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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

617–620

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Shellard, Barbara

Titel/Untertitel:

New Light on Luke. Its Purpose, Sources and Literary Context.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 2002. 340 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament, Suppl. Series 215. Lw. £ 60,00. ISBN 1-84127-236-1.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Der Titel dieses Buches weckt Erwartungen: Was mag es Neues geben auf dem weitläufigen Feld der Lukasforschung? Dabei deutet der Untertitel schon an, dass bei dem Licht wohl weniger an Flutlicht als an ein Spotlight gedacht ist, dessen Strahl auf den Bereich der literarischen Arbeitstechnik und damit der Intention des Lukas trifft. Grundsätzlich aber geht es der Autorin um nicht weniger als um eine Ablösung der Zwei-Quellen-Theorie zu Gunsten einer neuen Verhältnisbestimmung: Lukas als der jüngste Evangelist hat Markus, Matthäus sowie Johannes gleichermaßen gekannt und benutzt. Aus der Art des Umganges mit diesen Quellen lassen sich entscheidende Erkenntnisse hinsichtlich seiner literarischen und theologischen Intention gewinnen.

An dieser These ist durchaus nicht alles neu. Die Kritik an der Zwei-Quellen-Theorie hat ihre Geschichte; auch hinsichtlich der Beziehung zwischen Johannes und Lukas sind alle denkbaren Optionen bereits erprobt worden. Neu ist indessen die Stringenz, mit der die Argumente zusammengetragen, arrangiert und durch Textanalysen untermauert werden. Das geschieht in Gestalt von acht essayartig angelegten Kapiteln. Inspiriert durch die Überlegung, dass in Lk 1,1 mit den "vielen" nicht nur auf zwei Quellen verwiesen sein könne, unternimmt die Analyse eine schrittweise Prüfung aller möglichen Bezugnahmen von Lukas auf die übrigen Evangelisten, wobei das Material der sog. Logienquelle Matthäus zugeschlagen wird.

Kap. 1 referiert zunächst den Stand der Einleitungsfragen, bei dem schon die Grundtendenz der folgenden Untersuchung erkennbar wird: Das Werk des Lukas, der ein Reisebegleiter des Paulus war und nicht nur die Paulusbriefe, sondern auch die Werke des Josephus kannte, lässt sich als "history" im weitesten Sinne begreifen; zu datieren ist es um 100 - spät genug jedenfalls, um Johannes den Vortritt lassen zu können; für den Ort der Abfassung wird Rom favorisiert, wenngleich - nicht zuletzt um der Bekanntschaft mit der johanneischen Tradition willen - auch noch (287 f.) ein längerer Aufenthalt des Lukas in Ephesus erwogen wird. Kap. 2 fragt nach dem Lesepublikum des Doppelwerkes und belässt es, nachdem verschiedene Gruppierungen abgeschritten worden sind, bei einem ausgewogenen Urteil: Juden wie Nichtjuden sind für Lukas im Blick, was auch die Situation seiner Gemeinde widerspiegeln dürfte. Im Anschluss präsentiert ein Exkurs von neuem die Möglichkeit, auf Grund mancher Berührungen Lukas selbst als Autor des Epheserbriefes zu betrachten.

