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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

625–628

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Czaika, Otfried

Titel/Untertitel:

David Chytræus und die Universität Rostock in ihren Beziehungen zum schwedischen Reich.

Verlag:

Helsinki: Luther-Agricola-Gesellschaft 2002. 538 S. m. 9Abb. 8 = Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft, 51. Kart. ISBN 951-9047-60-3.

Rezensent:

Gert Haendler

Die in Helsinki verteidigte Doktorarbeit untersucht Zusammenhänge zwischen der nach 1550 am stärksten von Skandinaviern besuchten Universität Rostock und der "Konfessionalisierung im schwedischen Reich" (34). Im Rahmen der Hanse erlebte Rostock im 14./15. Jh. einen "kometenhaften Aufstieg" und wurde auch "zur wichtigsten Ausbildungsstätte theologischen Nachwuchses für Skandinavien im vorreformatorischen Jahrhundert" (35). Kap. 2 "Das schwedische Reich im 16. Jahrhundert zwischen Reformation und Konfessionalisierung" betrifft Gustav Vasa und die konfessionell begründeten Spannungen zwischen seinen Söhnen. Dabei verweist C. schon auf den König Gustav II. Adolf: Ohne ein lutherisches Territorialkirchentum wäre "das schwedische Eingreifen in den 30-jährigen Krieg auf Seiten der deutschen Protestanten und die umfangreiche (Selbst)Stilisierung Gustav II. Adolfs als Schirmherr des deutschen Protestantismus nicht denkbar" (69).

Kap. 3 untersucht "Skandinavische Studienreisen vor 1648 unter besonderer Berücksichtigung der Universität Rostock in der zweiten Häfte des 16. Jahrhunderts" (70-102). Für die Jahre 1550 bis 1600 kommt C. auf einen Anteil der Skandinavier an der Universität Rostock von ca. 14 % (86). Kap. 4 schildert Studienbedingungen in Rostock. Regentien für nordeuropäische Studenten in Rostock sind bereits im 15. Jh. bezeugt (103-126). Für das Jahr 1564 geben gekaperte Briefe ein Bild über die schwedischen Studenten in Rostock (126-153 sowie 438-441). Für einige schwedische Studenten gibt es Stammbücher. Offensichtlich bestand eine enge schwedisch-finnische Kommunität in Norddeutschland, "deren Mittelpunkt das akademische Leben bildete" (154).

Kap. 5 "David Chytraeus' Kontakte zum schwedischen Reich" (178-308) beruht vor allem auf Briefen. Nur 77 sind in der 1614 gedruckten Ausgabe seiner Briefe überliefert. 49 weitere Briefe in schwedischen Archiven hat C. entdeckt, dazu einen in Schwerin. Im Anhang wird der Briefwechsel aufgelistet (441-449). Chytraeus stand im brieflichen Kontakt mit allen drei Schwedenkönigen nach Gustav Vasa: Erik XIV., Johan III. und Sigismund III. Chytraeus argumentierte nach zwei Seiten hin. Unter König Erik XIV. kamen Calvinisten an den Hof. Erik beurteilte manche Zeremonien aus dem Mittelalter skeptisch. Chytraeus erinnerte an das Testament Gustav Vasas, der seine Nachfolger auf die reine Lehre (rena lära) des Luthertums festlegen wollte (203). Dabei vermied er "Kritik an dem schwedischen König und seiner Kirchenpolitik" (205).

Schwieriger war für Chytraeus die Haltung zu König Johan III., der mit einer katholischen Polin verheiratet war. Ihm warf man "katholisierende Neigungen" vor. Durch die "Nova Ordinantia" wurde 1575 die Kirchenordnung durch "einige Gebete und Zeremonien" ergänzt (224). "Durch die Wiederbelebung von Marien- und Heiligentagen durch Johan wurde zudem die Zahl der Gottesdienste erhöht. An Johans Hof und in allen Kirchen Stockholms wurde täglich die Messe gelesen" (227).

