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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

628–630

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kunkler, Stephan

Titel/Untertitel:

Zwischen Humanismus und Reformation. Der Humanist Joachim Camerarius (1500-1574) im Wechselspiel von pädagogischem Pathos und theologischem Ethos.

Verlag:

Hildesheim-Zürich-New York: Olms 2000. X, 259 S. 8 = Theologische Texte und Studien, 8. Lw. ¬ 29,80. ISBN 3-487-11291-4.

Rezensent:

Torsten Woitkowitz

Wer - außer wenigen Fachleuten - kennt heute noch Joachim Camerarius, obwohl er zweifellos den bedeutenden Persönlichkeiten des Humanismus und der Reformationszeit zuzurechnen ist? Aus einer angesehenen Bamberger Patrizierfamilie stammend, gehörte er nach Erasmus von Rotterdam zu den führenden deutschen Philologen jener Zeit. Er galt als bester Kenner des Griechischen. Über 180 überlieferte Werke, darunter zahlreiche Editionen antiker Autoren, zeigen das Bild eines Universalgelehrten. Nach dem Studium in Leipzig, Erfurt und Wittenberg - hier hatte er auch seine erste Professur inne - wirkte er als Lehrer am Egidiengymnasium in Nürnberg (1526-1535), als Professor in Tübingen (1535-1541) und ab 1541 als Professor für Griechisch und Latein an der Leipziger Universität, wo er maßgeblichen Anteil an der Universitätsreform hatte. Einige tausend erhaltene Briefe seiner Korrespondenz bezeugen die weitreichende Ausstrahlung seiner Persönlichkeit, für die die fast 40 Jahre währende Freundschaft mit Melanchthon prägend war.

Nach der 1978 erfolgten, letzten größeren Publikation zu Camerarius im deutschsprachigen Raum, einer durch Frank Baron herausgegebenen Aufsatzsammlung, hat sich nun Stephan Kunkler mit dem vorliegenden Buch, seiner überarbeiteten, 1998 an der Theologischen Fakultät der Frankfurter Universität angenommenen Dissertation, das Ziel gestellt, Camerarius der unverdienten Vergessenheit zu entreißen. "In mühevoller Grundlagenarbeit" herausgefiltertes Faktenmaterial "aus einer geradezu erdrückenden Stoffülle an Briefen und Publikationen" soll "zu einem sinnvollen Ganzen" zusammengefügt werden, "das der Persönlichkeit des Joachim Camerarius in seinen vielfältigen Facetten gerecht wird" und eine "erste Ausgangsposition für die Erforschung" dieses "Wissenschaftlers" gibt (2.7). Die Umsetzung letzteren Anliegens gelingt K. auf 240 Seiten, da er sich mit Blick auf die zu Gebote stehende Materialfülle auf einen Ausschnitt aus Leben und Werk des Gelehrten beschränkt und anhand dessen den "Haupttenor" der Gesamtpersönlichkeit herausarbeitet. Diesen definiert K. treffend wie folgt (7): "Das Streben nach einer Reform von Bildung und Unterricht auf der Grundlage der protestantischen Theologie unter Rückbeziehung auf die klassischen Texte, zur sittlichen und moralischen Festigung des Menschen, zum Nutzen des Staates und zum Heil der Seele."

Eingedenk des Desiderats einer umfassenden Camerarius-Biographie (1-3), zeichnet K. im ersten Teil seines Buches, dem "Biographischen Teil", das Leben des Gelehrten - nicht zuletzt im Spannungsbereich zwischen Erasmus und Luther - in fünf Kapiteln ausführlich bis 1535 nach (9-136). Zum Teil als Anhang ist der Wiederabdruck dreier längerer Textzeugnisse von Camerarius, eines Hirtengedichts, eines Briefes und eines Ausschnittes aus einem Prosadialog, beigegeben (88-90.237- 239.240). Im zweiten Teil, dem "Systematischen Teil" (137- 236), wird wegen des bisherigen Fehlens einer angemessenen Würdigung des wissenschaftlichen Werkes von Camerarius (4) dieser Gelehrte zumindest auf drei wichtigen Gebieten, und zwar als Pädagoge, Historiker und Theologe, jeweils mit einem eigenen Kapitel, vorgestellt.

