Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

553–555

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Nüssel, Friederike

Titel/Untertitel:

Allein aus Glauben. Zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre in der konkordistischen und frühen nachkonkordistischen Theologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 366. S. gr.8 = Forschungen zu systematischen und ökumenischen Theologie, 95. Kart. ¬ 54,00. ISBN 3-525-56206-3.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Die Münchner Habilitationsschrift von 1998 der jetzt in Münster lehrenden Systematikerin gehört zu der bemerkenswerten Art von Büchern, die im Gewand akribischer theologiegeschichtlicher Rekonstruktion einen unüberhörbaren Hinweis auf ungelöste Probleme der evangelischen Theologie geben. Dabei zeichnet sich die Arbeit von Nüssel dadurch noch einmal besonders aus, dass das von ihr präsentierte Desiderat nichts Geringeres betrifft als die im 20. Jh. zur theologischen Kernformel des Protestantismus gewordene Rechtfertigungslehre - und die hier zu beobachtende Unausgewogenheit besteht nach Meinung von N. nicht erst seit der Aufklärung, sondern seit dem Beginn der explizit systematisch-theologischen Arbeit durch Melanchthon und trotz vieler hochgelehrter Entwürfe der altprotestantischen Orthodoxie.

Diese summarische These, die gewissermaßen die negative Voraussetzung weiteren Fragens darstellt, wird nun freilich von N. in subtiler theologiegeschichtlicher Forschung sukzessive entwickelt. Sie kann zunächst daran erinnern, dass es Andreas Osianders Behauptung einer "wesentlichen Einwohnung der Gerechtigkeit Christi als Grund der Rechtfertigung" war (45), die zur Ausbildung einer forensisch-imputativen Rechtfertigungslehre bei Melanchthon und dann stärker (und befremdlicher zugleich) bei Flacius führte. Ihre Beobachtung zu diesem Entwicklungsstrang der Rechtfertigungslehre besagt, dass das Problem der Imputation der Gerechtigkeit Christi in einem göttlichen Urteilsakt Probleme schafft, die nur sehr schwer zu bewältigen sind und die mit der Bedeutung des Glaubens für die Rechtfertigung zusammenhängen. Denn wie empfängt der Glaube die Rechtfertigung, ohne dass er jedenfalls in diesem Empfangen aktiv und also als eigene Leistung kaum auszuschalten sei? Und wie, wenn die Rechtfertigung geschehen ist, setzt sich der Glaube in aktive Liebe um, ohne dass diese selbst zum mitwirkenden Aufbauelement der Rechtfertigung wird (aber natürlich auch nicht ausbleiben darf)? Die regelmäßige, wie immer im Einzelfall modifizierte Auskunft, es handle sich sowohl in der der Rechtfertigung voraufgehenden (Petrus-) Buße als auch in der nachfolgenden Heiligung um ein Werk des Heiligen Geistes, kann nicht befriedigen, weil der Zusammenhang zwischen der Versöhnung in Christus und dem Handeln des dreieinigen Gottes - jedenfalls im Blick auf den Menschen- inkohärent erscheint (vgl. 110 f.149.177). Diese - wie gesagt: negative - These wird von N. mit eindringlicher Konzentration auf die Lehrentwicklung seit Flacius unterfüttert. Chemnitz, Gerhardt, Calixt und viele andere sind ihre Hauptzeugen; das alles kann und braucht hier auf Grund der minutiösen Sorgfalt der Darstellung nicht referiert zu werden.

