Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

621–625

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Albrecht-Birkner, Veronika

Titel/Untertitel:

Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640-1675).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 603 S. gr.8 = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 1. Geb. ¬ 64,00. ISBN 3-374-01919-6.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Die von Ernst Koch angeregte und ihm gewidmete umfangreiche Untersuchung von Veronika Albrecht-Birkner kann sich der besonders interessierten Aufmerksamkeit in der interdisziplinären Frühneuzeitforschung gewiss sein. Das ist auch vom Thema dieser kirchengeschichtlichen Dissertation her nahe liegend, die noch an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig begonnen und dann an der Universität Halle unter der Förderung von Udo Sträter in kollegialer Zusammenarbeit mit Ernst Koch 1998 beendet und angenommen wurde.

Über Anliegen und methodisches Vorgehen gibt die Vfn. in der Einleitung klar Auskunft: Die Reformmaßnahmen Herzog Ernsts des Frommen (1601-1675) werden im Herzogtum Sachsen-Gotha in ihren Absichten und Auswirkungen auf die Bevölkerung untersucht. Diese, in der bisherigen Forschung zu Ernst dem Frommen neue und doch so nahe liegende Fragestellung impliziert ein intensives Quellenstudium, wozu die insgesamt recht gute Quellenlage in diesem Territorium eine günstige Voraussetzung bot. Neben den handschriftlichen Quellen im Thüringischen Staatsarchiv Gotha und dem Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen in Eisenach, hat die Vfn. vor allem in zahlreichen Pfarrarchiven und in einem Ephoralarchiv die Quellenlage gründlich untersucht und ausgewertet, so dass sie für die von ihr ausgewählten Orte alle überlieferten Quellen von 1640 bis 1652 berücksichtigen konnte. Wie der Untertitel schon anzeigt, ist es besonders der ländliche Raum, der im Zentrum der Untersuchung steht - d. h. die Vfn. ist wirklich "auf die Dörfer gegangen", ohne jedoch die Situation in der Stadt auszublenden. Gerade die Schwerpunktsetzung auf den ländlichen Raum gibt der Untersuchung eine forschungsgeschichtlich immer wieder angemahnte, besondere Relevanz. Mit dem anspruchsvollen Forschungsziel, die durch die Reformmaßnahmen entstandenen tatsächlichen Veränderungen in der Situation der Bevölkerung zu erkunden, wird nicht zuletzt auch ein neuer Blick auf das bisherige Bild von Herzog Ernst dem Frommen eröffnet.

Wenn die Untersuchung auch dezidiert einen Beitrag zur regionalgeschichtlichen Forschung leisten will, so werden doch übergreifende, kirchengeschichtlich wie allgemeinhistorisch zentrale Problemkreise der gegenwärtigen Frühneuzeitforschung in dieser interdisziplinär angelegten Arbeit diskutiert. Zum einen geht es um einen neuen Versuch, Ernst den Frommen in die Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des 17. Jh.s sinnvoll einzuordnen. Zum anderen bietet das Beispiel Sachsen-Gotha eine Möglichkeit, den lutherischen Konfessionalisierungsprozess am Ende des Dreißigjährigen Krieges im Zusammenwirken politischer, kirchlicher, theologischer, pädagogischer und soziologischer Faktoren darzustellen. Die zeitliche Schwerpunktsetzung inmitten der Fülle der vorhandenen Quellen liegt zwischen den Jahren 1640 und 1652. Das ist vor allem durch die von 1641-1645 am Anfang der Regierungszeit Herzog Ernsts des Frommen durchgeführte Generalvisitation der Kirchen und Schulen begründet, die ausdrücklich das Programm einer "Reformation des Lebens" zum Inhalt hatte. Die wichtigsten Reformmaßnahmen wurden bereits während dieser Visitation durchgeführt, so dass auch ihre ersten Auswirkungen bis zu den ersten Jahren nach Kriegsende erkennbar sind. Vor allem aber ist diese zeitliche Schwerpunktsetzung bis zu den ersten Nachkriegsjahren deshalb besonders sinnvoll, weil somit die Wechselwirkungen der Reformen mit den Auswirkungen des Kriegsendes zusammengesehen werden können. Für die weitere Regierungszeit Herzog Ernsts des Frommen beschränkt sich die Darstellung verständlicherweise auf Entwicklungslinien.

