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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

538–541

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dieter, Theodor

Titel/Untertitel:

Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. XVI, 687 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 105. Geb. ¬ 148,00. ISBN 3-11-016756-5.

Rezensent:

Ulrich Kühn

Das Selbstverständnis und die Einschätzung reformatorischer Theologie wurde über Jahrzehnte durch die von Wilhelm Link 1938 formulierte These von der "Freiheit der Theologie von der Philosophie", um die Luther gerungen habe, mitbestimmt. Damit verbunden war eine Sicht der Reformation, derzufolge diese nach Jahrhunderten solcher Gefangenschaft, wie sie insbesondere in der dunklen Periode der Scholastik manifest geworden war, endlich eine Rückkehr zum Licht des reinen biblischen Evangeliums darstellt. Das an dieser Stelle anzuzeigende anspruchsvolle Werk, das die Dissertation von 1991 - hier: Kap.6- und die Habilitationsschrift des Vf.s - hier: Kap. 1 bis 5 - kombiniert, muss als kritische Bestreitung der genannten These und als Auseinandersetzung mit einem ihr verpflichteten auch heute noch anzutreffenden Verständnis der Reformation und speziell der Theologie Luthers angesehen werden. Nachdem bereits vor Jahrzehnten - insbesondere unter ökumenischen Gesichtspunkten - das "Gespräch" zwischen Thomas von Aquin und Luther eröffnet worden war mit der Einsicht, dass hier zwei im Prinzip gleichgewichtige Weisen der Artikulation des Evangeliums vorliegen, deren eine zumindest keine Verurteilung der anderen zu bedeuten hat, nimmt der Vf. diesen Faden nun unter der präzisen Fragestellung nach der Haltung des jungen Luther zu Aristoteles wieder auf. Sein Textmaterial entnimmt er u. a. den Resolutiones zu den Ablassthesen, der Heidelberger Disputation, der Disputation gegen die scholastische Theologie, aber auch einer Weihnachtspredigt Luthers von 1514.

Das Buch von Theodor Dieter zeigt, dass der frühere Luther ein ausgesprochen differenziertes Verhältnis zu Aristoteles und zur Philosophie überhaupt hat. Das kommt in den folgenden Einsichten, die dieses Buch wie Grundthesen durchziehen, zum Ausdruck. (1) Luther greift für seine theologische Arbeit in mehrerer Hinsicht positiv auf philosophische Einsichten zurück: das können Einsichten des Aristoteles sein (z. B. in der Benutzung der Logik: 424.430), es können aber z. B. auch Einsichten sein, die kritisch gegenüber Aristoteles zu stehen kommen (z. B. die Ideen Platons, die Luther gegen Aristoteles befürwortet: 629 ff. zur philosophischen These 9 der Heidelberger Disp.). In jedem Falle ist Theologie auch für Luther ohne Philosophie (formal oder auch inhaltlich) nicht möglich. (2) Wenn Luther mit Aristoteles zu tun hat, muss man immer genau zusehen, welcher Aristoteles jeweils gemeint ist: der originale Aristoteles, derjenige der Rezeption durch die Hochscholastik oder derjenige, auf den sich die Spätscholastik beruft. Aristoteles wurden in der Spätscholastik mitunter Meinungen zuerkannt, die ursprünglich eine Kritik an Aristoteles ausdrückten (so in der Frage der menschlichen Freiheit). (3) Luther hat eine profunde Kenntnis der Philosophie des Aristoteles, kommt dabei aber in wesentlichen Fragen zu einem unhaltbaren Aristotelesverständnis (z. B. in der Frage der Unsterblichkeit der Seele: 512ff.), oder er sieht nicht, dass der originale Aristoteles bereits selbst den Einwänden Rechnung trägt, die Luther gegen ihn vorbringt (etwa in der Frage des Erwerbs einer Tugend: 159. 175). (4) Die Scholastik hat Aristoteles im Lichte der christlichen Botschaft weithin kritisch interpretiert und nur so rezipiert (z. B. in der Frage nach dem letzten Ziel des Menschen: 62-64). Dabei begegnen teilweise bereits dieselben Probleme wie bei Luther. (5) Von einer Einheit der Scholastik oder einer Überwindung des "Ganzen der Scholastik" durch Luther kann daher keine Rede sein (u. a. 35 f. gegen G. Ebeling).