Nun gibt es aber im altprotestantischen Erörterungszusammenhang eine Spur, die - an Luther anschließend - auf ein Thema führt, das eine sinnvolle und konsistente Rahmung der Rechtfertigungslehre bietet, die Wahrheit des Anliegens hinter der Imputationslehre aufnimmt und die Einbindung der Gnade Gottes in die Wirklichkeit menschlichen Lebens veranschaulicht. Diese Spur nimmt N. auf, indem sie der Tübinger Christologie vor allem bei Jakob Heerbrand, Matthias Hafenreffer, Stephan Gerlach und Theodor Thumm nachgeht, wobei sie sich an die Arbeiten von Jörg Baur und Walter Sparn anschließen kann. Insbesondere der jedoch noch wenig erforschte Thumm wird dabei von ihr zum Leuchten gebracht. Es kennzeichnet die Arbeit von N., dass sie die aus den Kontroversen um das Abendmahl bekannte Tübinger Position "der Majestät der menschlichen Natur Christi im Stand der Erniedrigung" (207) erstmals konsequent in den Zusammenhang der Debatten über die Rechtfertigungslehre einstellt (für Luther könnte man an Hans-Joachim Iwands Licentiatenschrift "Rechtfertigungslehre und Christusglaube" von 1930 denken). "Für das Verständnis der Rechtfertigung bedeutet dies faktisch, daß die Präsenz Christi in Person bei den Glaubenden nicht erst durch den Zuspruch der Sündenvergebung und Zurechnung der Gerechtigkeit Christi und deren Annahme im Glauben konstituiert wird, sondern bereits mit der Inkarnation gesetzt ist." (207) Insofern "wird in der Aneignung der Verheißung durch den Glauben das bewußt realisiert, was von Gott her immer schon der Fall ist." (ebd.) Bei Hafenreffer und Thumm zeige sich, dass "ein direkter Zusammenhang zwischen der Christologie und der Lehre vom Glauben hergestellt" werde (235).

Diese Erweiterung der Aufmerksamkeit auf den Konnex zwischen Christologie und Rechtfertigungslehre lässt N. dann sogleich und konsequenterweise die Frage stellen, wie denn Christusgemeinschaft und Rechtfertigung sich zueinander verhalten. Die Antwort lautet: Sie konvergieren in der Figur der unio mystica, die dann auch ein erhebliches Potential zur Lösung der Probleme der imputativen Rechtfertigungslehre enthält. Bei dieser Wendung des Forschungsinteresses kann N. natürlich von der erweiterten und elementareren Sicht der Mystik ausgehen, wie sie in den letzten Jahrzehnten etwa von Tuomo Mannermaa und Theodor Mahlmann für Luther, aber auch für die Orthodoxie ausprobiert wurde (der Beitrag von Reinhard Schwarz dazu wird jedoch nicht hinreichend gewürdigt). Hier findet sich nun die positive These N.s ausgesprochen: Es ist in der Tat die unio cum Christo (als unio mystica), die durch eine ungebrochene und auch nicht zu unterbrechende Lebensgemeinschaft mit Christus die Voraussetzung bildet, die in der Rechtfertigung für die eigene Existenz ergreifbar realisiert und als lebensprägendes Siegel zur Erscheinung gebracht wird. Hier kommen unter anderen Philipp Nicolai, Johann Arndt, Johann Gerhardt, Friedrich Balduin und abermals Theodor Thumm zu Wort. Allerdings differenziert N. genau zwischen zwei unterschiedlichen Typen, in denen die unio mystica vorgestellt wird. Als schlüssig wird nur diejenige Variante angesehen, bei der die unio mystica nichts anderes, nichts mehr und nichts weniger ist als die realisierte Christusgemeinschaft selbst. Das ist das Ergebnis bei Thumm und Balduin. "Indem der Glaube in der Erkenntnis Christi nicht nur das Werk Christi bzw. sein Verdienst, sondern Christus selbst in seinem Personsein ergreift, realisiert sich in ihm die spirituelle Christusgemeinschaft, in der der Glaubende weiß, daß Christus sich ihm mitteilt, ihm Anteil gibt an den göttlichen Majestätseigenschaften und in ihm wirkt." (291) Dagegen hat die üblich gewordene Schuldogmatik, etwa bei Hollaz, "das Personsein Jesu Christi nicht als Ausgangspunkt für die Bestimmung der Vereinigung der Glaubenden mit Christus geltend gemacht" (285), sondern in der Entwicklung der analytischen Methode mit dem Heilsziel als orientierendem Prinzip Spielräume für ein nicht ans Personsein Christi gebundenes Wirken des Heiligen Geistes gelassen, welches natürlich auch wieder Unschärfen zur Folge hat und die Frage nach einer Vorbereitung oder Mitwirkung beim Wirken des Heiligen Geistes stellen lässt (vgl. 338 f.).