Entsprechend der klaren Vorgaben hinsichtlich Ziel und Methode der Arbeit, ist sie auch sachlogisch aufgebaut. Das erste Kapitel bringt zunächst einen Überblick über die zahlreichen wissenschaftlichen und populären Darstellungen Ernsts des Frommen bis in die Gegenwart und stellt sodann sein Leben und seine Regierungstätigkeit unter äußeren und inneren Gesichtspunkten bis 1675 dar. Es entsteht ein Gesamtbild über die Persönlichkeit dieses lutherischen Fürsten mit seinen Initiativen, Neigungen und der Atmosphäre am Hof. Dieser größere Gesamtrahmen wird im zweiten Kapitel auf die Intentionen der Generalkirchen- und Schulvisitation von 1641-1645 konkretisiert, wobei die theologische Einordnung der Intentionen dieser Visitation in Sachsen-Gotha vor allem im Gegenüber zu der vorausgehenden in Weimar unter Johannes Kromayer und Herzog Wilhelm vorgenommen wird. Hierbei werden die erheblichen Unterschiede beider Visitationen in den theologischen Grundanschauungen prägnant herausgestellt. Das umfangreiche dritte Kapitel, das Zentrum der Arbeit, stellt den Ablauf und die Wirkungen der Visitationsmaßnahmen anhand der Aktenlage in den Dörfern Fröttstädt, Mühlberg und Molschleben dar. Strukturiert werden diese Studien zur Situation im ländlichen Raum von 1640-1652 durch die Unterscheidung von ortsgebundenen und sachgebundenen Zugängen. Die ortsgebundenen Studien haben einen weitgehend parallelen Aufbau, variiert nur durch die örtlichen Gegebenheiten. Da die drei Orte für die exemplarische Bearbeitung ausgewählt wurden und sie für eine relative geographische Streuung im Herzogtum stehen, können von dieser Grundlage aus die Gesamttendenzen dieser Visitation gut in den Blick treten. Mit Recht sagt die Vfn. in ihrer Einleitung: "das gesamte dritte Kapitel steht im Kontext historischer Kultur-, Alltags-, Sozial- und Frömmigkeitsforschung". (16) Die Maßnahmen im Umkreis der Visitation bis 1652 werden gesondert im vierten Kapitel dargestellt. Hier steht zunächst die bekannte Gothaer Schulordnung von 1642 im Zentrum, die später als "Schulmethodus" bezeichnet wurde. Unter dem Titel "Erbauung und Ordnung" werden das von Herzog Ernst betriebene Vorhaben eines Bibelwerkes, die Weimarer Bibel, die 1641 erstmals in Nürnberg erschien, ebenso wie die Verordnungen und Publikationen der Jahre 1640-1652 dargestellt, in deren Mittelpunkt vor allem das Wirken des Generalsuperintendenten Salomon Glassius steht. Im fünften Kapitel kommen Beobachtungen aus den Jahren 1652-1675 zur Sprache, in die auch die 79 Prozesse gegen Hexen während der Regierungszeit Ernsts des Frommen fallen, die kurz thematisiert werden. Im sechsten Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse der umfangreichen Untersuchung im Blick auf die Absichten der Reformen und das Selbstverständnis des Herzogs, den Bau einer neuen Gesellschaft und die Auswirkungen auf die Situation der Bevölkerung zusammengefasst. Sehr verdienstvoll ist die Zusammenstellung der Präparationsfragen an die Pfarrer, das Verzeichnis der Seelenregister von über 100 Orten und das Verzeichnis der Schultabellen. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Ortsregister und eine Legende zur Karte Sachsen-Gotha 1645 beschließen das Werk.