Diese und weitere Einsichten ergeben sich für den Vf. aus eingehenden Textanalysen - sowohl der Luther-Texte wie der Texte insbesondere von Spätscholastikern. Besonders bedeutsam ist es, dass der Vf. für die Interpretation der philosophischen Thesen der Heidelberger Disputation (1518) auf deren probationes zurückgreifen und sie erstmalig in dieser Ausführlichkeit heranziehen kann, die H. Junghans für die Weimarer Ausgabe (Bd. 59) bearbeitet und dadurch zugänglich gemacht hat (432). Im Gang der Untersuchung ergeben sich dabei immer wieder auch überraschende Blicke auf Luthers theologische Positionen.

In einem umfangreichen I. Kap. (39-148), das u. a. eine Interpretation der Resolution der 58. Ablassthese Luthers enthält und zur Zusammenfassung eine Reflexion über die 28. These (und probatio) der Heidelberger Disputation vorlegt, verfolgt der Vf. "Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis des Aristoteles" und insbesondere an der aristotelischen Auffassung vom Glück als dem eigentlichen Ziel des Menschen. Dabei macht er auf die scholastische Umformung dieser Zielvorstellung durch deren Einbindung in die caritas aufmerksam, die "das ganze Leben des Menschen auf Gott ausrichtet" (63 f.), und fragt, ob das Verhältnis des von Luther kritisierten "quaerere quae sua sunt" und des von Luther geforderten "quaerere quae Dei sunt" tatsächlich nur als Disjunktion denkbar ist (64). Dennoch ist damit Luthers Einwand noch nicht völlig eingeholt, der auf die Liebe zum Leiden und zum Niedrigen im Sinne der theologia crucis hinausläuft (69), das biblische Ganzheitsgebot der Gottesliebe nach Dt 6,5 gegen seine scholastische Abschwächung (die nur besagt, Gott sei "über alles" zu lieben, 106) zur Geltung bringt und von daher die Sünde als ganzheitliche Ausrichtung begreift (144) - der eigentliche existentielle Sinn der Rede Luthers von einer "theologia gloriae" (110 ff.). Gleichzeitig freilich konstatiert der Vf. bei Luther Elemente eines "moralisch-metaphysischen" Denkens, nämlich dort, wo Luther das Problem des Worumwillen des Willens erörtert (106). Überdies kritisiert er Luther sachlich von der täglichen Erfahrung und vom biblischen Befund her, die das Recht der dankbaren Erfahrung des Guten als Gottes Gabe und ebenso des Strebens nach Gutem (im Sinne des aristotelisch-scholastischen Gedankens) belegen (124-128, vgl. 145 f.). Hier meldet sich zugleich das Problem des Verhältnisses des frühen zum späteren Luther und Luthers zur Neuzeit (146-148).

Im II. Kap. (149-256) untersucht der Vf. die Kritik Luthers an dem auf Aristoteles zurückgeführten Grundsatz, dass man durch gerechtes Handeln die Tugend der Gerechtigkeit erwirbt ("iusta agendo iusti efficimur"), also einen Kernpunkt der Auseinandersetzung um die Rechtfertigung. Ein genaueres Studium der aristotelischen Position ergibt dabei, dass auch für Aristoteles ein gerechtes Handeln (das zur Tugend führt) bereits auf einer Grundorientierung zum Guten beruht (158), was Luther übersieht. Hier kritisiert Luther faktisch die (verkürzende) Aristotelesinterpretation der Spätscholastik. Das Gleiche gilt für Luthers Kritik am angeblich aristotelischen Freiheitsbegriff. Dass der Mensch frei zu entscheiden habe, ist in Wirklichkeit seit dem 13. Jh. besonders in der franziskanischen Theologie zunächst gegen den aristotelischen Determinismus ins Feld geführt worden, fungierte jedoch in der Spätscholastik als Auslegung der aristotelischen Meinung (214 ff.).

