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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

589–591

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Brandt, Peter

Titel/Untertitel:

Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel.

Verlag:

Berlin-Wien: Philo 2001. 493 S. m. Abb. u. Tab. gr.8 = Bonner Biblische Beiträge, 131. Geb. ¬ 48,50. ISBN 3-8257-0258-8.

Rezensent:

Hans-Christoph Schmitt

Unter dem Stichwort "kanonische Bibelauslegung" ist in der alttestamentlichen Wissenschaft des letzten Jahrzehnts heiß über die Frage diskutiert worden, inwieweit der Abfolge der biblischen Bücher kanonische Bedeutung zukommt und inwieweit hier zwischen einem spezifisch jüdischen und einem spezifisch christlichen kanonischen Aufbau des Alten Testaments unterschieden werden kann. Die Diskussion litt allerdings darunter, dass ihr jeweils vorgefasste idealtypische Vorstellungen vom Aufbau der jüdischen Bibel (Tenak) und der Septuaginta als "christlichem Alten Testament" zu Grunde gelegt wurden. Es ist das Verdienst der vorliegenden von Frank-Lothar Hossfeld betreuten und im Wintersemester 2000/01 angenommenen Bonner katholisch-theologischen Dissertation, dass sie die historischen Befunde für das "Arrangement der Schriften Israels" in der Zeit von Jesus Sirach bis zu den Bibeleditionen der Gegenwart - sowohl für das Judentum als auch für die verschiedenen christlichen Konfessionen - in ihrer meist sehr unübersichtlichen Vielfalt entfaltet und damit einen wesentlichen Beitrag zu einer "Entideologisierung" der Debatte des letzten Jahrzehnts leistet.

Im Mittelpunkt des umfangreichen Werkes steht ein "Historischer Teil" (43-382), der die Bücheranordnungen der Hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments in der "Frühzeit" (2. Jh. v.Chr. bis 3. Jh. n. Chr.), in der "Jüdischen Tradition", in der "Tradition der griechischen Bibel (Septuaginta)", in den "syrischen Traditionen", in der "lateinischen Tradition bis zum 15. Jh." und in der Neuzeit ("Einschnitte" der Reformation, Katholische Reaktion: Trient, Ausgaben seit der Gegenreformation, Auflösungserscheinungen in der Gegenwart?) behandelt. Gerahmt wird dieser Hauptteil des Buchs durch eine "Bibeltheologische Vorbereitung" (19-42), die vor allem das Problem der Bücheranordnung als "Leseanleitung" thematisiert, und eine "Bibeltheologische Nachbereitung" (383-441), in der die "theologischen Implikationen" der historischen Befunde diskutiert werden.

Aus dem äußerst materialreichen historischen Hauptteil der Arbeit können hier nur einige wenige zentrale Ergebnisse der Untersuchung referiert werden. Allgemein ist festzuhalten, dass die Christen "die Schriften, die sie mit den Juden in ihrer Heiligen Schrift teilen, weniger klar klassifiziert und geordnet" haben als das Judentum (351). Im Judentum hat sich nämlich eine "relativ klar strukturierte Bibel durchgesetzt, deren Arrangement die Wertschätzung der Teile und gleichzeitig ihre liturgische Nutzung herausstellt" (347). Typisch für das Judentum ist eine strenge Differenzierung zwischen den drei Kanonteilen Tora, Propheten und Hagiographen. Dies zeigt sich vor allem am liturgischen Gebrauch, bei dem nur der Pentateuch als Teil der verpflichtenden Offenbarung an Mose ganz durchgelesen wird, während aus den Propheten nur eine Auswahl und aus den Ketubim (mit Ausnahme der "Festrollen", die zwar an den Festen verlesen werden, aber nicht zur Schriftlesung im engeren Sinne gehören) nichts zur liturgischen Verlesung kommt. Allerdings hat die Sondersituation bei den "Festrollen" (Megillot) dazu geführt, dass bei den ersten gedruckten hebräischen Vollbibeln aus der Zeit von 1488 bis 1525 die Megillot direkt hinter dem Pentateuch eingeordnet sind (vgl. 136).

Entsprechend kennt die jüdische Tradition bei der Tora keine Änderungen in der Bücherfolge. Die Propheten zeigen nur Differenzen hinsichtlich der Stellung von Jesaja (das Buch steht gelegentlich auch nach Jeremia bzw. nach Ezechiel). Dagegen werden die Hagiographen in recht unterschiedlicher Weise angeordnet. Besonders zu erwähnen sind hier einerseits die westliche oder palästinische Ordnung der Ketubim mit der Chronik am Anfang und den Festrollen als Gruppe in der Mitte und andererseits das vom babylonischen Talmud vertretene Arrangement nach z. T. chronologischen Überlegungen mit den Chronikbüchern am Ende. In den jüngeren Ausgaben setzte sich schließlich eine Mischung zwischen den beiden Traditionen durch, bei der die Festrollen als Gruppe zusammengestellt sind und die Chronikbücher an den Schluss der Ketubim treten (350).

Herausgebildet hat sich die dreiteilige Struktur des jüdischen Kanons nach Meinung des Vf.s wahrscheinlich erst in nachneutestamentlicher Zeit. Entgegen der Auffassung von Roger T. Beckwith können dem Prolog des griechischen Sirachbuches und den Schriften des Josephus "nur Indizien für die Herausbildung einer dreiteiligen Struktur in bestimmten Kreisen" (121) entnommen werden. Andere Kreise vertreten im 1. Jh. n. Chr. (vgl. u. a. Mt 5,17: "Gesetz und Propheten") durchaus noch die Vorstellung eines zweiteiligen Kanons, andere wie die Samaritaner und Sadduzäer sehen nur die Tora als kanonisch an.

