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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

559–561

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schoppelreich, Barbara

Titel/Untertitel:

Zeichen und Zeugnis. Zum sakramentalen Verständnis kirchlicher Tradition.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2001. X, 250 S. 8 = Studien zur Traditionstheorie, 3. Kart. ¬ 25,90. ISBN 3-8258-5147-8.

Rezensent:

Josef Meyer zu Schlochtern

In der katholischen Ekklesiologie der Gegenwart herrscht weithin Konsens darüber, dass die Kirche im Anschluss an das II. Vaticanum als eine sakramentale Wirklichkeit aufzufassen sei - von Detailfragen abgesehen scheint das Thema ausdiskutiert zu sein. Daher überrascht die vorliegende, unter Anleitung des Frankfurter Systematikers S. Wiedenhofer erstellte Dissertation mit einer in dieser Gründlichkeit noch nicht bedachten Folgerung aus der These von der Sakramentalität der Kirche: Wenn die Kirche als Heilssakrament aufzufassen sei und wenn außerdem Tradition sich durch den gelebten Glauben aller Gläubigen in der Geschichte vollziehe, dann müsse man auch, so folgert die Autorin, "den theologischen Traditionsbegriff in den Kontext eines sakramentalen Kirchenverständnisses ... stellen" (7). Die These ihrer Arbeit lautet entsprechend: "Kirchliche Tradition ist sakramentale Tradition." (7). Sie wird in den vier Kapiteln dieser Arbeit differenziert erläutert und sorgfältig zu begründen versucht.

Kapitel I "Zur Fragestellung" (1-41) gibt dem Thema "Tradition" mit einleitenden Hinweisen auf die aktuelle Tradierungskrise des Glaubens zusätzliches Gewicht und bestimmt dann den Begriff des Sakramentalen von der "allgemeine[n] Zeichenhaftigkeit der religiösen Erfahrung" (24) her; im Widerspiel von Offenbarkeit und Verborgenheit Gottes verdichten sich Zeichen, in denen seine Gegenwart erfahren wird. Sakramentalität wird als Grundstruktur dieser Spannungseinheit von Gott und Welt verstanden: An und in der irdischen Wirklichkeit bringt Gott seine Gegenwart zur Erfahrung. Zur weiteren Begriffsklärung des Sakramentalen kumuliert die Autorin eine Reihe von Qualifikationen, wobei sie ein wenig in die Nähe einer Überbestimmung gerät: Sakramentalität sei eine bestimmte Perspektive, eine "fundamentale religiöse Denkform", sie bezeichne ein bestimmtes Verständnis von Mensch und Welt, akzentuiere bestimmte Inhalte des christlichen Gottesverständnisses und schließlich: "auch der Mensch ist gewissermaßen Sakrament". Die sieben Sakramente seien deren "zeichenhafte Verdichtung" (30). Von dem so gewonnenen Begriff des Sakramentalen her wird dann die Verzahnung mit dem Begriff der Tradition formuliert.

Einen Anstoß von W. Kasper aufnehmend statuiert die Autorin die sakramentale Qualität von Tradition: "Traditionszeugnisse sind vergegenwärtigende Zeichen" (34). Die spezifisch theologische Qualität der Tradition wird mit Hilfe des Begriffs des Zeugnisses formuliert: "Zeugnis konstituiert Tradition und konstituiert Kirche" (40). Vor diesem Hintergrund entfalten zwei ausgreifende Hauptkapitel die These der Arbeit, Tradition sei im Rahmen der Lebensvollzüge der Kirche selbst von sakramentaler Qualität.

Kapitel II "Die Kirche als Sakrament" (42-90) vergewissert sich zunächst des sakramentalen Kirchenbegriffs. Seine begriffsgeschichtliche Entwicklung, die Aussagen des II. Vaticanums und deren Rezeption werden referiert, wobei die Autorin besonders den Gedanken herausstellt, dass das Heilswirken Gottes im Glaubenshandeln der Kirche deren sakramentale Gestalt bestimmt. Die Vorbehalte protestantischer Theologen wie G. Maron, E. Jüngel, J. Moltmann und R. Hempelmann werden sensibel zur Kenntnis genommen, wobei E. Jüngel den Gedanken der Sakramentalität der Kirche m. E. nicht mehr in der hier dargestellten apodiktischen Weise ablehnt. Nach einem Blick auf die ostkirchliche Theologie resümiert eine kurze Zusammenfassung, Kirche sei "Zeichen des Heils", "Werkzeug des Heils" und "Zeugnis vom Heil" (82 ff.). Die abschließende Reflexion dieses Kapitels weitet den Sakramentsbegriff aus und erläutert, die Kirche realisiere Sakramentalität "im Modus der Schöpfung, Erlösung und Vollendung" (86 ff.).