Aus den reichhaltigen inhaltlichen Ergebnissen dieser Untersuchung greife ich einige heraus, die mir für die weitere Forschung wichtig erscheinen. Was zunächst die Persönlichkeit von Herzog Ernst betrifft, so wird überzeugend deutlich, dass das "fromme Bild", das die gesamte Rezeptionsgeschichte geprägt hat, sehr bewusst von dem Fürsten selbst geformt wurde. Neben der fraglos lutherischen Prägung und dem Verpflichtungsbewusstsein gegenüber der Wittenberger Reformation spielen in diesem Selbstbild besonders alttestamentliche Vorbilder und mit den hohen Ansprüchen an die eigene Leistung und Disziplin implizit auch neustoizistische Einflüsse sowie eine Annäherung an den Calvinismus eine Rolle. Neues Licht fällt auch auf den abrupten Weggang Veit Ludwig von Seckendorfs aus Gotha 1664, nachdem er seit 1651 zu immer höherem Einfluss am Hof Herzog Ernsts gekommen war. Offenbar liegen die Hintergründe hierfür neben der Überforderung angesichts der Fülle der Aufgaben am Gothaer Hof nicht zuletzt in der Atmosphäre, in der Herzog Ernst zu dieser Zeit seine Regierungsgeschäfte wahrnahm. Sie ist durch Willkür in den Anweisungen, Heuchelei, Perspektivlosigkeit und Ineffektivität gekennzeichnet, "ein Bild, das sich mit dem selbst gesetzten Ideal fürstlich-harmonischer Regierungsweise kaum vereinbaren läßt. Seckendorfs Sicht stellt also eine erste Korrektur des idealen Herzog-Ernst-Bildes dar, die aber nicht rezipiert wurde und wegen der bewußten Geheimhaltung auch nicht rezipiert werden konnte" (47). Aufschlussreich sind auch die Ausführungen zu den ökumenischen Bemühungen des Herzogs, seine Unterstützung der lutherischen Gemeinden in London, Utrecht, den habsburgischen Erblanden und in Moskau. Hinsichtlich seiner Initiativen in den innerprotestantischen Streitigkeiten, vor allem in den Auseinandersetzungen zwischen Wittenberg und Helmstedt, macht die Vfn. darauf aufmerksam, dass bei allen Vermittlungsbemühungen die offenbar bevorzugte Position von Georg Calixt in theologischen Übereinstimmungen zwischen Gotha und Helmstedt ihren Grund haben könnte. Neben der eigenständigen Bedeutung der theologischen Ethik gegenüber der Dogmatik kam den Vorstellungen Herzog Ernsts in Helmstedt auch ein Obrigkeitsverständnis entgegen, das weniger das kritische Wächteramt der Geistlichen gegenüber der Obrigkeit als vielmehr den obrigkeitlichen Einfluss in der Kirche hervorhob.

In ihrer theologischen Einordnung der Generalkirchen- und Schulvisitation von 1641-1645 stellt die Vfn. die Rezeption Johann Arndts in Sachsen-Gotha heraus, die eine grundlegende Rolle spielte (s. auch ihren diesbezüglichen Aufsatz in PuN 26, 2000 [2001], 29-49). Auch wenn das Gothaer Konzept einer "Reformation des Lebens" im Rahmen der für das Luthertum charakteristischen Naherwartung des Jüngsten Gerichtes bleibt, so habe es doch auch eine "offene Flanke" für chiliastisch ausgerichtete Erneuerungsentwürfe gehabt (83). In den zeitgeschichtlichen Parallelen werden die indirekten und direkten Beziehungen zu Johann Valentin Andreae und über ihn zu Wolfgang Ratke und Johann Amos Comenius hervorgehoben sowie zu Anliegen der Fruchtbringenden Gesellschaft vor allem in ihrer ersten Phase, in der Herzog Ernst seit 1619 Mitglied war. Schließlich wird das Programm einer "reformatio vitae" in Gotha durch die Einführung der "visitatio domestica", die auf die Erfassung jedes Einzelnen ausgerichtet war und einen deutlichen Einschnitt in der lutherischen Tradition bedeutet, mit den ganz ähnlichen Vorgängen in calvinistischen Gebieten in Zusammenhang gebracht. Eine wahrhaft breite, die Konfessionsgrenzen teilweise überschreitende Pluralisierung zeichnet sich ab, aber auch grundlegende theologische Auseinandersetzungen innerhalb des Luthertums zwischen Weimar und Gotha über Ziele, Inhalte und Methoden der Visitationen.

