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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

555–557

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Pröpper, Thomas

Titel/Untertitel:

Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2001. X, 326 S. gr.8. Geb. ¬ 25,50. ISBN 3-451-27562-7.

Rezensent:

Martin Mencke

Auf die richtige Fährte zur Entschlüsselung der Vielfalt der in diesem Band vereinigten Aufsätze und Studien lenkt schon der Titelbegriff "freie Vernunft". Vor allem evangelische Ohren merken auf und fragen nach der Bedeutung des Prädikates "frei". Ist Vernunft als menschliches Vermögen philosophisch gesprochen nicht immer frei? Oder ist menschliche Vernunft nach dem Sündenfall gerade in Bezug auf die wichtigste menschliche Beziehung, diejenige zum Schöpfer, nicht vielmehr zutiefst unfrei? In welcher Weise also trifft das Evangelium auf unsere menschliche (freie?) Vernunft?

P.s Denken bewegt sich in genau dieser Spannung. Die Freiheit der Vernunft ist ihm wichtiges und unverzichtbares Instrument menschlicher Wahrheitsbemühungen. Denn auf Grund der formalen Unbedingtheit der menschlichen Freiheit sind Verstehens- und Denkbemühungen erst möglich. Zugleich ist die menschliche Freiheit die Bedingung der Möglichkeit der Frage nach Gott und der Ermöglichungsgrund für Gottes Anrede an den Menschen. Dabei muss die grundsätzlich "vorauszusetzende Ansprechbarkeit seiner Freiheit philosophischer Reflexion zugänglich sein", wenn "Gottes Handeln an den Menschen sich wendet und die Gnade, obwohl sie seine Sünde aufdeckt und richtet, ihn als Subjekt doch nicht auslöscht, sondern in der Kritik seiner Wirklichkeit ihm seine unverfügbare Wahrheit eröffnet" (122).

Gegenüber der Bestreitung des Glaubens im Namen der Freiheit ist es daher die Aufgabe der Theologie, seine Möglichkeit nicht zuletzt transzendentalphilosophisch zu zeigen! Aber dadurch wird für P. der Glaube nicht zu einer Wahl-Möglichkeit des Sünders, sondern dieser empfängt die Gnade Gottes sola fide, und allein die Gnade befreit die Freiheit des Menschen "aus der ihr ganzes Dasein bestimmenden Macht der Sünde und ihrer eigenen Verkehrung" (309).

Dass sich bei der Aufgabe der Auseinandersetzung der Theologie mit der Philosophie für P. die philosophischen Bemühungen bis hin zur Gegenwart um das Denken der Freiheit gruppieren, dürfte deutlich sein. Allerdings muss auch er notieren, dass dann von den Bemühungen der Theologie her Korrekturen an der philosophischen Diskussion selbst anzubringen sind. Denn das Denken der Freiheit lässt sich nur schwer mit den "gegenwärtigen Tendenzen zur posthistoire und Regression des Freiheitsbewusstseins, der Verabschiedung des Subjekts bei Systemtheoretikern und Strukturalisten und seiner zugleich tödlichen Gefährdung durch die anonym gewordene Geschichte" (122) vermitteln. Wenn allerdings im philosophischen Diskurs selbst die Freiheit an Boden verliert, stellt sich die Frage, inwiefern dann das Denken der Freiheit dazu geeignet ist, die Denkmöglichkeit des Glaubens auch heute zu zeigen.

