Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

610–612

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gorman, Michael J.

Titel/Untertitel:

Cruciformity. Paul's Narrative Spirituality of the Cross.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2001. XI, 429 S. gr.8. Kart. US$ 28,00. ISBN 0-8028-4795-1.

Rezensent:

Christian Strecker

Der in Baltimore/USA Neues Testament und frühe Kirchengeschichte lehrende Michael J. Gorman plädiert in dem angezeigten Werk mit Nachdruck dafür, das Kreuz als fundamentalen Dreh- und Angelpunkt paulinischen Denkens und Handelns wie auch christlicher Existenz im Allgemeinen zu begreifen. Das Buch versteht sich allerdings keineswegs als Darstellung und Deutung der sog. "Kreuzestheologie" des Apostels; G. sucht vielmehr primär der in den paulinischen Brieftexten sedimentierten "spirituellen Erfahrung" mit dem Kreuz Christi sowie den sich daraus ableitenden paränetischen Konsequenzen für die Gemeinden nachzuspüren (vgl. 2 ff.369 ff.). Diese "spirituality of the Cross" (5.92 u. ö.), d. h. die sich aus der Begegnung mit dem Gekreuzigten speisende und im Alltag gelebte religiöse Erfahrung, beschreibt G. genauerhin als "narrative spirituality". Gemeint ist damit "a spirituality that tells a story, a dynamic life with God that corresponds in some way to the divine story" (4; s. auch 30), wobei mit "divine story" vor allem auf das Christusereignis angespielt ist. Die angesprochene Korrespondenz zwischen göttlicher "story" und christusgläubiger Existenz bezeichnet G. schließlich als "cruciformity". Wörtlich definiert er diese als "a dynamic correspondence in daily life to the strange story of Christ crucified as the primary way of experiencing the love and grace of God" (5).

Das Buch besteht nebst Einleitung aus 14 Kapiteln. Die Argumentation lässt sich allerdings, wie G. selbst indirekt andeutet (6), grob in fünf Hauptteile untergliedern:

1) Die ersten vier Kapitel handeln zunächst von der Gotteserfahrung respektive dem Gottesverständnis des Apostels. G. entwickelt darin die These, das Corpus Paulinum durchziehe eine Art "trinitarische Spiritualität" (73), die in der Offenbarung Gottes am Kreuz Christi ihr Zentrum habe. Danach bilde das Kreuz zum einen "the interpretative, or hermeneutical, lens through which God is seen" (17) - was G. zu der Behauptung führt, Paulus habe Gott als "cruciform God" (17.62) erfahren -, des Weiteren bleibe Jesus bei Paulus gerade auch als Erhöhter durchweg der Gekreuzigte und gewinne zumal als solcher in den Gläubigen Gestalt, und schließlich zeichne der Apostel drittens den machtvollen, lebensverändernden Geist Gottes zugleich als Geist der Schwachheit respektive als "Spirit of Cruciformity". So sei Gott als Vater, Sohn und Geist speziell vom Kreuz her "as community, as a triad - a tri-unity - of love and grace" (70) zu sehen. Die trinitarische Einheit der drei "Personen" (63.75) sucht G. darüber hinaus aber auch anhand der paulinischen Aussagen über die Taufe, das Bekenntnis, das Leben in Gott, das Gebet wie auch das moralische Leben auszuweisen, und zwar insofern, als in diesen wechselweise das Wirken Gottes, das Agieren Jesu oder auch das Handeln des Geistes als jeweiliges Fundament erscheinen (67 ff.).

2) Großes Gewicht innerhalb der Argumentation kommt sodann Kap. 5 zu. G. schält hier dreizehn narrative Muster heraus, mittels derer Paulus den Tod Christi am Kreuz thematisiere. Er versieht diese mit folgenden Überschriften: "Gehorsam/Gerechtigkeit/Treue", "Liebe", "Gnade", "Opfer", "Altruismus", "Selbsthingabe", "freiwillige Selbsterniedrigung", "Kulminationspunkt einer Story, die Fleischwerdung und Leiden einschließt", "paradoxe Macht und Weisheit", "Austausch", "apokalyptischer Sieg und Befreiung für ein neues Leben bzw. Veränderung", "Versöhnung und Rechtfertigung" sowie "Vorspiel zu Auferstehung und Erhöhung". Nahezu alle diese "patterns" sieht G. in Phil 2,6-11 verdichtet, weshalb er den Christushymnus - für den er im Übrigen eine paulinische Verfasserschaft nicht rundweg ausschließt (23 f., Anm. 19) - auch als "master story of the cross" (88) bezeichnen kann. In den aufgelisteten "patterns of the cross" macht G. sodann vier Basismuster von Kreuzförmigkeit ("patterns of cruciformity") aus, nämlich: kreuzförmiger Glaube, kreuzförmige Liebe, kreuzförmige Macht, kreuzförmige Hoffnung.