Luthers These, dass zuerst die Person durch Gottes Eingreifen geändert werden müsse, ehe es zu guten Werken kommt, ist bereits für Thomas grundlegend, sofern dieser mit seiner Lehre vom Gnadenhabitus eine die Person neu konstituierende von Gott kommende Wirklichkeit im Blick hat, die den Akten der Gerechtigkeit vorausliegt (193-196, 202 ff.: Auseinandersetzung mit K.-H. z. Mühlen). Luthers Kritik gilt also de facto spätscholastischen Vorstellungen. Dennoch ist eine Differenz auch zur Hochscholastik nicht zu leugnen: Der Übergang vom alten zum neuen Menschen geht nach Luther durch den Tod hindurch, und beim Gerechtfertigten bleibt der Makel weiter bestehender Sünde (240.255).

Ein kurzes III. Kap. (257-275) zeigt, wie bei Luther die aristotelische Erkenntnislehre, derzufolge der Intellekt das "ist", was er erkennt, als Analogie zu jener nicht-substantiellen Einheit mit dem Wort, das wir durch den Glauben "sind", zu stehen kommt, - eine Einheit, die allerdings jetzt nicht primär als Erkenntnisbeziehung gelten kann (269).

Besonderes Interesse darf das IV. Kap. beanspruchen, in welchem der Vf. den aristotelischen Bewegungsbegriff als Verständnishintergrund für Luthers Rede von der Gleichzeitigkeit von Gerechtigkeit und Sünde im Gerechtfertigten (simul iustus et peccator) heranzieht. Der Vf. zeigt, dass dieses "zugleich" für Luther kein statisches Verhältnis ist (das möglicherweise in der Ausformulierung sogar dem Satz vom Widerspruch entgegensteht, 306). Vielmehr geht es um eine ständige Bewegung vom einen zum anderen, um ein ständig neues Anfangen. Dies meint allerdings - so der Vf. in ausdrücklicher Kritik an W. Joest - bei Luther nicht, dass man immer neu den ersten Schritt zu machen hätte. Vielmehr geht es um den immer neuen Anfang im Fortschreiten, auch wenn der Christ das, wohin er wächst, immer wieder verlässt (318). "Die Fortschreitenden sind Anfangende mit Bezug auf das, was sie noch nicht haben." (319) Diese Bewegung, in der sich das "partim iustus - partim peccator" ständig neu vollzieht, kommt deshalb nicht als ein "Partialaspekt" des "simul" neben einem "Totalaspekt" zu stehen, sondern interpretiert diesen Totalaspekt (334). Dieser aber ergibt sich daraus, dass das bleibend Alte im neuen Menschen diesen ganz Sünder bleiben lässt (322), so sehr er vom Ziel her bereits ganz als Gerechter gilt.

Kap. V (378-430) ist der Logik im Urteil des jungen Luther gewidmet und zeigt, wie Luther - trotz einer nicht aufzulösenden Spannung der Sache der Theologie (z. B. der Trinitätslehre, 406f.) zu den Forderungen der Logik - de facto auf logische Korrektheit stets besonderen Wert legt. Auch darüber hinaus verwendet Luther immer wieder ein "dialektisches", menschliche wissenschaftliche Regeln beachtendes Verfahren in der Theologie (427).

Das bei weitem längste ist das VI. Kap. (431-631). Es war dies die Dissertation des Vf.s und stellt eine in dieser Form erstmalige Untersuchung und Interpretation der 12 philosophischen Thesen von Luthers Heidelberger Disputation (1518) mit ihren "probationes" dar (in der üblichen Zählung: Thesen 29-40). Der Vf. zeigt, wie die Thesen 3 bis 12 (= 31-40) "einen klaren und in sich differenzierten Gedankengang, der eine Kontroverse überlegt entwickelt" darstellen (628). Für Luther bleibt der von ihm gesichtete Aristoteles in der Reflexion auf das "Sinnliche" stecken. Ihm gegenüber plädiert Luther für Plato, dessen "Ideen" das Sinnliche transzendieren, wenn auch das Sinnliche an ihnen partizipiert (619 ff.628). Das Bild, das Luther von Aristoteles entwirft, hält allerdings dem Orginalbefund bei Aritstoteles nicht stand. Das zeigt sich z. B. bei der Erörterung der - theologisch relevanten - Frage der Unsterblichkeit der Seele, deren aristotelische Sicht Luther unsachgemäß unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von materia und forma interpretiert. Luther übersieht hier - so der Vf. -, dass der intellectus agens bei Aristoteles geradezu göttlichen Charakter hat (528-530).