Demgegenüber ergibt sich bei den christlichen Bibeln eine wesentlich größere Vielfalt der Bücheranordnung, u. a. auch wegen der stärkeren konfessionellen Vielfalt des Christentums. Gemeinsam ist den christlichen Arrangements des Alten Testaments nur Folgendes: Fast immer steht das Alte Testament vor dem Neuen Testament. Auch finden sich im christlichen Alten Testament durchweg folgende drei Gruppierungen: "historische Bücher", die entweder auf Pentateuch, Heptateuch (einschließlich Richterbuch) oder Oktateuch (einschließlich Buch Rut) bezogen sind (mit Anhang Samuel- und Königsbücher), Sprüche, Kohelet und Hoheslied als "salomonische Bücher" und die prophetischen Bücher im engeren Sinne, zu denen Jesaja, Jeremia (mit Zusätzen Klagelieder, Baruchbuch), Ezechiel, Daniel (mit Zusätzen) und Dodekapropheton gehören. Dabei stehen die prophetischen Bücher entweder vor den salomonischen oder nach ihnen.

Die übrigen alttestamentlichen Bücher können sich in den christlichen Bibeln an sehr unterschiedlichen Positionen finden: So wird in der syrischen Tradition (vgl. besonders den Codex Ambrosianus) das Buch Hiob direkt hinter den Pentateuch gestellt. Bei den "salomonischen" Büchern werden in der griechischen Tradition (vgl. besonders den Codex Alexandrinus) Sprüche, Kohelet und Hoheslied den Psalmen und Hiob vorangestellt, und außerdem werden die salomonischen Bücher um Jesus Sirach und Weisheit Salomos erweitert. Die lateinische Tradition (vgl. besonders den Codex Amiatinus) dagegen ordnet Hiob nicht den salomonischen Büchern zu (vgl. 354).

Bei den (auf die Schriftpropheten beschränkten) prophetischen Büchern bestehen Abweichungen im Arrangement lediglich in der Stellung des Dodekapropheton, das in der Septuaginta vor Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel steht, dagegen in der über die Vulgata vermittelten lateinischen Tradition hinter diesen Büchern. Eine Mittelposition (hinter Jesaja oder Ezechiel) findet sich schließlich bei den Syrern. Die altlateinische Tradition kennt am Schluss des Alten Testaments außerdem eine weitere Gruppe von Büchern, die mit "Historiarum" ("Erzählungen") bezeichnet wird und zu der Hiob, Tobit, Ester, Judit, Esra/Nehemia und gelegentlich auch die Makkabäer- und Chronikbücher gehören.

Die häufig geäußerte Auffassung, dass im christlichen Alten Testament im Allgemeinen eine Schlussstellung der prophetischen Bücher vorliege, bestätigt sich nicht. Eine solche Schlussstellung kann am ehesten noch in der griechischen Tradition beobachtet werden, doch auch dort eher in den Kanonlisten als in den Bibelhandschriften.

Die analoge Gliederung von Altem und Neuem Testament in gesetzliche, historische, weisheitliche und prophetische Bücher ist erst auf Bonaventura ( 1274) zurückzuführen. In der Anfang des 13. Jh.s entstandenen Pariser Universitätsbibel findet sich zwar die Aufteilung des Alten Testaments in historische Bücher, Lehrbücher und Propheten, allerdings wird hier das Neue Testament nicht nach dem Vorbild des Alten Testaments strukturiert. Die Pariser Gliederung findet - auch durch das Aufkommen der Drucktechnik - weite Verbreitung. Sie wird - unter Auslassung der Apokryphen - auch der Strukturierung des Alten Testaments in der Lutherbibel von 1534 ff. zu Grunde gelegt.

In Auswertung dieser historischen Befunde kommt der Vf. zu einer Reihe wichtiger Ergebnisse für ein kanonisches Bibelverständnis: Zum einen war die Bücheranordnung eines Kanons in der biblischen Rezeptionsgeschichte nie Grund für seine Ablehnung oder Annahme. So ging beispielsweise der Streit zwischen Hieronymus und Augustinus nicht um die Gliederung des Alten Testaments, sondern um seinen Text und seinen Umfang (381 f.). Von daher kann zum zweiten für eine kanonische Ausgabe des christlichen Alten Testaments keine feste Regelung der Bücheranordnung gefordert werden. Allerdings ergeben sich aus der historischen Kontinuität der letzten zwei Jahrtausende einige "kanonische Merkmale", von denen beim Bücherarrangement in der christlichen Tradition nicht abgewichen wurde: Dabei geht es zum einen um die Spitzenstellung des Pentateuch, zum andern um die Gruppierung von Sprüche, Kohelet und Hoheslied als "salomonische Bücher" und drittens um die Zusammenstellung von Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Daniel und Dodekapropheton (in unterschiedlicher Reihenfolge) zu den "prophetischen Büchern". Angesichts der großen Variabilität bei der Anordnung der anderen Bücher kann die kanonische christliche Tradition auf diese Merkmale begrenzt werden. Demgegenüber liegt in der jüdischen Bibel (Tenak) in Tora und Prophetenbüchern (mit Ausnahme von Jesaja) eine strenge kanonische Bücheranordnung vor, von der sich nur das variable Arrangement der "Schriften" abhebt.

Ein umfangreiches Literaturverzeichnis (442-473) und detaillierte Register (474-493) schließen das sehr materialreiche Werk ab, das sowohl ein Standardwerk zur Geschichte der alttestamentlichen Bücheranordnung bildet als auch wichtige Beiträge zur Kanongeschichte und zur "kanonischen Bibelauslegung" enthält.