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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

607–609

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Brocke, Christoph vom

Titel/Untertitel:

Thessaloniki - Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus. Eine frühe christliche Gemeinde in ihrer heidnischen Umwelt.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. XIII, 310 S. m. 9 Abb. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe, 125. Kart. ¬ 59,00. ISBN 3-16-147345-0.

Rezensent:

Rudolf Hoppe

Nach dem eindrucksvollen Opus P. Pilhofers zu Philippi (Philippi - Band I: Die erste christliche Gemeinde Europas [WUNT 87], Tübingen 1995; Bd. II: Katalog der Inschriften von Philippi [WUNT 119], Tübingen 2000) hat nun sein Schüler Christoph vom Brocke eine analoge Studie zu Thessalonich (Überarbeitung seiner 1999 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald angenommenen Dissertation) vorgelegt.

Der Vf. gliedert die Untersuchung in drei Teile: Einem ersten Kapitel (Thessaloniki im 1. Jh. n. Chr. [12-101]), das die Geschichte der Stadt, ihre städtebauliche Entwicklung, Wirtschaft, Gesellschaft und Bevölkerung darstellt, lässt B. im zweiten Kapitel (Paulus [103-185]) eine Verbindung paulinischer Texte des 1Thess zu den eingangs erarbeiteten Realien folgen, um schließlich im dritten Kapitel (Lukas [187-271]) die zentralen Notizen des Thessalonich-Berichtes der Apg mit den Gegebenheiten der Stadt in Beziehung zu setzen; ein ausführliches Literaturverzeichnis (einschl. Inschriftenverzeichnis) sowie Register der Textstellen, Inschriften, Orte, Namen etc. schließen die Untersuchung ab.

Von Interesse für die Gewichtung der paulinischen Mission ist der Aufstieg der Stadt zur Provinzhauptstadt Mazedoniens (45 ff). Der Vf. führt hier die archäologischen Ergebnisse und literarischen Zeugnisse zu einem in sich stimmigen Bild zusammen: Zur Zeit des Paulus dürfte Thessalonich B. zufolge maximal 40000 Einwohner gehabt haben; Handel und Verkehr blühten besonders nach der Errichtung der Via Egnatia, das Handwerk war vielfältig, der Bauwirtschaft kam insbesondere der Status als Provinzhauptstadt zugute (74-85). Die Bevölkerung setzte sich aus alteingesessenen Thrakern, Griechen/Makedonen und Römern zusammen, wobei das griechische Element trotz der zunehmenden römischen Bevölkerung dominant blieb. Wenn Paulus die Ausstrahlung der mazedonischen Gemeinde rühmt (1Thess 1,8), entspricht das durchaus der überregionalen Bedeutung der Stadt (104-113); auch die paulinische Rede von der Abkehr der Thessalonicher von den Götzen und der Hinwendung zu dem einen Gott ist im pluralen religiösen Milieu der mazedonischen Stadt zu verorten (114-142). Die "Apologie" 1Thess 2,1 ff. stellt der Vf. in den weiteren Zusammenhang des bunten Spektrums von Philosophen und Poeten in Mazedonien, um Paulus sich von ihnen bewusst abgrenzen zu lassen (145-152); die "Mitbürger" (symphyletai) 1Thess 2,14b, die die christlichen Thessalonicher bedrängen, sind Heiden aus den Phylen der Stadt, mit denen die Christen religiös in Konflikt gerieten (155-166). Auch die Parole "Frieden und Sicherheit" (1Thess 5,3) steht in Zusammenhang mit den politischen Beziehungen der Gemeinde: Entgegen der Hypothese einer Herleitung der Parole aus dem AT (Jer 6,14 LXX) handelt es sich bei ihr um den Anspruch der Pax Augusta, die eine betont romfreundliche Stimmung in Thessalonich erzeugte - das kann der Vf. inschriftlich und literarisch gut belegen; ihr setzt Paulus seine Sicht im Blick auf das baldige Kommen Jesu entgegen (170-185).

