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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

594–596

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Krawczack, Peter

Titel/Untertitel:

"Es gibt einen Gott, der Richter ist auf Erden!" (Ps 58,12b). Ein exegetischer Beitrag zum Verständnis von Psalm 58.

Verlag:

Berlin-Wien: Philo 2001. XIV, 495 S. gr.8 = Bonner Biblische Beiträge, 132. Geb. ¬ 73,60. ISBN 3-8257-0259-6.

Rezensent:

Klaus-Peter Adam

P. Krawczack will mit seiner Dissertation über Ps 58, betreut von F.-L. Hossfeld (Bonn), einen Beitrag zur Diskussion um das "Ärgernis der Gewalt in der Bibel und in den sog. Fluchpsalmen" leisten (1). Angeregt ist die Untersuchung durch die Ausscheidung dieses und anderer Fluchpsalmen (Pss 83; 109) sowie weiterer 59 Psalmverse aus der Liturgia Horarum durch das Vatikanum II - nach K. auf der Grundlage einer "problematischen Bibelhermeneutik" (8). Ps 58 eignet sich als exemplarischer Text für die Untersuchung wegen der Verdichtung metaphorischer Feindschädigungsaussagen in V. 7-11. Zunächst untersucht K. die crux interpretum von V. 2 (15-23). Eine Schwierigkeit ist die Wiedergabe von la. Nach Durchsicht der Lösungsvorschläge entscheidet sich K. dafür, mit F. Hitzig die Lesart von M beizubehalten und übersetzt V. 2a: "Ist es wirklich so, dass ihr Stillschweigen des Rechten redet ...?" (82.106). Der Arbeitsübersetzung von Ps 58 nach M folgt eine Übersetzung des Textes nach LXX (107 f.). Neben der Klärung der textlichen crux in V. 2 ergeben sich für K. aus der Forschungsgeschichte folgende Fragen: Kann Ps 58 nur ausgehend von Ps 82 verstanden werden? Ist auf Grund des Perspektivenwechsels zwischen V. 2 f. (Anrede der menschlichen Richter) und V. 4 (Wort über die Frevler in 3. Person) mit Seybold/Zenger ein Wachstum des Psalms anzunehmen? Muss mit H. Gunkel/N. Nicolsky für die Fluchworte in V.8-10 (Zerfließen wie stolz einhergehende Wasser; sich Auflösen wie eine Fehlgeburt) ein "magischer Hintergrund" angenommen werden? Welche hermeneutischen Probleme bringt das "emotionale(s) Crescendo" am Ende des Psalms, die Aussage von V. 11, mit sich - der Gerechte "badet seine Tritte im Blut des Frevlers"? Und ganz grundsätzlich will K. der Frage nachgehen: Kann man einen "Fluchpsalm" heute beten? (43) Um diese Fragen zu beantworten, wird der Psalm mit einem komplexen Methodeninstrumentarium bearbeitet.

Überlegungen zur Textentwicklung (60-108), strukturanalytische Arbeitsschritte (109-168) und eine gründliche Analyse der Textbedeutung (169-327) führen zu einer auf dieser Basis erstellten Übersetzung (327 f.). Eine überlieferungs- und traditionsgeschichtliche Einordnung (334-359) folgen. Im Einzelnen ergeben die Untersuchungen u. a.:

- Das Oxymoron "Verstummen des Rechten reden" (V. 2a) meint, dass das Rechte "nicht zur Geltung gebracht" wird, indem eigentlich nichts gesagt wird, obwohl gesprochen wird, so "dass eine Verfälschung des Reden des Rechten" stattfindet (193).

- Die in V. 2 f. genannten Verfehlungen sind "empirisch wahrnehmbares Unrecht, soziale Missstände und blutige Gewalttat" und beziehen sich zugleich auch auf die "grundlegende Haltung des angeredeten Kollektivs" (376).

- yrvymnbN fpv in V. 2b ist "deutlich forensischer bzw. juridischer" zu verstehen als V. 2a (208).

- Mit dem Wechsel zur 3. Person in V. 4 wechselt der Psalm von eher statischer Metaphorik zur "Abbildung substantieller Handlungen" (376).

