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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

598–600

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Boccaccini, Gabriele

Titel/Untertitel:

Roots of Rabbinic Judaism. An Intellectual History, from Ezekiel to Daniel.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2002. XVIII, 230 S. m. 1 Kte. gr.8. Kart. US$ 24,00. ISBN 0-8028-4361-1.

Rezensent:

Markus Öhler

Nach den beiden Monographien "Middle Judaism. Jewish Thought, 300 B.C.E. to 200 C.E." (1991) und "Beyond the Essene Hypothesis" (1998) legt B. nun den ersten Band seiner Rekonstruktion der Entstehung des rabbinischen Judentums vor.

Das Buch enthält vier Hauptkapitel ("The Rise of Zadokite Judaism", "Zadokite Judaism and Its Opponents", "The Rapprochement between Zadokite and Sapiential Judaism" und "Daniel: A Third Way between Zadokite and Enochic Judaism"). Vorgeschaltet ist eine Einleitung, am Ende finden sich Zusammenfassung sowie Literatur- und Autorenverzeichnis.

Die Rekonstruktion, die B. hier vorlegt, ist spannend zu lesen und eröffnet eine neue Sicht dieser entscheidenden Phase jüdischer Geschichte. Das so entstandene Gebäude aus Theorien und Hypothesen lädt zum Eintreten ein:

In der Einleitung (1-41) widmet sich B. u. a. der Frage, worin eigentlich das einigende Band des Judentums bestünde. Er will eine Geistesgeschichte schreiben, in der alle Glaubenssysteme, die sich als "set of monotheistic belief systems associated with the deity named YHWH" verstehen lassen, als Judentum bezeichnet werden (also auch das Christentum!). Von Beginn an gab es - so B. - freilich verschiedene Zweige ("Judaisms", 36), von denen für die Entwicklung des rabbinischen Judentums das zadokidische, das henochitische und das weisheitliche Judentum von Bedeutung waren. Diesen Weg historisch aufzuzeigen, ist Anliegen dieses Buches, wobei der kritische Leser freilich erstaunt ist, wie sehr B. davon überzeugt ist, von philosophischen und theologischen Voraussetzungen frei zu sein (41).

B.s erstes Augenmerk liegt beim priesterlichen Zweig des Judentums (43-72). Die Auseinandersetzungen am Ende des babylonischen Exils führten, so B., dazu, dass die königliche Macht sukzessive zugunsten der priesterlichen Position zurückgedrängt wurde. Der Tempel wurde in die geistige Mitte Israels gestellt. Die Etablierung der Zadokiden als führendes priesterliches Geschlecht führte zur Zurückdrängung anderer Familien. Die zadokidische Priesteraristokratie und die durch sie gestaltete Gesellschaft sind - so B. - die Wurzel des rabbinischen Judentums (72). Ihre Theologie ist geprägt von einem kosmischen Ordnungsdenken, das die gesellschaftlichen Zustände, geographische Konzepte (Jerusalemzentrismus) und den Zeitablauf (Kultkalender) normierte (73-82). Die Priester waren verantwortlich für die Aufrechterhaltung dieser Ordnung und gaben die entsprechenden Regeln vor (Bund und Tora).

Doch es gab auch andere Positionen (82-111), vor allem die henochitische Theologie sowie das weisheitliche Judentum. Während aber Letzteres im Laufe der Zeit einen versöhnlichen Weg mit der priesterlichen Theologie fand, blieb ersteres bis hin zu "Essenismus" und Christentum(!) in Opposition. Theologisch macht B. dies an folgenden Punkten fest: Die Henochliteratur (hinter der B. eine eigene Gruppe sieht) gehe von chaotischen Zuständen aus, die durch den Frevel der Wächter verursacht wären; die Tora und ihre Einhaltung spielten keine Rolle. Die eschatologische Erwartung widerspräche dem Gedanken einer ewigen Ordnung. Henoch stehe als priesterliche Gestalt über den irdischen Priestern (er spielt freilich in Jub, TestXII und 4Esr keine Rolle!).

Und schließlich sei die Frage des Kalenders ein Differenzpunkt. Im Ganzen mag dies vielleicht für das Wächterbuch zutreffen, für die gesamte Henochliteratur wird man die Differenz zur zadokidischen Theologie nicht so scharf ziehen können. Nach B. entstand die henochitische Bewegung übrigens nicht als Gegenbewegung zum Hellenismus, sondern bereits im 4. Jh. (102): Priesterliche Familien, die nach dem Exil an den Rand gedrängt wurden, stünden am Anfang dieser Position, wären aber selbst Teil der Aristokratie gewesen.

In Kap. 3 widmet sich B. dem Kompromiss zwischen zadokidischem und weisheitlichem Judentum (113-150). Hier werden die Entwicklungen in hellenistischer Zeit bis zu den Makkabäern dargestellt, vor allem im Blick auf die Einbindung der Tobiaden in die Priesteraristokratie. Kohelet, Tobit und Jesus Sirach illustrieren die Integration von Weisheit und priesterlicher Theologie. Die Machtergreifung durch Josua nimmt schließlich der zadokidischen Aristokratie ihre Legitimität, zumal damit die Hellenisierung vorangetrieben wird.

Mitten in der makkabäischen Krisenzeit entwickelt sich mit dem Buch Daniel aber ein dritter Weg (163-201). Daniel wird von B. scharf vom henochitischen Judentum abgegrenzt (168), die Verbindungen zur zadokidischen Theologie wären sehr viel enger. Dies nachzuweisen, gelingt m. E. nicht überzeugend: Die Erwartung einer eschatologischen Wende, die Auferstehungshoffnung, die apokalyptische Stimmung binden Daniel und Henoch sehr viel enger zusammen, als B. meint. In seiner Rekonstruktion stellt jedoch Daniel den ersten protorabbinischen Text dar (207).

So weit die Thesen B.s im Abriss. Er legt einen konzisen Versuch vor, historische und theologische Entwicklungen von der persischen bis zur makkabäischen Zeit zu ordnen. Eine Reihe von Einzelfragen können völlig anders beantwortet werden, manche Konstruktionen - etwa die Existenz eines henochitischen Judentums - erscheinen problematisch, doch stellt B.s Arbeit einen Ansatz dar, an dem historische und theologiegeschichtliche Studien des Judentums nicht vorbeigehen sollten.