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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

561–564

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Burghardt, Dominik

Titel/Untertitel:

Institution Glaubenssinn. Die Bedeutung des sensus fidei im kirchlichen Verfassungsrecht und für die Interpretation kanonischer Gesetze.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius 2002. 372 S. 8. Kart. ¬ 39,90. ISBN 3-89710-161-0.

Rezensent:

Klaus Lüdicke

Was der Vf. hier im Titel zusammenbringt, überrascht auf den ersten Blick: Ist nicht Recht, besonders das katholische Kirchenrecht, eine sehr hoheitliche, autoritäre Wirklichkeit, die einer anderen Dimension des Lebens anzugehören scheint als die Glaubensüberzeugung der Christen? Der Vf. will das Gegenteil dartun, und er tut es in einer eleganten und in sich überzeugenden Weise.

Im ersten Abschnitt des Teiles I der Arbeit, die im Sommersemester 2002 in Paderborn als Dissertation angenommen wurde, klärt der Vf. den Begriff des sensus fidei und seine Bedeutung für die Verfassung der (katholischen) Kirche. Dabei geht er erfreulicherweise nicht erst in die Theologiegeschichte zurück, sondern beginnt mit dem 2. Vatikanischen Konzil, geht dann zu einigen Theologen über (Seckler, Löhrer, Vorgrimler, Beinert, Scheffczyk, Hattrup) und stellt auf dieser Basis einen Arbeitsbegriff des sensus fidei auf: "Der übernatürliche Glaubenssinn (sensus fidei) ist eine dem einzelnen Gläubigen in seiner Zugehörigkeit zum Gottesvolk gnadenhaft innewohnende Erkenntnis- und Unterscheidungsfähigkeit in bezug auf Glaubensinhalt und Glaubensleben, die als unverfügbare, quasicharismatische Gabe des Heiligen Geistes in Taufe und Firmung begründet ist und mit der Verwirklichung der communio seines Trägers mit Gott und der Kirche graduell korreliert. Er wird unter anderem dann in der Kirche konkret wirksam, wenn Gläubige aller Stände durch ihr vielfältiges Zeugnis einen qualitativ-repräsentativen Konsens (consensus fidelium) zum Ausdruck bringen, der nicht im Widerspruch zu dem vom kirchlichen Lehramt dargelegten depositum fidei steht" (82). Man ist nach diesem Konzept gespannt, was sich damit auf der Ebene des Rechtes wird anfangen lassen.

Im zweiten Abschnitt befragt der Vf. zunächst die wenigen Autoren der Kanonistik, die den sensus fidei thematisieren. Das sind Eugenio Corecco, Rinaldo Bertolino, Richard Potz und Ilona Riedel-Spangenberger, aus deren sehr unterschiedlichen Beiträgen Burghardt 14 Sätze über die Relevanz des Glaubenssinnes für die Verfassung der Kirche extrahiert. Zitiert seien daraus diese: "Sensus fidei (und gemeinsames Priestertum) sind für das Verständnis der kirchlichen Verfassungsstruktur von erstrangiger Bedeutung, da sie den ontologischen Grundstock für die Teilhabe der Gläubigen an den tria munera Christi bilden. (Eugenio Corecco)" Die Vernachlässigung des sensus fidei im CIC sei ein Mangel im Hinblick auf die Rezeption des Konzils (nach Corecco, Bertolino und Riedel-Spangenberger). "Der in den consensus übersetzte Glaubenssinn ist das endgültige Kriterium, das letzte Ziel und die ideale Form des Lebens in der kirchlichen Ordnung. (Bertolino)" und weiterhin: "Der sensus fidei ist dauernder Faktor der Positivierung göttlichen Rechtes und damit Rechtsquelle auch des göttlichen Rechtes. (Bertolino)" und Weiteres mehr.