Dass es nach Luther für Aristoteles keine "Realunterscheidung" von materia und forma gibt (611 f.627) und damit im Grunde auch der aristotelische Begriff der Bewegung fraglich wird, sei so ebenfalls nicht haltbar. Insgesamt allerdings zeigen die Thesen und ihre probationes einen bislang "in vielem unbekannten Luther" (627), der mit Kenntnis und Engagement im Bereich der Philosophie argumentiert hat.

Die philosophischen Thesen 1 und 2 (= 29 und 30) der Heidelberger Disputation haben indessen schon wiederholt das Interesse auf sich gezogen, zumal ihre probationes seit langem bekannt sind. Diese Thesen betreffen allerdings - so der Vf. - nicht den Inhalt, sondern den Vollzug der Philosophie, der dem Sterben mit Christus unterworfen werden muss (vgl. 427-453; 630 f.). Und das betrifft nicht nur den Umgang mit Aristoteles, sondern ebenso den mit Plato, ja es betrifft darüber hinaus auch den Vollzug theologischen Denkens. Ein geradliniger Zusammenhang zwischen diesem "Aktaspekt" und dem "Inhaltsaspekt" der Erkenntnis muss nach dem Urteil des Vf.s "dezidiert bestritten werden" (631).

Mit dieser knappen Inhaltsskizze konnten die differenzierten Analysen nicht nur der Texte Luthers, sondern auch derjenigen des Aristoteles selbst sowie der Spätscholastiker (Buridan, Biel, Ockham, Usingen) natürlich nicht zureichend wiedergegeben werden. Und es muss der historisch-philosophischen Fachkritik überlassen bleiben zu beurteilen, ob und inwieweit sich diese - z. T. überraschenden - Analysen im Einzelnen als sachgemäß erweisen. In jedem Fall müssen die Darlegungen des Vf.s unter systematisch-theologischem Gesichtspunkt zu denken geben. Das zeigen ihre Folgerungen für zentrale Topoi speziell der Rechtfertigungstheologie des jungen Luther. Damit steht aber zugleich das Verhältnis Luthers zur scholastischen Tradition insgesamt auf dem Prüfstein. Die Behauptung, bei Luther finde sich ein "Grundgegensatz" zu "der" Scholastik (vgl. 28.30), ist vom Vf. mit neuen Gründen ernsthaft in Frage gestellt worden. Dies belegt nicht zuletzt die überraschende sachliche Nähe, die etwa zwischen Luther und Thomas von Aquin in grundlegenden rechtfertigungstheologischen Fragen (z. B. Neuwerdung der Person vor den Werken, Freiheitsbegriff) besteht. Auch für eine grundsätzliche Absage an ontologisch-metaphysische Fragestellungen in der Theologie wird man sich nicht mehr ohne weiteres auf Luther berufen können, auch wenn sein relationales Wirklichkeitsverständnis zu noch anderen Aussagen führt, als wir sie in der Scholastik finden. Dass diese am frühen Luther festgestellten Sachverhalte die Aufgabe einschließen, mit ähnlichen Fragen an den späteren Luther heranzutreten, ist vom Vf. unterstrichen worden, wobei dann noch einmal zu bedenken ist, ob der "spätere" Luther nur derjenige zwischen 1520 und 1525 ist, oder ob dazu auch der Luther der Auseinandersetzung mit den Schwärmern und mit Zwingli und der Luther der späten Disputationen gehört.

Dass mit den Einsichten des Vf.s zugleich ein wichtiger Beitrag zum ökumenischen Grundlagengespräch geleistet worden ist, gehört nicht zu den geringsten Verdiensten dieser gewichtigen Studie.