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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

546–548

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schaap, Sybe

Titel/Untertitel:

Die Verwirklichung der Philosophie. Der metaphysische Anspruch im Denken Th. W. Adornos.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. 247 S. gr.8. Kart. ¬ 30,00. ISBN 3-8260-2027-8.

Rezensent:

Werner Brändle

1. Es ist immer wieder erstaunlich zu beobachten, auf welch unterschiedliche Weise das philosophische Werk Adornos seine Disputanten in den Bann zu schlagen vermag. Der Niederländer S. Schaap dürfte Adorno im Sinne einer negativen Dialektik erlegen sein: Seine Arbeit besticht durch ihre systematische Stringenz einerseits, andererseits vollzieht sie in ihrer interpretatorischen Einseitigkeit m. E. genau das, was sie ihrem Gegner vorwirft: totalitäre Interpretationspraxis.

Die Verwirklichung der Philosophie ist - im Anschluss an K. Marx' "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" - nach Sch. das Programm von Adornos Philosophie insgesamt. Und das bedeutet - und damit schließt Sch. seine Untersuchung - "nachdem dem einzelnen Menschen seine Unterscheidungsfähigkeit genommen ist" (Auschwitz ist dafür das Zeichen, W. B.), erwartet er, "mit der Realisierung der ästhetischen Totalität, eine vollständig amorphe Einheit. Der Vernichtungsprozess von Auschwitz begegnet dann auch in der Utopie seiner Vollendung. Die Verwirklichung der Philosophie fällt mit dem Ende der Kunst, der Religion und der Philosophie und damit mit dem Ende des Menschen zusammen." (242) Sch.s (ungeheurer) Vorwurf an Adorno heißt demnach: Adorno vollzieht mit seiner Negativen Dialektik auf philosophischem Felde das nach, was in Auschwitz bereits schreckliche Wirklichkeit geworden ist und davon ist Adornos Ästhetische Theorie nicht ausgenommen: "Wie sich zeigt, fallen in der utopischen Schönheit alle Elemente auf geglückte Weise zusammen: Das ist das Glück der gelungenen Komposition. Kompromisslose Praxis macht auf ästhetische Weise wahr, was der Begriff in theoretischem Sinne für wahr hält." (241) Und den Grund für dieses verheerende Urteil sieht Sch. darin, dass Adornos Utopiekonzept sich "dermaßen eng an seine eigene Typisierung der totalitären Gesellschaft (anschließt), dass der von ihm vorgelegte Unterschied zwischen Auschwitz und der Utopie weniger einschneidend auszufallen scheint, als seine düstere Beschreibung von Auschwitz in erster Instanz suggeriert." (233 f.) Der Grund liegt also darin, dass in der Tiefe von Adornos Philosophie immer noch - nach Sch. - eine metaphysische Identitätsvorstellung waltet, die eine gewaltsame und totale Geschichtsphilosophie in sich birgt. "Eine letzte Philosophie, die auf Totalität gerichtet ist, reißt alle Macht an sich. Indem sie allen Widerstand bricht [sprich: alle Differenzen einzieht, W. B.], kann sie ihren Veränderungsprozess kompromisslos und erbarmungslos (vgl. PhTI: 137) ausführen. Privilegierte Intellektuelle [gemeint ist u. a. Adorno, W. B.] erhalten die Alleinvertretung der Wahrheit." (221)

2. Wie kommt nun Sch. zu seinem Urteil? Die Untersuchung ist in zehn Kapitel gegliedert und versucht, alle philosophischen Topoi von Adornos Philosophie gleichermaßen zu berücksichtigen bzw. zu rekonstruieren. Nach einem Einleitungsteil, in dem Sch. kenntnisreich die methodischen Verfahren von Adornos Philosophie vorstellt - Übertreibung, Konjunktiv, Materialismus, Begriffs-Konstellationen - wird gleichermaßen das eigene Verfahren Sch.s deutlich, das durchweg als eine Hermeneutik des Verdachts bezeichnet werden kann. D. h. Sch. stellt in jedem Kapitel, nachdem er paraphrasierend die jeweiligen Konstellationen Adornos rekonstruiert hat, eine Menge Fragen; diese werden nicht beantwortet, erzeugen aber durch ihre Unterstellungen beim Leser immer stärker den Verdacht, dass Sch.s These - Adornos Philosophie sei totalitär - ihre Richtigkeit habe. "Auf diesem Weg ist es nicht nur möglich, dass das Nichtbegriffliche erfolgreich seine wahre Identität finden könnte, es ließe sich auch widerstandslos den praktischen Imperativen, die dieses Denken mit sich birgt, unterwerfen. Das Denken könnte dann Identität schaffen, indem es im Anschluss an die vollständige Negativität die vollständige Wahrheit verwirklicht. Bedeutet dies nun, dass Gewalt ein inhärenter Bestandteil von Adornos Identitätsphilosophie ist?" (140 f.) Zentrale Kapitel der Untersuchung sind das 8. (Die Frage nach dem Unbedingten, 125-159) und das 9. (Die Möglichkeit des Möglichen, 160-213), in denen Sch. gekonnt die inhärente Systematik der Philosophie Adornos nachzeichnet.

3. Das Verdienst Sch.s dürfte zweifellos sein, dass er eine mögliche Lesart bzw. Konsequenz negativer Dialektik systematisch aufgezeigt hat. Die Einseitigkeit seiner Interpretation ergibt sich m. E. nicht nur auf Grund seiner hermeneutischen Methode, sondern auch auf Grund seiner Aversion gegen religiöse Dimensionen; eine Beschäftigung mit dem Werk von W. Benjamin mit einer Eschatologie jüdisch-christlicher Provenienz hätte Sch. vor manchen Kurzschlüssen und allzu rigorosen Urteilen bewahrt.