Der dritte Abschnitt der Arbeit ist dem sensus fidei und seiner Stellung in der kirchlichen Verfassung gewidmet. Zuerst verortet der Vf. den sensus fidei "im Gefüge von kirchlicher Konstitution und Institution", indem er ihn, der auf den Sakramenten basiere, zum Kriterium der Erkenntnis und Unterscheidung des verkündeten Wortes macht. Seine Korrespondenz mit dem Charisma zeigt der Vf. an dem Problem rechtlicher Erfassbarkeit, an der Einordnung von Dogmen und Heiligsprechungen, an der Beachtungsforderung für den Glaubenssinn und an der Verhältnisbestimmung von Communio und Consensus fidelium. Das führt ihn zur Erörterung einer "gradualitas in communione" und zu einem Exkurs über die Sobornost'-Lehre der Orthodoxie. Im Fazit hält der Vf. fest, der Glaubenssinn sei voll und ganz Element der kirchlichen Institution, aus diesem Grunde und wegen seines pneumatischen Ursprungs trage er in sich ein "Recht auf Beachtung" und entwickele sich mit dem "Besitz des Geistes Christi" in gradueller Dynamik mit dem Grad der communio seines Trägers mit Gott und der Kirche.

Im vierten Abschnitt untersucht der Vf. das Verhältnis des sensus fidei zum göttlichen und zum rein kirchlichen Recht, wobei er zunächst die Begriffe klärt. Unter der Überschrift "Sensus fidei und Kodifikation" zeigt der Vf. im fünften Abschnitt die ausdrückliche Aufnahme des Themas in den Text der geplanten, aber verworfenen Lex Ecclesiae Fundamentalis und versucht, in den Normen der kirchlichen Gesetzbücher (CIC und CCEO) Spuren der Relevanz des Glaubenssinnes zu finden. Eine explizite Berücksichtigung kann er nicht erkennen, wohl eine "zumindest implizite, wichtige Bedeutung" in den Bereichen der Pflichten und Rechte aller Gläubigen, des Vereinigungsrechts und der synodalen Strukturen der Teilkirche. Das Institut der Gewohnheit hat er an dieser Stelle ausgespart, weil es seine nähere Erörterung später finden soll.

Der zweite Teil der Untersuchung ist der "Bedeutung des sensus fidei für die Interpretation des kanonischen Gesetzes in der nachkonziliaren Kanonistik" gewidmet. Im Abschnitt VII - Abschnitt VI war die Zusammenfassung des ersten Teils - erklärt der Vf. den Begriff der Interpretation und die Interpretationslehren bei verschiedenen Kanonisten (Pree, Örsy, Gerosa), um im Abschnitt VIII der Bedeutung des sensus fidei für die Interpretation nachzugehen. Er thematisiert dabei u. a. die "Geschmeidigkeitsinstrumente" Epikie und Aequitas und berichtet über die ostkirchliche Oikonomia-Praxis. Der Abschnitt IX ist der Relevanz des consensus fidelium für die Interpretation gewidmet, und zwar unter den Stichworten "Gewohnheit - beste Auslegerin der Gesetze" und "Rezeption". Im Abschnitt X werden die Ergebnisse zusammengestellt und ein Ausblick unternommen. Die einschlägigen Verzeichnisse schließen das Werk ab.

Es ist bedauerlicherweise nicht möglich, in einer kurzen Rezension den Argumentationsgang des Vf.s adäquat nachvollziehbar zu machen. Den Leser seines Buches kann er durchaus gewinnen und überzeugen - soweit dieser sich auf den Ansatz der Münchner Schule und auf das Rechtsverständnis der communio-Theologie einlassen kann. Dass in einem Konzept, das die kanonische Rechtsordnung als ordinatio fidei versteht, der Glaubenssinn einen anderen Stellenwert gewinnt als in einem Verständnis, das das Recht als ordinatio rationis ansieht, ist leicht einzusehen. Dem Leser, der sich auf die zu Grunde liegende Gedankenwelt nicht leicht einlassen kann oder mag, stellt die Konfrontation mit der Wirklichkeit Fragen: Ist die Zurückweisung konkurrenztheoretischer Ansätze (Glaubenssinn contra Lehramt) nicht eine Flucht aus dem realen Leben der Kirche in die ideale Theorie, in die Irenisierung tatsächlicher Konflikte? Die Idee des Vf.s ist nur dann konsequent, wenn er das Lehramt genauso idealtypisch konzipiert wie den (con)sensus fidelium. Die Wirklichkeit aber ist so, zumal der Vf. für die Erkennbarkeit des sensus fidei die Billigung durch die Bischöfe verlangt, dass in der Kirche als (con)sensus fidelium nur anerkannt wird, was das Lehramt für mit seinem Denkansatz konform anerkennt. Wenn man z. B. die Bewertung des Scheiterns von Ehen und des Bemühens um einen Neubeginn mit der Kirche im Bewusstsein der Gläubigen und den Arbeiten der Theologen1 einerseits, in den "Erklärungen" der Päpstlichen Kommission für die Gesetzesinterpretation2 und der Glaubenskongregation3 andererseits in den Blick nimmt, scheint das ganze Gebilde, das der Vf. geformt hat, zu zerschellen. Es gibt allerdings in diesem Buch auch ein paar Stellen, an denen sichtbar wird, dass der Vf. um die Abstraktheit seiner These und damit um die Distanz zum gelebten kirchlichen Leben weiß.