K. gibt einen Überblick über bisherige Forschungsliteratur zu Camerarius und baut auf grundlegenden Arbeiten der älteren Literatur auf. Er setzt sich mit diesen auseinander, entnimmt die wichtigsten Fakten, verbindet sie mit seinen eigenen umfangreichen Studien gedruckter wie ungedruckter Quellen, strafft, systematisiert und wertet. Hierbei sind K. leider einige inhaltliche und chronologische Versehen unterlaufen (z. B. 59.107).

Unbehagen bereitet das Buch aus konzeptionellen Gründen. So stehen trotz mancher über die Anmerkungen hergestellter Querverweise beide Hauptteile ziemlich unverbunden nebeneinander, und der zweite Teil behandelt Werke, die Camerarius zum größten Teil erst nach 1535 geschrieben hat. Jenes Jahr wird zwar mit Recht als "sinnvolle Zäsur" bezeichnet, weil zu diesem Zeitpunkt die wissenschaftlichen Konzeptionen des Gelehrten "in den Grundzügen voll entwickelt waren" und seine Arbeit von nun an in der Hauptsache von seiner Tätigkeit als Professor bestimmt wurde (5), da aber gerade die Zeit bis dahin am besten erforscht ist, hätte man in einer Dissertation zumindest die Erschließung von biographischem Neuland oder wenigstens noch einen summarischen Überblick über die Tübinger und die Leipziger Zeit erwartet. Gerade in Letzterer ist auffälligerweise das Gros der theologischen Werke entstanden. Vgl. hierzu auch Wendorf, S. 74 f. und 84, den K. etwas unterschätzt (3).

K. skizziert plastische Bilder von Camerarius als Pädagoge, als Historiker, hier auch speziell als Biograph und Briefeditor, sowie als theologischer Schriftsteller, wobei K. u. a. auf eine gewisse Nähe zur majoristischen Lehre hinweist (227 f.). Ebenfalls werden die Wechselbeziehungen dieser drei Arbeitsfelder aufgezeigt. Doch ist - der Rahmen dieses Buches setzt hier gewiß eine Grenze - keine vollständige chronologische Auflistung und Vorstellung aller Werke des Gelehrten zu diesen drei Bereichen zu finden.

Neue Wege betritt K. mit der Entwicklung eines zum Teil bereits auf Comenius weisenden (162.232) pädagogischen Systems bei Camerarius (143 ff.). K. stützt seine Darlegungen auf zahlreiche Zitate aus dessen pädagogischem Schrifttum, die allerdings etwas von ihrer Überzeugungskraft einbüßen, da K. selten auf die Textzusammenhänge eingeht, denen er die Zitate entlehnt hat. Die Sprachen, Griechisch und Latein, sind für das System von zentraler Bedeutung.

Schade, dass K. nicht auf die Arbeiten von Aloys Bömer, wie etwa "Anstand und Etikette nach den Theorien der Humanisten" (Neue Jahrbücher für Pädagogik 7/1904) und das 1987 von Theodor Brüggemann in Zusammenarbeit mit Otto Brunken herausgegebene "Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur: vom Beginn des Buchdrucks bis 1570" hinweist, wo ein guter Überblick über wichtige pädagogische Werke des Gelehrten geboten wird. Denn hier sind K.s Zitationsweisen und bibliographischen Angaben zum Teil etwas unübersichtlich. So fehlt bei der Zitation der "Praecepta morum" ein Hinweis auf die Tübinger Erstausgabe (1536) und auf Titelvarianten bei dem in diesem Buch enthaltenen Schriften (u. a. "Praecepta honestatis" von 1528) sowie bei folgenden Auflagen.

Zusammenfassend sei gesagt, dass K.s Buch überaus informativ ist. Es ist das Resultat intensiver Quellenarbeit und wurde mit innerer Anteilnahme verfaßt, wie auch die Beigabe der von Christine Kunkler angefertigten Camerarius-Porträtzeichnung bezeugt. Es sei jedem, der einen Einstieg zu Camerarius sucht, wie auch jenen, die über das Theologiestudium oder die Pädagogik und Bildung unserer Tage nachdenken, ans Herz gelegt.