedauerlich groß. So erscheint Petrus Gonesius konsequent bis in das Register hinein als "Gonensius", Victorin Strigel als "Striegel". Weitere ausgewählte Beispiele: George Withers wird als "Nonkonfirmist" bezeichnet (117). S. 266 letzte Zeile muss es heißen "Saxonica".

Vor allem für nichtdeutschsprachige Leser des Buches dürfte die häufige Übernahme der der Redesprache entstammenden epexegetischen Nebensätze ohne Prädikat als Hauptsätze in die Schriftsprache verunsichernd wirken. Sie lassen oft die genaue Beziehung ihres Sinnes nur bei mehrfachem Lesen erkennen.

Das Buch bringt eine wichtige Untersuchung zu einem wichtigen Thema. In mancher Beziehung eröffnet es erst das Gespräch. Auch das ist eine nachdrückliche Empfehlung.