Eine zweite Frage stellt sich: Wenn ich den Denkansatz nicht falsch verstehe, der hier zu Grunde liegt, müsste der Vf. ein anderes Rechtssystem in der Kirche fordern. An die Stelle einer hoheitlich gesetzten, universalistischen und zentralistischen Kodifikation müsste ein Recht treten, das menschennah, situationsgerecht und beweglich in den Dienst der Auferbauung der kirchlichen communio treten könnte, das damit der Huizing'schen Kirchenordnung näher wäre als den Codices der römisch-katholischen Kirche. Wenn der Vf. Coreccos Ansicht zitiert, im kanonischen Recht gehe es nicht um Rechtssicherheit im legalistischen Sinne, sondern im Sinne theologischer Gewissheit, ist er an sich auf dem Wege dahin. Nach heutiger Rechtssituation in der katholischen Kirche wird mir nur bei der Frage unwohl, wessen theologische Gewissheit den Ausschlag geben wird.

Zusammenfassend sei gesagt, dass die Arbeit ein in sich stimmiges Konzept (in guter Sprache, klaren Gedanken und mit wenigen Druckfehlern) darlegt, über dessen Prämissen man streiten kann und dem man deutlichere Konsequenzen abzufordern hätte als nur eine abstrakte "Beachtungsforderung" für den Glaubenssinn, etwa in den vom Vf. genannten Bereichen der Bestellung von Amtsträgern, der Neugestaltung des kirchlichen Rätewesens, der Formung des liturgischen Rechts, einer Ausgestaltung des Petitionsrechtes, der Anerkennung von Charismen u. a. Gegenüber dem Anliegen, auch mit dieser Arbeit einen Beitrag zum Leitthema der Münchner Schule zu leisten, nämlich der (metarechtlichen) theologischen Begründung des Kirchenrechts, sehe ich dringenderen Bedarf für die konkrete theologische Aufarbeitung dessen, was in der Kirche als Recht gilt und z. T. mit zunehmendem Behauptungsdruck in die Nähe des göttlichen Rechtes gerückt wird - etwa den oben erwähnten Ausschluss der Wiederverheirateten von der Eucharistie. Aber das eine braucht das andere nicht auszuschließen.

Fussnoten:

1) Theodor Schneider (Hrsg.), Geschieden, wiederverheiratet, abgewiesen? Antworten der Theologie, Freiburg 1995 (Quaestio disputata 157).

2) "Dichiarazione del Pontificio Consiglio per i testi legislativi" vom 24.6.2000, publiziert unter dem Datum des 6.7.2000, in: OssRom 155/ 2000 vom 7.7.2000, S. 5 (italienisch), in mehreren Sprachen verbreitet durch das Internet (dt. Fassung jetzt unter: http://www. vatican.va/ roman_curia/pontifical_councils/intrptxt/documents/rc_pc_intrptxt_doc_20000706_ declaration_ge.html).

3) Congregatio pro Doctrina fidei (Hrsg.), Sulla pastorale dei divorziati risposati, Vatikan 1998 (Documenti e studi 17).