Diesem Zusammenhang, nämlich den Problemen der analytischen Methode in der Dogmatik, ist das letzte große Kapitel in N.s Buch gewidmet. Sehr verdienstvoll ist, dass sie ausführlich auf Johannes Scholvin verweist und seine (im Prinzip bekannte) Mitwirkung an der Ausbildung dieser Methode mit Belegen dartun kann. Jedoch fällt N.s Gesamturteil über die analytische Methode negativ aus. Der an sich zutreffende Impuls, durch die Schritte der Analyse sei nichts anderes gemeint als die Wahrnehmung einer komplexen Schichtung im Geschehen der Heilsaneignung, kann doch nicht freigehalten werden von der Vorstellung eines aus Etappen bestehenden Heilsweges. Dadurch aber - und durch die Ausbildung der Lehre von den Fundamentalartikeln - erhält die Imputation der Gerechtigkeit Christi dann doch wieder eine separate Stellung im Prozess der Heilszuwendung; sie wird jedenfalls nicht von der Christusgemeinschaft her, wie sie auf der Basis der Tübinger Christologie aussagbar wäre, rekonstruiert (vgl. 322). "Die vertiefte Einsicht in die Bedeutung der Inkarnation für die Versöhnung und Rettung des Menschen, der die Tübinger Christologie Ausdruck verschafft, und in die spirituelle Gemeinschaft mit Christus, die die Ausbildung der Lehre von der unio mystica nach sich zieht, wird durch die schuldogmatische Fixierung auf das Verdienst Christi im Rahmen der Bestimmung und Explikation des Glaubensfundaments nicht hinreichend zum Zuge gebracht." (335)

N.s Ergebnisse nötigen den theologischen Mainstream in Wissenschaft und Kirche unserer Tage zu einer doppelten Besinnung. Einmal muss es verstärkt darum gehen, den christologischen Zusammenhang der Rechtfertigungslehre erneut herauszustellen (wie das Karl Barth auf seine Weise getan hat). Nicht nur das Verhältnis von Rechtfertigungslehre und Ekklesiologie, so gewichtig es in der Debatte mit dem römischen Katholizismus ist, gehört erneut aufs Programm. Sodann dürfte es geboten sein, die inflationäre Rede vom Heiligen Geist als unmittelbare Wirkweise Gottes strenger an die Person Jesu Christi zurückzubinden. Es ist die Geschichte der eigenen reformatorischen Tradition, die das verlangt. Allerdings stellt sich nach der Lektüre von N.s so materialreichem wie klugem Buch auch die Frage, warum eigentlich die Errungenschaften der Tübinger Christologie und ihre exzeptionelle Stellung für die Rechtfertigungslehre Episode blieben. Ob das nicht doch mit der Schwierigkeit zusammenhängt, sich die "Lebensgemeinschaft mit Christus" anders als in der Weise einer dogmatisch hochgestuften Kirche vorzustellen? Immerhin könnte man möglicherweise in Schleiermachers Konzeption des christlichen Gemeingeistes (aber auch in Barths Lehre vom munus propheticum Christi) neuzeitliche Vorschläge zu einem Verständnis dieses Gedankens erblicken. Sie müssten dann freilich einmal auf diesem Hintergrund interpretiert werden, um die Frage ihrer aktuellen Verstehbarkeit zu entscheiden. Indem sie derlei Frage auslöst, zielt N.s Rekonstruktion einer konfliktreichen Phase evangelischer Theologie direkt in die Gegenwart. Dafür sei ihr herzlich gedankt.