Um das Thema der Denkmöglichkeit des Glaubens, bzw. einer dogmatischen Denkform, die dem Zeugnis des Glaubens entspricht, kreisen alle Arbeiten des Bandes. "Hermeneutik" nennt P. die Dogmatik insofern, als sie die systematische Explikation der Wahrheit des Glaubens mit der Vergegenwärtigung seiner Bedeutung verbindet (VII). In drei großen Kreisen stellt dieser Band Aufsätze, Handbuch- und Lexikonartikel aus den Jahren 1978 bis 2001 und zwei unveröffentlichte Beiträge zusammen. Der erste Teil, "Der elliptische Ansatz: Brennpunkte und Kategorien", führt in sechs Beiträgen die Doppelpoligkeit des gewählten Verfahrens vor Augen: Offenbarung als "Erweis der unbedingt für die Menschen entschiedenen Liebe Gottes" (3) in der Geschichte Jesu trifft auf Menschen mit bestimmten Verstehensbedingungen. Für P. empfiehlt sich das transzendentale Freiheitsdenken in besonderer Weise, diese Verstehensbedingungen für den Inhalt der Offenbarung und die besondere Form ihrer Zugänglichkeit zu erhellen.

Im zweiten Teil, "Bestimmung des Standorts: Problemverläufe und Kontroversen", werden die erarbeiteten Grundlinien der freiheitstheoretischen Glaubenshermeneutik ins systematische Gespräch gebracht: mit Schleiermacher, um in der Kritik an der Ausführung seiner anthropologisch vermittelten Dogmatik ihre Intention aufrechtzuerhalten; mit Pannenberg, um in kritischer Aneignung seiner Anthropologie darauf hinzuweisen, dass seine "Untersuchungen die faktische Genese und externen Konstitutionsbedingungen realer menschlicher Identität" (102) zwar überzeugend erhellen aber nicht darüber hinweg täuschen können, dass eine "transzendentale Selbstbewusstseins- und Freiheitstheorie" (102) damit nicht erarbeitet und mögliche theoretische Alternativen nicht ausgeschlossen sind; mit Verweyen, um in der Gemeinsamkeit des systematischen Bemühens, die Wahrheit des Glaubens erstphilosophisch gesprächsfähig zu machen, die Differenzen um den geeigneten Weg auszuleuchten.

Im dritten, letzten Teil, "Einweisung in die Geschichte: Anwege zur Gotteslehre", zieht P. die Linien des gewählten dogmatischen Ausgangspunktes aus. Dabei wird klar: Freiheitsphilosophisches Denken kommt nicht auf für den geschichtlich gegebenen Gegenstand des Glaubens. Die transzendental erschlossene Minimalbestimmung des Gottesgedankens wird vielmehr näher bestimmt durch die Geschichte, "in der Gott sich wahrnehmbar für die Menschen bestimmte" (223).

Hier, im letzten Teil, finden sich die beiden Beiträge ("Fragende und Gefragte zugleich. Notizen zur Theodizee" und "Wegmarken zu einer Christologie nach Auschwitz"), die am leichtesten, vielleicht weil in der Form persönlicher Briefe gehalten, einen Zugang zu Ansatz aber auch Konsequenzen des Freiheitsdenkens im theologischen Kontext verschaffen. Denn hier verlässt P. seinen ansonsten durchaus intrikaten Stil.

Besonders schön ist aber auch der Schlussaufsatz "Gott hat auf uns gehofft ...", in dem er bündelt und noch einmal verdichtend analysiert, wie sich Gottes Offenbarung und menschlicher Glaube zueinander verhalten, wenn doch der Mensch "als Subjekt seines Glaubens wie seines vernünftigen Wissens mit sich identisch" (301) sein soll. P. kehrt damit zum Ausgangspunkt zurück: Wenn durch die Theologie Gott als freies Subjekt der Offenbarung zu ehren ist, dann muss diese Theologie den Menschen als "ebenso antwortfähigen wie zum Verstehen bestimmten Empfänger der Offenbarung" explizieren, sie muss zu erklären versuchen, wie der Mensch die Wahrheit des Glaubens als für ihn bedeutsame bejahen kann (301). Transzendentales Freiheitsdenken ist dazu geeignet, diese Aufgabe zu lösen. Argumente für diese These P.s liegen mit diesem Band gebündelt vor.