- Das "prospektiv imperativisch formulierte[n] Zentrum des Psalms (V. 7)" greift das "Leitthema Gottes Handeln" auf (377). Der Inhalt der "Bitte oszilliert zwischen weisheitlicher Maulmetaphorik ... und Schlangen- und Löwenmetaphorik" (377).

- V. 8-10 nehmen Vergleiche aus den Versen 5 f. auf und das Bild der Töpfe in V. 10 spielt auf JHWHs forensisches Handeln an, vgl. V. 2 f. (378).

- V. 12 verdeutlicht mit der Aussage, dass Gott Richter auf der Erde ist, dass die eingesetzten Richter JHWH gegenüber verpflichtet sind (379).

Mit seinem Motiv JHWHs als Richter (vgl. 349-358) verortet K. Ps 58 im Spannungsfeld "zwischen Ps 7 und den JHWH-Königspsalmen sowie in der Nähe der Asafpsalmen" (375). Zugleich füge sich Ps 58 "mit seiner Frevler-Gerechten-Antithetik und der Gruppe der Menschen(kinder) auch in die soziale Krise des 5. Jh.s" ein; vgl. ferner die Bezüge zu Jes 59,1-21; Jer5,26-29 (375; vgl. 335-340). Form- und gattungskritische Überlegungen (360-374) führen K. zur Ablehnung einer Gattung der Fluchpsalmen. Anstatt den Psalm als Ganzen einzuordnen, will K. daher die in den Psalmen enthaltenen Bestrafungselemente kennzeichnen (364). K. ordnet Ps 58 mit E. Gerstenberger innerhalb der weisheitlichen Psalmen den communal instructions zu (372-374), die "der Erziehung und Orientierung in einer synagogalen oder familiären Gemeinschaft" dienten bzw. "eine Perspektive auf Hoffnung und Befreiung" eröffneten (375). In Aufnahme einer Kategorie von F. Stolz und mit M. Krieg versteht K. den Psalm als "nachkultisches Weisheitslied" (372.375). Es folgen kompositionskritische Überlegungen zur Einbettung in der Folge von Klagepsalmen 51-64, in die "tkm-Gruppe" 56; 57; 59; 60 (380-406); redaktionsgeschichtliche Fragestellungen (407-418) sowie eine Datierung zwischen der spätvorexilischen Zeit und dem 5. Jh., als die Asafsammlung vorlag (419). Eignen sich Feind- und Rachepsalmen für die Liturgie oder als Quelle christlicher Spiritualität? K. plädiert in Auseinandersetzung mit E. Zenger dafür, Feind- und Rachepsalmen in ihrem geschichtlichen Kontext zu verstehen (420 f.). JHWHs qn-Handeln hat nicht, wie Ps 58 mit der inclusio der V. 2 f.11 f. zeigt, hasserfüllte Vergeltung im Blick, sondern will Recht und Gerechtigkeit durchsetzen. Eine reflektierte Hermeneutik der Feind- und Rachepsalmen verbiete es, diese Psalmen vorschnell abzulehnen (442). Ein Anhang mit Schaubildern (456-460), Literaturverzeichnis (463-491) und ein Stellenregister (492-495) schließen die ausführliche Arbeit ab.

Zu Recht plädiert K. (auch bei der Diskussion um die Textgrundlage in V. 2) dafür, dass Ps 58 gegenüber der Vorstellung des Gottesgerichtes in Ps 82 eigenständig sei (59). Besteht aber nicht eine traditionsgeschichtliche Nähe von Psalm 58 und Ps 82 darin, dass die Verwirklichung von Gerechtigkeit in beiden Texten an JHWHs Richten als Maßstab hängt? Bildet insofern die Rede von Gott als Richter (V. 11 f. mit der inclusio zu V. 2 f.) nicht sachlich die zentrale Metapher von Ps 58, der die übrigen zugeordnet werden (vgl. die Nebeneinanderstellung 134-148)?

Anschaulich reflektiert K. die Hermeneutik der Feind- und Fluchpsalmen und die aktuelle liturgische Praxis. Spannend wäre hier möglicherweise noch ein Blick über den Kontext europäischer Theologie des 20. Jh.s hinaus in die Rezeptionsgeschichte von Ps 58 - z. B. ins christliche Liedgut (vgl. die beeindruckende Vertonung von H. Schütz) oder in die befreiungstheologische Bibellektüre bzw. Liturgie.