Nach diesen Präliminarien beginnt der Kernbereich der Arbeit: Anhand der Beziehungen zwischen Lukas und Matthäus wird die synoptische Frage grundsätzlich in Angriff genommen. Kap. 3 ist zunächst mit der Darstellung des Problems befasst. Dass die Beziehungen literarischer Art seien, wird dabei nicht in Frage gestellt. Die Voraussetzung einer gemeinsamen Spruchquelle versucht die Autorin jedoch mit Unterstützung anderer kritischer Stimmen und unter Beibringung verschiedener Indizien zu widerlegen. Das bedeutet freilich nicht die Wiederbelebung der alten Griesbach-Hypothese von der Matthäus-Priorität, sondern macht nun Matthäus zum Bindeglied zwischen Markus und Lukas. Als Gewährsmänner für diese Position erscheinen E. W. Lummies (1915), Austin Farrer (1955) und M. D. Goulder (1989). Argumente liefert die Untersuchung der Akoluthie, der "minor agreements", der Dubletten, der Kombination von Quellenstücken oder verbaler Abhängigkeiten; selbst im Blick auf die Geburtsgeschichten unternimmt Shellard den Versuch, Lk 1-2 als kreative Neufassung des mt. Berichtes zu erweisen. Fazit: "The Q hypothesis in its full form is unnecessary." (83) Die Probe aufs Exempel erfolgt dann in Kap. 4 und 5, die der sog. "central section" - hier bemessen auf 9,51- 19,27- vorbehalten sind. Als Hauptquelle wird nun Matthäus ermittelt. Dass Lukas dann freilich mit der Abfolge sehr frei umgeht und gerade hier die Hauptmasse seines "Sondergutes" unterbringt, gilt als Ausweis seiner schriftstellerischen Kreativität. Methodisch wird nach einer kurzen forschungsgeschichtlichen Einführung der gesamte Text dieser Einheit referiert, was angesichts des großen Umfanges nur paraphrasierend möglich ist; Abschnitt um Abschnitt gilt das Interesse jenen Details, die sich für eine Matthäuspriorität bzw. für lk Redaktion in Anspruch nehmen lassen. Entscheidend für das, was die Autorin eine "very creative readaptation" des mt Materials nennt, ist die theologische Intention des Lukas in dieser literarischen Großsektion: In der "central section" sei vor allem der Weg der Jüngerschaft exemplarisch abgebildet - "the message is paraenetic throughout" (141). Kap. 6 und 7 vollziehen schließlich den letzten Schritt: Auch Johannes hat bei der Abfassung des Doppelwerkes schon vorgelegen und auf die lk Darstellung eingewirkt. In diese Relation wird auch die Offenbarung des Johannes mit einbezogen. Kap. 6 listet eine Reihe von relevanten Themen auf: das Verständnis von Geschichte, das Phänomen persönlicher Offenbarung, die Bedeutung von Zeugenschaft, eschatologische Spekulationen, die Rolle des Geistes, messianische Erwartungen, der kommende Äon, Dualismus, Reichtum, Christus und Satan, die Symbolik des Sees/Meeres. Dies alles bietet "conceptual correspondences" und "significant affinities", wenngleich auch für die meisten Themen der gemeinsame Traditionshintergrund im frühen Judentum nicht zu verkennen ist. Deshalb wird auch an dieser Stelle per Exkurs die Beziehung zwischen Lukas und der Epistel Henochs in äthHen 92-105 eingeblendet; hier bleibt es im Wesentlichen bei dem abgewogenen Urteil G. Nickelsburgs zur Sache. Kap. 7 spitzt nun die Frage auf jene in der Diskussion gern als "Parallelperikopen" bezeichneten Passagen zu. Nach einem längeren Einleitungsteil, der die Frage von der statistischen und forschungsgeschichtlichen Seite her angeht, liegt der Schwerpunkt dann wiederum bei einem detaillierten Textdurchgang. Die 15 Belege für eine Johannes-Priorität gegenüber Lukas sind dabei nicht chronologisch, sondern in einer Klimax zunehmender Wahrscheinlichkeit angeordnet. Fazit: "If we accept the weight of manuscript evidence, and uphold the authenticity of Lk. 24.12, we may regard the matter as more or less settled." (258) Johannes habe in jedem Falle inspirierend auf die Gestaltung des lk Werkes eingewirkt, wobei dieser Einfluss durch Notizen oder Exzerpte vermittelt sein könnte. Kap. 8 versucht, daraus Kapital zu schlagen: Wenn Lukas nicht nur verschiedene Traditionen ausgeglichen, sondern gezielt ein "corrective Gospel" geschrieben hat, dann muss auch die Rekonstruktion der Quellenbenutzung eine genauere Profilierung seines theologischen Anliegens gestatten. Aber wäre dazu eine neue Theorie notwendig gewesen? Die Ergebnisse in Kap. 8 decken sich jedenfalls weitgehend mit den längst zum Allgemeingut gewordenen Einsichten der lk Redaktionskritik. Spekulativ wird das Unternehmen da, wo in einem letzten Schritt nun auch - veranlasst durch die Positionierung nach Johannes - die mögliche Auseinandersetzung mit frühgnostischen Tendenzen ins Spiel kommt. Ein kurzes Schlusskapitel fasst die Beobachtungen zusammen und lenkt zum lk Vorwort als dem entscheidenden Programm zurück.

Das Buch, mit Schwung geschrieben, lässt viele Fragen offen. Vollzieht die These nur den Pendelschlag gegenüber einer ausufernden Q-Forschung? Als Gegenmodell vermag sie kaum zu überzeugen. Im Detail bleiben die Begründungen häufig ungenügend - so z. B. bei der Darstellung der "minor agreements", für die der umfangreiche Diskussionsstand zumindest benannt werden müsste. Vor allem die Geburtsgeschichten sind ein Beispiel dafür, wie sich mit wenigen Strichen gemeinsame Traditionen zu direkten Bezugnahmen verwandeln können. Die Differenzen werden zwar nie verschwiegen, Gegenargumente stets benannt - dass am Ende jedoch eine kreative Neugestaltung des Matthäustextes die einzige Lösung sein sollte, das will nicht recht einleuchten. Zu wenig Beachtung erfährt in der "central section" das Eigengewicht des sog. lk Sondergutes. Hinterfragbar sind die Kriterien, nach denen sich z. B. eine Texteinheit bei Johannes als "more consistent" erweisen lässt, um daraus ihre Priorität gegenüber einer vergleichbaren Einheit bei Lukas abzuleiten. Nötigen die auffallenden Berührungen wirklich zu einer Kenntnis des gesamten Textes - in dieser oder jener Richtung? Vor allem aber bleibt unverständlich, warum sich die Quellen, auf die Lukas in Vers 1,1 verweist, ausschließlich in den später kanonisch gewordenen Evangelien erschöpfen sollten. In der Tat, "Christianity in this pre-canonical period was very diverse, however, as we know from the surviving literature" (290) - und so dürfte auch für Lukas ein sehr viel differenzierteres Spektrum an Überlieferungen zur Verfügung gestanden haben.

Licht verbreitet dieses Buch gleichwohl. Wichtige Probleme werden aufgegriffen und in ihren Alternativen anregend dargestellt, auch wenn sich die Auseinandersetzung gelegentlich zu stark auf die englischsprachige Diskussion konzentriert. Zahlreiche präzise Beobachtungen schärfen das Problembewusstsein. Die These kommt auf prägnante Weise zur Entfaltung. Wo immer die grundlegenden Fragen nach den Quellen und der literarischen Arbeitstechnik des Lukas zur Debatte stehen, bietet die Untersuchung von Barbara Shellard eine klare, eigenwillige Position.