Das Kapitel III "Das theologische Traditionsverständnis" (91-189) bietet nach einer theologiegeschichtlichen Skizze des Traditionsbegriffs (Neuscholastik, Vaticanum II) eine Diskussion verschiedener, mit dem Thema verwandter Aspekte: Traditionsbrüche, Tradition in interkultureller und interreligiöser Perspektive, Tradition und Feministische Theologie, Traditionalismus und Fundamentalismus sowie Tradition im ökumenischen Dialog. Diese Aspekte reichern den Traditionsbegriff inhaltlich an, bleiben aber von unterschiedlichem Gewicht.

Dieses offene Spektrum verschiedener thematischer Aspekte des Traditionsthemas wird mit der Diskussion einiger theologischer Ansätze zu einem sakramentalen Traditionsbegriff in Richtung einer systematischen Vermittlung von Tradition und Kirche weitergeführt. Eine kurze Würdigung der heilsgeschichtlichen Ansätze von Y. Congar, des Konzepts von Tradition als "Selbstüberlieferung Gottes" bei W. Kasper, der Erläuterung der Tradition mittels des Zeugnisbegriffs bei H. J. Pottmeyer hält jeweils einen Erkenntnisertrag fest (wobei die bibliographischen Angaben zu W. Kasper zuweilen durcheinander geraten). Bei W. Beinert und M. Seckler konstatiert die Autorin eine Nähe zur Sache, geht aber den Vorbehalten dieser Theologen gegenüber einer explizit sakramentalen Begrifflichkeit im Traditionsverständnis nicht weiter nach. Als Ergebnis formuliert dieses Kapitel ein sakramentales Verständnis von Tradition, das "die tatsächliche Präsenz der Heilstat Christi" begreifen lasse und zugleich verständlich mache, wie "die zeitübergreifende Wirksamkeit und Gegenwärtigkeit der Heilstat Christi" (188) zu denken sei.

Das kurze Schlusskapitel IV "Die systematische Vermittlung von sakramentalem Traditions- und Kirchenbegriff" (190-218) fasst den Argumentationsgang der Arbeit resümierend zusammen: Der Sinn der Fragestellung nach der Sakramentalität der Tradition wird verdeutlicht, die Kirche wird mit präzisierenden Hinweisen auf R. Schaeffler und S. Wiedenhofer als Tradierungsgemeinschaft ausgewiesen, um schließlich die Merkmale eines sakramentalen Kirchenbegriffs und eines Verständnisses von "Tradition als kirchliches Heilszeichen und Heilszeugnis" (202) in einem explizit sakramentalen Traditionsbegriff zur Deckung zu bringen: "Kirche und Tradition als sakramentales und kommuniales Zeichen und Zeugnis" (215). Ein umfassendes Literaturverzeichnis und ein Namensregister (219-250) beschließen die Dissertation.

Die Arbeit von Frau Schoppelreich bedeutet für die ekklesiologische Diskussion unzweifelhaft einen Gewinn: Sie entfaltet eine bislang zu wenig bedachte Implikation der sakramentalen Sicht der Kirche und weiß ihre These von der Sakramentalität der Tradition bei guter Kenntnis der einschlägigen theologischen Diskurse mit einer systematischen Explikation und Ausweitung dieses Begriffs argumentativ zu untermauern. Vorbehalte sind gleichwohl gegenüber ihrem zu freimütigen Umgang mit der einschlägigen Begrifflichkeit anzumelden. Der Begriff "Traditionalismus" wird z. B. eingesetzt zur Kennzeichnung der "neuscholastischen und katholisch-traditionalistischen" Sicht von Tradition (1 ff.), dann zur Benennung reformfeindlicher Kräfte nach dem II. Vaticanum, obgleich dieser Begriff eigentlich für die mit ihm bezeichnete Bewegung im 19. Jh. reserviert ist (vgl. 130 f.).

Ähnlich wird auch der Hauptbegriff "Sakramentalität" intentional mit derart vielen Merkmalen aufgeladen, dass er seine Trennschärfe zu verlieren droht ("Auch der Mensch ist gewissermaßen Sakrament." [30]) oder mit anderen Begriffen koextensiv wird ("Sakramentale Tradition ist die Überlieferung des Wortes Gottes zu lebendiger Gegenwart. Sie ist die Überlieferung des Lebens selbst." [188]). Trotz der Plausibilität der Argumentation bleibt daher ein Unbehagen gegenüber der These von der Sakramentalität der Tradition, denn jene Anteile kirchlicher Lebensüberlieferung, die das Wort Gottes gerade nicht zu lebendiger Gegenwart bringen, werden begrifflich trotz der Unterscheidung von wahrer und falscher Tradition nicht genügend deutlich ausgegrenzt.