Man hat diese Wiederbelebung alter Traditionen im Sinne eines humanistischen Konzepts erklärt, aber die Zeitgenossen haben es anders empfunden, da Johans Ziele in einem größeren politischen Zusammenhang standen: Sein Sohn Sigismund wurde katholisch erzogen, um Anspruch auf den Thron Polens zu erheben. Aber C. will möglichst klar "zwischen der innerschwedischen Lage und den Implikationen von Johans Kirchenpolitik im europäischen Kontext differenzieren" (228). 1574 nahm Chytraeus erstmals Kontakt zu Johan III. auf. 1576 erschien seine "Geschichte der Augsburger Confession". In Lund fand C. eine Erstausgabe mit Widmung an König Johan III. (234). Johan wollte im Sinne der CA handeln und verstand die Widmung "eher als Affirmation seiner Politik denn als Kritik" (238). Chytraeus vertrat seine alte Argumentation: König Johan solle sich an das Testament seines Vaters Gustav Vasa halten, das die reine Lehre forderte. Jedoch unterließ er jede schärfere Polemik (240). Heftiger verlief sein Streit mit dem Jesuiten Antonio Possevino. Chytraeus schrieb 1584 eine "Responsio ad Antonii Possevini et Mylonii cuiusdam criminationes". Für König Johan zeigte Chytraeus Verständnis: "Soweit dessen Programm einer Kirchenreform nicht diametral lutherischer Lehrnorm entgegenstand wie beim Abendmahl, konnte Chytraeus dies billigen" (255).

Schwedische Kritiker an Johans Liturgie verlangten eine klarere Unterstützung aus Deutschland. Oppositionelle Schweden waren 1583 auch in Rostock bei Chytraeus. Aber im Gegensatz zu Wittenberg, Helmstedt, Frankfurt/Oder und Leipzig hat sich die Universität Rostock als einzige der damals angefragten Lehranstalten nicht zu Johans Liturgie geäußert. Dafür sprachen "handfeste ökonomische Gründe": Chytraeus erhielt Mittel aus Schweden für seine Arbeit an der schwedischen Geschichte. Eine Übernahme der Kritik anderer Universitäten hätte die Finanzierung seiner Forschung gefährdet. Für C. ist Chytraeus ein "Taktiker mit Augenmaß" (269). Abschnitt 5.5 "David Chytraeus als Historiograf schwedischer Geschichte" nutzt den Briefwechsel mit Schwedens Kanzler Erik Sparre, einem "bereitwilligen Helfer bei der Suche nach Quellenmaterial aus Schweden" (277). Chytraeus erhielt "Berichte und Quellen über die politische Lage im schwedischen Reich, die er wiederum in seine Werke aufnahm" (299). Mitunter hat er Wünsche schwedischer Adliger in seiner Darstellung berücksichtigt. Damit ist Chytraeus für C. wieder der "Pragmatiker, für den die Machbarkeit im Vordergrund stand" (303).

Ein Ergebnis der finanziellen Hilfe des Schwedenkönigs war "das Herrscherlob auf Gustav Vasa. Die Darstellung Gustav Vasas als perfekter lutherischer Herrscher war von Johan persönlich redigiert und gutgeheißen worden. Damit hatte er sozusagen nachträglich Chytraeus' Sichtweise autorisiert, wie dieser sie in den Briefen und Widmungsvorreden an Johan vorgebracht hatte" (304 f.). Diese Taktik des Chytraeus hatte Erfolg: "Mit seiner Kritik war er bei Johan auf taube Ohren gestoßen. Durch seine historiografische Tätigkeit hatte er sein Ziel erreicht" (305). Dieser Erfolg wirkte lange nach: David Chytraeus hat sich "bei skandinavischen Historikern bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein den Rang eines protestantischen Papstes erworben" (308).

Kap. 6 "David Chytraeus' Wirken in seinen Schülern" beginnt mit der "Uppsala möte" 1593. Nach vierzig Jahren wurden "die Früchte einer engen theologischen und persönlichen Zusammenarbeit von David Chytraeus mit seinen Korrespondenzpartnern im schwedischen Reich geerntet" (309). Seit 1587 setzte sich in Schweden die Auffassung durch, dass die Confessio Augustana die gemeinsame Grundlage sei. Die Synode in Uppsala trat kurz nach Johans III. Tod 1593 zusammen und beendete dessen Kirchenpolitik. "Die in Rostock ausgebildeten kirchlichen und politischen Eliten schafften auf dieser Kirchenversammlung die katholisierende Liturgie ab, maßregelten die Anhänger von Johans Kirchenprogramm und formulierten ein Bekenntnis, das neben den drei altkirchlichen Symbolen und Laurentius Petris Kirchenordnung von 1571 auch die Confessio Augustana als symbolische Schrift aufnahm" (323 f.). Das hatte vor allem David Chytraeus bewirkt. Seine Geschichte der Augsburger Confession ist "eines der Bücher, die in Schweden und Finnland weiteste Verbreitung gefunden hatten" (344). Das Ansehen des Chytraeus stand um 1600 auf dem Höhepunkt: "Die Anknüpfung an Luther und Melanchthon wurde um einen dritten Namen erweitert: David Chytraeus" (346).