Im Zusammenhang Apg-Thessalonich bescheinigt der Vf. dem Autor der Apg durchweg zuverlässige Darstellungen: Lk schildert die Beröa-Episode zuverlässig (Apg 17,10). Auch die lk Notiz von Juden in Thessalonich lässt sich begründet annehmen (Philo, leg Gai). Die wenigen in Apg 17,5-9 bzw. 20,4 genannten Personen sind nur annäherungsweise zu beschreiben: Jason ist ein relativ wohlhabender Bürger, Aristarch und Secundus sind heidenchristliche Paulusbegleiter (234-250). Der Apg 17,5 genannte demos ist inschriftlich belegt, aber nicht mit der Volksmenge (ochlos) zu verwechseln, sondern ist am ehesten die Volksversammlung im juristischen Sinne. Zuverlässige Detailkenntnis des Apg-Verfassers weist B. in der Frage der Politarchen nach. Diese inschriftlich breit bezeugte Institution hatte "administrative und exekutive Funktion" (261), aber auch gerichtliche Kompetenz. Schließlich kann der Vf. für das labontes to ikanon (Apg 17,9) eine Kaution vermuten, die Jason zur Auslieferung der Missionare Paulus und Silas an die Behörden verpflichtet habe, dem Jason aber nicht nachgekommen sei. Die Flucht von Paulus/Silas habe gelingen können, weil die Stadt Thessalonich Mitte des 1. Jh.s über kein "lückenloses Befestigungssystem verfügte" (271).

Wenn der Vf. sich die Aufgabe gestellt hatte, "ein möglichst plastisches Bild von der Gestalt und dem Leben der Stadt Thessaloniki in den Tagen des Apostels Paulus zu zeichnen" (5), ist das als voll und ganz gelungen zu bezeichnen. Der Ertrag der Studie liegt in vier Punkten:

Erstens in einer umfassenden, detaillierten Aufarbeitung der literarisch-inschriftlichen und archäologischen Quellenlage zur Stadt Thessalonich und der Provinz Mazedonien. Zweitens kann der Vf. Thessalonich als Metropole Mazedoniens darstellen, die für das Konzept der paulinischen Mission wie geschaffen war und angesichts der Vielfalt ihres geistigen Lebens andererseits die aus 1Thess 2,1-10 erschließbare Schwierigkeit der Vermittlung der paulinischen Botschaft erahnen lässt. Drittens kann der Vf. zeigen, welch genaue Detailkenntnisse hinsichtlich der realpolitischen und administrativen Verhältnisse der Verfasser der Apg hatte. Das nötigt auch auf dem Hintergrund der Philippi-Forschungen Pilhofers zur erneuten Frage nach Lk als kenntnisreichem Paulus-Darsteller. Viertens ist der Nachweis B.s, dass Paulus es in Thessalonich weitgehend mit heidnischen Griechen zu tun hatte (Zuweisung der symphyletai), dass er auf die Ansprüche der Pax Romana reagierte (1Thess 5,3) und dass die Gemeinde von den Griechen bedrängt wurde (2,14), für die Auslegung des 1Thess von Bedeutung. Das Bild der jüdischen Synagoge, das die Apg zeichnet, findet denn auch im Brief selbst keine Bestätigung.

Fraglich erscheint mir, ob Paulus in 1Thess 4,3 mit seiner Mahnung zur Heiligung auf den Kabirenkult Bezug nimmt (121). Schon eher leuchtet mir der schon von K. Donfried vorgeschlagene Bezug von 1Thess 5,6-8 auf Praktiken im Zusammenhang mit den Dionysosfesten ein. Die Dionysosfeiern waren im hellenistischen Raum verbreitet und Paulus wohl bekannt, der Kabiruskult ist dagegen auf Thessalonich und Samothrake begrenzt; es ist deshalb nur schwer vorstellbar, dass Paulus bei seinem relativ kurzen Auftreten in Thessalonich eine eingehende Kenntnis dieses Kultes erhalten hat.

Das ist aber eine eher marginale Anfrage. Die Studie B.s führt die Forschung zum 1Thess zweifellos ganz erheblich weiter und ist für jede Beschäftigung mit diesem frühesten Paulusbrief unerlässlich. Mit der grundlegenden Arbeit Pilhofers zu Philippi und der vorliegenden Untersuchung B.s ist die Erforschung des mazedonischen Urchristentums ein gewaltiges Stück vorangekommen.