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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

609 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ellis, E. Earle

Titel/Untertitel:

History and Interpretation in New Testament Perspective.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2001. XVI, 177 S. gr.8 = Biblical Interpretation Series, 54. Geb. ¬ 76,00. ISBN 90-04-12026-2.

Rezensent:

Marius Reiser

Der Band enthält 9 bereits veröffentlichte Studien in überarbeiteter Form. Sie ergänzen und vertiefen das frühere Werk des Autors über "The Making of the New Testament Documents" (Leiden 1999). Die meisten Beiträge behandeln Einleitungsfragen (Datierung der neutestamentlichen Schriften, Pseudonymität, Entstehung der Pastoralbriefe), außerdem die Frage der Mitarbeiter des Paulus, die Bedeutung des Ausdrucks "Ende der Erde" in Apg 1,8 - nach E. ist damit "almost certainly" Gades (heute Cádiz) gemeint (60) -, die Deutung der Bibel in der Bibel selbst, die Deutung der Bibel durch Jesus und die Wurzeln der paulinischen Christologie in vorgeformten Traditionen.

E. meint, man könne apostolische Briefe nicht als Pseudepigraphen qualifizieren, sie damit dem Odium der Fälschung aussetzen und sie dann trotzdem ohne Weiteres für kanonisch halten (29). Nun ist es richtig, dass in der Alten Kirche Schriften ihre Autorität sofort einbüßten, wenn ihre Pseudonymität erwiesen war. Andererseits zeigt das Beispiel des Hebräerbriefs, dass seine Kanonizität verteidigt werden konnte, auch wenn man nicht von paulinischer Verfasserschaft ausging. Entscheidend war der Gehalt, nicht der Autor. Und über die Authentizität des Gehalts (und damit den Kanon) entscheidet die Kirche. Das ist jedenfalls die katholische Sicht, die E.s Problem nicht hat.

Dieses dogmatische Problem hat E. aber offensichtlich mitbewogen, eine historische Frage zu entscheiden: die Herkunft der Pastoralbriefe. Sie sind nach E. von Paulus und mit Hilfe eines Sekretärs geschrieben, dem er in diesem Fall etwas mehr Freiheit ließ. Daraus folgt die Annahme, dass Paulus nach seinem ersten römischen Prozess freigesprochen wurde, ziemlich erfolglos in Spanien missionierte, in den Osten zurückkehrte und 67 den Märtyrertod in Rom erlitt (65-83). Gegen diese These spricht schon die Tatsache, dass derartige Freiheiten für Sekretäre in der Antike nicht bezeugt sind; nur in alltäglichen Angelegenheiten ließ man sie selbständig formulieren.

Auch die Annahme, dass Matthäus und Johannes Propheten und Lehrer als Mitverfasser hatten (46), ist ganz unwahrscheinlich. Das sprachliche und literarische Profil deutet in beiden Fällen auf Autorenpersönlichkeiten.

Weiter behauptet E., im ganzen Neuen Testament gebe es keine Anspielung auf die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. (32). Ist Mt 22,7 keine? Wie soll diese Stelle sonst sinnvoll gedeutet werden?

Der interessanteste Beitrag ist der erste, der hermeneutischen Fragen gewidmet ist: "Historical-Literary Criticism - After Two Hundred Years" (1-16). Hier geht E. auf die Prämissen ein, unter denen die historisch-kritische Forschung seit J. G. Eichhorn und J. P. Gabler arbeitet. Sie haben sich zu einem guten Teil als Illusionen erwiesen. Das gilt etwa vom Glauben an die eigene Vorurteilslosigkeit und von der Annahme, man könne durch literarische Analysen zu allgemein anerkannten historischen Rekonstruktionen gelangen und dabei die ewig gültigen Wahrheiten von den zeitbedingten Elementen reinigen. Historische Rekonstruktion ist jedoch unausweichlich der Subjektivität ausgeliefert. Wer keine kirchlichen Vorurteile hat, der hat eben unkirchliche. Die Jesusforschung erkannte: "The historical Jesus was inevitably the historian's Jesus. All such reconstructions are necessarily interpretations since history, in this sense, is itself interpretation" (7, mit Hinweis auf B. Lonergan). Es bleibt uns doch nur der Jesus, den uns die Evangelien bieten, d. h.: der Jesus der Kirche. Im Nachhinein zeigt es sich, dass Th. Zahn und J. B. Lightfoot bessere Historiker waren als F. Ch. Baur, weil sie weniger in philosophischen Vorurteilen befangen waren (8). Im Übrigen werden wir die Schrift nur mit Hilfe des Hl. Geistes richtig verstehen (15 f.). Und, so möchte der Rez. hinzufügen, mit einem Grundvertrauen in die kirchliche Tradition, der diese Schriftensammlung entstammt.