Dokumente für den Rostocker Einfluss nach Schweden bietet Abschnitt 6.2 "Schwedische Erzbischöfe 1574-1646". Nach dem Tode des ersten evangelischen Erzbischofs Laurentius Petri 1573 wurde das höchste Amt der Kirche Schwedens "für ein knappes dreiviertel Jahrhundert von Theologen verwaltet, die ihre Ausbildung in Rostock erhalten hatten: Von 1574 bis 1646 waren alle sieben Erzbischöfe Schüler von David Chytraeus" (347). Das gilt auch für jene beiden Erzbischöfe, die König Johan III. ernannt hat, zwei "Vertreter eines melanchthonianisch-humanistischen Gelehrsamkeitstypus", die in den fünziger Jahren u. a. in Rostock studiert hatten. Ihre Zustimmung zu Johans Liturgie ist von Melanchthons Leipziger Interim her zu verstehen: "Im Kern war das Kirchen- und Theologieverständnis evangelisch, katholisierende Riten und Zeremonien wurden jedoch in Gestalt von Johans Liturgie positiv rezipiert" (351). C. spricht von einer "Gratwanderung zwischen Annahme der Liturgie und gleichzeitiger Wahrung einer evangelischen Lehre" (351).

Nach dem Umbruch in Schweden wählte die Synode von Uppsala 1593 einen neuen Erzbischof: Die Wahl wurde von den in Rostock ausgebildeten Theologen bestimmt. Alle vier Kandidaten "hatten ihre wichtigsten theologischen Eindrücke von ihrem Lehrer David Chytraeus erhalten". Für ein halbes Jahrhundert war ihnen "das höchste schwedische Kirchenamt vorbehalten" (352). Auch alle Professoren der 1593 wieder eröffneten Universität Uppsala hatten in Rostock studiert. Abschnitt 6.3 "Die Rezeption von David Chytraeus' Werken im schwedischen Reich" betrifft primär seine Catechesis, die seit 1593 neben Luthers Kleinen Katechismus trat (362). C. formuliert: "Den Bibliotheksbeständen nach zu urteilen ist die Catechesis von Chytraeus das Werk, das die weiteste Verbreitung im schwedischen Reich erfahren hatte" (367). Sie bekam für die Schulen in Schweden "über Jahrhunderte hinweg Vorbildcharakter" (377).

"Schlußbetrachtungen" betonen die um Ausgleich bemühte Linie bei Chytraeus, der gerade auch in dieser Hinsicht ein genuiner Schüler Melanchthons war. Abschnitt 7.2 ist überschrieben: "David Chytraeus, die Universität Rostock und das schwedische Reich". Die Universität Rostock hatte etwa seit 1550 Wittenberg als zentrale Ausbildungsstätte des akademischen Nachwuchses für Nordeuropa abgelöst. Damit knüpfte die Universität an ihre Bedeutung für Skandinavien im 15. Jh. an (386). An dieser Entwicklung hatte Chytraeus als Theologe und als Historiker entscheidend mitgewirkt. Er beschrieb das "schwedische Reich mit königlicher Approbation als einen lutherischen Staat ab origine, seit der Gründung unter Gustav Vasa, bis hin zu Johan III." (392). Die in Rostock ausgebildeten Schweden formten "über Jahrzehnte hinweg die Führungsschicht der schwedischen Kirche" (399). Die Catechesis des Chytraeus erhielt "normative Funktion für den Lehrkanon der schwedischen Schulen und Universitäten" (399). Über seine Schüler in Schweden wurde David Chytraeus zum "Vater der schwedischen Theologie im konfessionellen Zeitalter" (400).

Die Arbeit führt weiter durch neu gefundene Quellen, die C. für seine Darstellung nutzt. Der Aufweis taktischer Überlegungen bei Chytraeus mindert nicht seine überragende Bedeutung. Details hat C. im Anhang ausführlich dokumentiert, so dass eine Weiterarbeit an den Problemen bestens vorbereitet ist. Das Buch ist spannend zu lesen und bringt die Forschung wesentlich voran.