Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

593 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hauge, Martin Ravndal

Titel/Untertitel:

The Descent from the Mountain. Narrative Patterns in Exodus 19-40.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 2001. 362 S. gr.8 = Journal for the Study of the Old Testament Supplement Series, 323. Geb. £ 56,00. ISBN 1-84127-177-2.

Rezensent:

Jan Christian Gertz

Die Sinai-Texte des Buches Exodus gehören fraglos zu denjenigen Texten des Alten Testaments, die sich einer allseits zustimmungsfähigen Analyse entziehen. Gerade weil nahezu alles, was für Israels Identität von Bedeutung war oder doch zumindest Bedeutung beanspruchte, nur am Sinai legitimiert und autorisiert werden konnte, sind die literarhistorischen Verhältnisse so unübersichtlich, dass dieser Abschnitt der Tora ebenso wie die Vielzahl seiner konträren Analysen häufig nur noch als heillos verworren wahrgenommen werden.

Was die an der Entstehungsgeschichte der alttestamentlichen Texte interessierte Forschung in die Verzweiflung treiben kann, mag sich für eine am Endtext orientierte Exegese hingegen als besondere Herausforderung und Chance herausstellen. Frei von der Nötigung einer entstehungsgeschichtlichen Erklärung von Textbeobachtungen können die bekannten Inkohärenzen des Textes als Ausdruck literarischer Gestaltungskraft interpretiert werden. Die anzuzeigende Monographie des in Oslo wirkenden Alttestamentlers Martin Ravndal Hauge unterzieht die Sinai-Texte in Ex 19-40 einem derartigen "close reading" und findet in Lücken ("gaps") und Inkonsistenzen ebenso wie in intertextuellen Bezügen, Wiederholungen, Parallelen, Analogien und Juxtapositionen Indizien für eine literarische Makrostruktur des Textes, die auf den "creative genius" eines Editors zurückgeht, der sich darum bemüht habe, mit Hilfe von "narrative patterns" die übernommene Tradition und ihre gegenwartsbezogene Interpretation zusammenzubringen. Bestimmt ist die von H. in Ex 19-40 erkannte Makrostruktur durch die Abfolge von drei Episoden, in denen eine Theophanie Gottes von zentraler Bedeutung ist: Ex 19,1-24,2; 24,3-34,35; 35,1-40,38. Jede dieser Episoden weist den gleichen dreistufigen Aufbau auf. Am Beginn stehen Vorbereitungen, die Mose und das Volk betreffen, es folgen der Aufstieg auf den Berg und die jeweilige Gottesbegegnung, den Schluss bildet der Abstieg vom Berg, der in eine Szene mit Mose und dem Volk überführt. Die jeweilige Abschlussszene führt in die nächste Episode über, deren Eröffnung den gebotenen Faden aufnimmt. Letzteres gilt auch für den Übergang von Ex 40,36-38 zum Buch Levitikus. Die gemeinsame Struktur wird in den einzelnen Episoden variiert und narrativ erweitert, wobei das spannungsreiche Neben- und Nacheinander des Berges als Ort außerordentlicher Gottesbegegnung und der von Menschenhand verfertigten Stiftshütte als Ort gegenwärtiger Gottespräsenz besondere Aufmerksamkeit verdient. Sie sind im Auf und Ab durch den Mittler Mose verbunden, der mit Gott auf dem Berg und an seinem Fuße im Zelt der Begegnung mit Gott spricht. In diese "main story", deren Kohärenz H. durch konzeptionelle Gemeinsamkeiten mit Ps 24 bestätigt findet, ist Ex 32-34 als "parallel story" mit zweifacher Funktion eingebunden: Während die Gegenwart Gottes nach Ex 40 in der Stiftshütte aufgenommen wird, wobei Mose der Zugang verwehrt bleibt, manifestiert sie sich nach Ex 34 im Angesicht des hinabsteigenden Mose. Die Episode vom Goldenen Kalb dokumentiert hingegen die negativen Entwicklungsmöglichkeiten der Beziehung zwischen Gott, Mose und dem Volk und dem mit der Einwohnung der Herrlichkeit Gottes in der Stiftshütte angesprochenen Konzept einer irdischen Gegenwart Gottes.

Die Untersuchung lebt von der Detailfülle ihrer Textbeobachtungen und der konsequenten Gleichzeitigkeit, mit der die Texte in Beziehung gesetzt werden. Auf eine eigenständige methodische Grundlegung wird allerdings verzichtet. Stattdessen bekennt H. seine Nähe zu Arbeiten von H. Ch. Britcho, R. W. L. Moberly und B. S. Childs. Ihnen sei gemeinsam "a basic discipline of reading that both accepts the coexistence of seemingly disparate elements in the text and strives to absorb these elements in the order indicated by the textual organization" (17).

Unverkennbar ist der Einfluss literaturwissenschaftlicher Arbeiten zu alttestamentlichen Erzähltexten von R. Alter und M. Sternberg. Doch auch die traditionelle, historisch fragende und arbeitende Exegese kommt als Lieferantin von Textbeobachtungen zu ihrem vermeintlichen Recht. Schöpft H. vorderhand nur aus dem reichen Reservoir von Textbeobachtungen, so ist dieses Vorgehen doch nicht ganz unproblematisch. Die Textbeobachtungen literar- und redaktionskritischer Analysen stehen nun einmal in einem bestimmten literarhistorischen Referenzrahmen, den es zu berücksichtigen gilt. Vor allem aber fragen redaktionsgeschichtliche Arbeiten auch nach der Intention der Redaktoren, mithin konzentrieren sie sich auch unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten immer auf die Textproduktion durch den Autor/Redaktor. Die redaktionsgeschichtliche Arbeit ist auf diese Weise sehr nahe bei der Frage nach dem "creative genius" der Editoren des jeweiligen Endtextes, meint diesen aber nur mit Blick auf die Entstehungsgeschichte, den Eigenanteil der Editoren sowie Art und Umfang des redigierten Materials präzise fassen zu können.

Dieser Aspekt exegetischer Arbeit, der nach Meinung des Rez. die sachlichen Kriterien bereitstellt, um die aus den Textbeobachtungen abgeleiteten Strukturen, Textabgrenzungen und "narrative patterns" auch als text- und sachgemäß zu beurteilen, bleibt bei H. beinahe gänzlich unberücksichtigt. Doch selbst wer sich von der Frage nach der Entstehungsgeschichte der Texte dispensiert, wird zu berücksichtigen haben, dass die in der alttestamentlichen Exegese rezipierten literaturwissenschaftlichen Ansätze nicht alle miteinander kompatibel sind: Unbeschadet ihrer synchronen Ausrichtung sind etwa der streng textorientierte New Literary Criticism und der leserorientierte Reader-response Criticism gegenläufige Verstehensmodelle, was sich eben auch auf das Wahrnehmen, die Darstellung und die Bewertung von Textbeobachtungen auswirkt. In diesem Sinne beinhaltet die Überschrift des abschließenden Kapitels der Untersuchung "The Reader as Whore and Potential Saint" viel Diskussionsstoff.