Auf der einen Seite standen Johannes Kromayer und der Weimarer Herzog Wilhelm, auf der anderen Herzog Ernst, der Pfarrer Christoph Brunchorst und der Schulrat Sigismund Evenius. Aus Weimar kam der Vorwurf der falschen Lehre gegenüber Gotha und nicht zuletzt die Kritik, die weltliche Obrigkeit erlaube sich Übergriffe in das Gebiet des geistlichen Regiments und würde mit der Vermischung der beiden Reiche bzw. Regimente die Eigenständigkeit der Kirche in Frage stellen. Die Vfn. bestätigt hier die von Theodor Mahlmann und mir herausgestellte Sicht auf zwei unterschiedliche Konzeptionen im Obrigkeitsverständnis des Luthertums. Für Gotha ist der Einfluss Arndts konstitutiv, während Kromayer in der Tradition des älteren, vor allem flacianisch geprägten Luthertums steht. "Die Auseinandersetzungen zwischen Weimar und Gotha müssen ... in den Kontext der Auseinandersetzungen zwischen Flacianern und Philippisten gestellt werden." (122) Indem die Vfn. die Gothaer Vorgänge in die Rezeption der Arndtschen Tradition m. E. zutreffend einordnet, was allerdings Schwierigkeiten für eine rein spiritualistische Deutung der Arndtschen Intentionen mit sich bringt, möchte sie die Gothaer Konzeption doch nicht als frühpietistisch bezeichnen. Wenn auch das Verständnis der Buße als Wendepunkt im Leben jedes Einzelnen, das Leben nach den Regeln Christi zu gestalten, mit den Intentionen des Pietismus zusammengeht, so unterscheiden sich die Gothaer Reformen vom Pietismus Spenerscher Prägung durch die hier ganz von der Obrigkeit verantworteten Maßnahmen und das Verbleiben im Rahmen einer Eschatologie des nahen Jüngsten Tages. Allerdings sieht die Vfn. deutliche Verbindungslinien zum halleschen Pietismus, nicht nur auf Grund der biographischen Bezüge August Hermann Franckes zu Gotha. "Francke knüpfte explizit an die gothaische Schulgesetzgebung an; sein Ansatz ist ähnlich dem Herzog Ernsts überhaupt ein pädagogischer und im Sinne der Formung gleichgesinnter Glieder einer Gott wohlgefälligen Gesellschaft in einem bestimmten System ein gesellschaftsutopischer." (527) In ihren Schlussfolgerungen resümiert die Vfn.: "Möglicherweise verlangen gerade die anhand des Vergleichs mit den Gothaer Reformen deutlich werdenden Differenzen zwischen den Anliegen Speners und Franckes auch neue Differenzierungen in der Definition dessen, was bislang unter dem Begriff Pietismus zusammengefaßt wird." (527)

Nach der Lektüre dieser materialreichen, gedanklich klar strukturierten und gut lesbaren Untersuchung über eine zentrale Thematik in der Geschichte des Luthertums im 17. Jh. werden sich die bestehenden Aporien vor allem in der kirchen-, theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Erforschung dieser Zeit vermutlich noch weiterhin vermehren. Denn die Vfn. stellt am Ende lapidar fest: "Zentrale Glaubensinhalte waren auf allen Ebenen geprägt vom Denken in klaren Tun-Ergehen-Zusammenhängen in Verquickung mit den Normen eines angepaßten Sozialverhaltens. Als Proprium lutherischen Christseins galt das Auswendigwissen des Kleinen Katechismus, vor allem des Artikels von der Rechtfertigung und ein Leben nach dem Dekalog. Eine Rezeption des befreienden Potentials lutherischer Lehre im Gegenzug zur Orientierung am Gesetz ist nicht erkennbar." Das wird für das Gothaer Herzogtum festgestellt. Nur im Zusammenhang mit vergleichbaren Studien können, wie die Vfn. ausdrücklich hervorhebt, weitergehende Schlussfolgerungen gezogen werden. Aber dann "wäre allerdings auch zu fragen, an welcher Stelle die zentralen Erfahrungen der Wittenberger Reformation, die in Form von Bekenntnissätzen zum Fundament lutherischer Kirche wurden, überhaupt zum Tragen gekommen sind." (527 f.)

Auch wenn man sich diese ernüchternden, gewichtigen Sätze stärker in die gegenwärtige Forschungsdiskussion eingeordnet gewünscht hätte, ist doch gewiss, dass diese Untersuchung höchst anregend und herausfordernd auf die interdisziplinäre Frühneuzeitforschung wirken wird. Das ist u. a. ein nicht geringes Verdienst dieses für eine Dissertation höchst beachtlichen Werkes.