3) Im dritten, umfangreichsten Argumentationsblock, in den Kap. 6-12, untersucht G. jene besagten vier Muster der Kreuzförmigkeit en detail, wobei er auf vielfältige Weise die Verbindungen zwischen der "story of Christ", der "story of Paul" und der "story of the communities" herausstellt und dabei immer wieder die "master story" Phil 2,6-11 als zentrale Interpretationsbasis heranzieht. Die zahlreichen Überlegungen, die G. in den sieben Kapiteln anstellt, lassen sich in ihrer ganzen Breite hier nicht wiedergeben. Angemerkt sei lediglich, dass er in seiner Gedankenführung u. a. einem in der amerikanischen Exegese inzwischen weithin etablierten Trend folgt und den Genitiv pistis [Iesou] Christou (Gal 2,16.20; 3,22; Röm 3,22. 26; Phil 3,9) nicht als Genitivus objectivus ("Glaube an Christus"), sondern als Genitivus subjectivus respektive auctoris auslegt (110 ff.). Das Syntagma markiert danach die "Treue" bzw. "Loyalität Christi" (ebenso R. B. Hays, M. D. Hooker, S. K. Stowers, S. K. Williams u. v. a.). Diese Loyalität Christi manifestiere sich wiederum - so G. - primär in der Selbsthingabe am Kreuz, wobei die Gemeinde über ihren Glauben ihrerseits an dieser Treue partizipiere.

4) Kap. 13 widmet sich speziell der paulinischen Konzeption einer kreuzförmigen Kirche. G. arbeitet hier u. a. heraus, dass Kreuzförmigkeit eine Art "political spirituality" (349) einschließe. Diese stehe zwar in einer gewissen Kontinuität mit Israel, unterlaufe aber römische Ideologien und Vorstellungen von Macht. Vom Kreuz her erwiesen sich die paulinischen Gemeinschaften als "communities formed by and into the countercultural story of their countercultural Lord" (366).

5) Im letzten Kapitel liefert G. einige Überlegungen zu den Herausforderungen und Konsequenzen der paulinischen "Kreuzesspiritualität" für die heutige Zeit, wobei er u. a. auch auf die moderne Kritik an der Kreuzestheologie etwa von Seiten des Feminismus eingeht.

Das Buch schließt nebst Literaturverzeichnis mit einem ausführlichen Bibelstellen- und Autorenregister.

G. durchmisst in seiner Untersuchung ein weites Feld. Auch wenn er ausdrücklich nicht auf die "Theologie" des Apostels zielt, streift er von seinem speziellen Fokus des Kreuzes aus doch nahezu alle zentralen Themen einer "Theologie des Paulus" (Rechtfertigung, Sein in Christus, Leib Christi etc.). G. gelangt dabei immer wieder zu interessanten und beachtenswerten Einsichten. Anregend ist zumal die erwähnte staurologische Deutung des Genitivs pistis [Iesou] Christou, die zahlreiche aufschlussreiche Perspektiven eröffnet. Auch die Akzentuierung der narrativen Dimension paulinischen Denkens, die zuvor bereits namentlich von Richard Hays ("The Faith of Jesus Christ", Chico 1983) und Norman Petersen ("Rediscovering Paul", Philadelphia 1985) in die Diskussion eingebracht wurde, ist inspirierend. Der Phil 2, 6-11 zu Grunde liegende dramatische Plot lässt sich in der Tat als wichtige Richtschnur im Denken des Apostels beschreiben. Allerdings finden weder der Christushymnus noch auch die zahlreichen anderen herangezogenen Texte eine vertiefte exegetische Auslotung, ja wiederholt führt G. paulinische Aussagen lediglich wie dicta probantia auf. Einige weitere Anfragen sind dem hinzuzufügen.

Abgesehen von kleineren Einzelheiten hinterlässt vor allem der vage Gebrauch des Erfahrungsbegriffs eine gewisse Ratlosigkeit. G.s Absicht, der in der Paulusexegese weithin ausgeblendeten Dimension der Erfahrung zu neuen Ehren zu verhelfen - was zuvor bereits etwa Luke Timothy Johnson ("Religious Experience in Earliest Christianity", Minneapolis 1998) versucht hat, auf den sich G. bezieht -, ist zwar rundweg zu begrüßen, eine genaue Abklärung dessen, was unter Erfahrung zu verstehen ist, unterbleibt jedoch ebenso wie eine Reflexion darauf, wie die in die Paulusbriefe eingelagerten Erfahrungen aus den Texten herausdestilliert werden können. Erschwerend kommt hinzu, dass G. in seiner Auslegung selbst massiv mit theologisch-dogmatischen Begriffen arbeitet. So ist zu fragen, ob mittels der Verwendung solch aufgeladener Konzepte wie "Trinität" tatsächlich eine Annäherung an die paulinische Erfahrung möglich ist. Ist etwa die Charakterisierung des Gekreuzigten bei Paulus als Offenbarung wahrer Göttlichkeit und wahrer Menschheit (19) in dieser Hinsicht wirklich angemessen? Dieselbe Frage stellt sich, wenn G. Gott und den Heiligen Geist trinitätstheologisch als "Personen" bezeichnet (s. o.) oder andere explizit katholische Konzepte als Deutungshilfen heranzieht (96 ff.). Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass die vermeintliche Fokussierung auf Erfahrung letztlich dazu dient, klassische dogmatische Positionen in die paulinischen Texte zu reinskribieren.

Begrüßenswert ist, dass G. den Aspekt der Macht eigens berücksichtigt. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob die einseitige Betonung des "Gegenkulturellen" nicht allzu leichtfertig darüber hinweggeht, dass jedes "Gegen" das Negierte zwangsläufig in sich aufnimmt und weitertransportiert. Käme es daher nicht gerade ebenso darauf an, die Verstrickungen in die Macht aufzuzeigen, die auch einer "Spiritualität des Kreuzes" immanent sind?

Ungeachtet dieser Anfragen bleibt es jedoch das Verdienst G.s, mit der angezeigten Arbeit eine aufs Ganze gesehen eindrückliche Präsentation staurologischer Implikationen der paulinischen Argumentation vorgelegt zu haben.