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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

535–538

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Buchholz, René

Titel/Untertitel:

Körper - Natur - Geschichte. Materialistische Impulse für eine nachidealistische Theologie.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 421 S. gr.8. Geb. ¬ 54,00. ISBN 3-534-15779-6.

Rezensent:

Jack Brush

In der Einleitung seines Werkes stellt der Vf. fest, dass die "mainstream"-philosophische Tradition von der Antike bis zur Gegenwart stark idealistische Züge aufweist, genauer gesagt, dass sie ihrer Reflexion das Identitätsprinzip zugrunde gelegt und somit die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit, von Subjekt und Objekt vorausgesetzt hat. Der Dominanz dieser idealistischen Tradition stellt er den Materialismus als die gleichsam vernachlässigte Hälfte der Philosophiegeschichte gegenüber, den er - das muss man mit allem Nachdruck betonen - keineswegs als ein abgeschlossenes philosophisches System, sondern als "eine bestimmte philosophische Denkweise" (10) versteht. Da der Vf. Geschichte und Tradition dialektisch auffasst, kann er die materialistische Denktradition sogar als die verdrängte, dunkle Hälfte der Philosophiegeschichte bezeichnen, die es gilt, ans Licht zu bringen, indem man die dominierende idealistische Tradition durch die Ausarbeitung einer "Counter-Philosophy" analog zur "Counter-History" (22) dekonstruiert. Während letztere die Siegergeschichte dekonstruiert und an deren Opfer erinnert, demontiert erstere "den Primat des Geistes und erinnert an das unversöhnte naturale Moment in ihm." (22) Fragt man nach dem Hauptmerkmal des Materialismus, so wird man zunächst auf den Primat des Stofflichen gewiesen, sodann aber differenzierter auf den Primat des Körpers vor dem Geist, des Objekts vor dem Subjekt und der Praxis vor dem Denken. Der dreifache Vorrang des Stofflichen meldet sich erfahrungsgemäß in den elementaren Bedürfnissen des Körpers bzw. in der Unzulänglichkeit der Vernunft gegenüber der Natur und im Leiden der Menschen in der Geschichte.

Im Rahmen der Fundamentaltheologie setzt sich der Vf. zum Ziel, das verdrängte Erfahrungsmoment der Philosophiegeschichte zur Geltung zu bringen und theologisch fruchtbar zu machen. Somit gliedert sich seine Arbeit in zwei Hauptteile. In den ersten drei Kapiteln steht "eine kritische Rekonstruktion" des materialistischen Denkens im Vordergrund, in den Kapiteln vier bis sechs die Relevanz dieser "Counter-Philosophy" "für eine Begründung des Glaubens" (24). Im Ganzen bewegt sich der Vf. auf der Linie der Politischen Theologie und strebt - allerdings nicht unkritisch - eine Weiterentwicklung der von Johann Baptist Metz eingeforderten nachidealistischen Theologie an. Als Grundsatz der ganzen Arbeit dient wohl die theologische Aussage: "Eine Erlösung, welche die äußere Welt sich selbst überläßt und nur auf das vermeintliche Refugium der Innerlichkeit und das Reich des reinen Geistes zielt, ist keine." (30)

Im ersten Kapitel setzt sich der Vf. mit Verfechtern der materialistischen Denktradition von Demokrit und Epikur über Feuerbach und Schopenhauer bis zu Marx und Bloch auseinander und argumentiert überzeugend, dass ein adäquates Verständnis des menschlichen Geistes ohne Rücksicht auf das Stoffliche unmöglich ist. Schon Epikur hat uns an "des Fleisches Stimme" erinnert: "Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren!", und dabei die Bedürftigkeit des Menschen und dessen Angewiesensein auf das Stoffliche hervorgehoben. Diese Denktradition zog sich bis in die Neuzeit hinein, wo Ludwig Feuerbach gegenüber Hegel die sinnlich-pathische Verfassung des Menschen stark betonte, indem er das menschliche Wesen als ein somatisch vermitteltes darstellte. Bei Schopenhauer war es in erster Linie das Triebleben, das die materialistische Grundlage des Seelischen bildete, aber Marx schaute die Stoffhaftigkeit des Menschen in ihren praktischen Konsequenzen durch und fasste damit die Menschen als gesellschaftliche Wesen auf. Der Primat des Stofflichen bedeutet jedoch keineswegs, dass das materialistische Denken eine neue metaphysische Lehre an die Stelle der idealistischen rückt und das Denken selbst materialistisch erklärt. Neben dem Stofflichen gilt auch das Moment der Transzendenz, das sich nicht nur im Denken, sondern auch in der Potentialität der Materie selbst meldet. "Materie ist nicht nur das Schwere, das hinabzieht, sondern enthält als Potentialität, ..., ein unendlich Offenes, Transzendentes." (84)

Im zweiten Kapitel erörtert der Vf. die religionskritischen Züge des Materialismus, wie sie z. B. bei d'Holbach, La Mettrie, Feuerbach, Marx und Nietzsche zum Ausdruck kommen. Nicht erst Marx, sondern schon d'Holbach hat im 18. Jh. die Religion mit einem Rauschmittel verglichen, das im Interesse der Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft die Menschen trunken macht. Der somatische Impuls der Religionskritik des 18. Jh.s stellte auch die Hoffnung auf eine Dauer nach dem Tode in Frage und betonte die Leidenschaft, Begierde and Lust des Menschen, dessen Geist als Teil der Materie verstanden würde. Bei der Religionskritik des 19. Jh.s kommt Feuerbach eine Sonderstellung mit seiner Behauptung zu, Gott sei bloß eine Projektion des Menschen. Zum Schluss stellt der Vf. fest, dass die Religionskritik des Materialismus eine doppelte Tendenz aufweist: einerseits das emanzipatorische Interesse und die Glücksemphase, andererseits die deutliche Betonung der unaufhebbaren Endlichkeit des Menschen. Die Erkenntnis der Naturwüchsigkeit des menschlichen Geistes führt in der Kritik zu einer metaphysischen Trauer und zum Lob der Stärke, wie es bei Nietzsche stark hervortritt.

Im dritten Kapitel befasst sich der Vf. mit den erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Tendenzen des Materialismus, die in der Annahme wurzeln, das Objekt habe Vorrang vor dem Subjekt. Gewiss ist die Erkenntnistheorie des Materialismus unhaltbar, sofern sie einen Abbildrealismus vertritt, aber recht verstanden, dient die erkenntnistheoretische Tendenz des Materialismus auch nach der Kantischen "Wende zum Subjekt" als wichtige Korrektur, weil sie das widerständige Moment am Objekt und damit die Abhängigkeit des Subjekts von einem "Etwas" erhellt. Der Übergang zum Vorrang des Objekts, so stellt der Vf. im Anschluss an Adorno fest, führt zu einer materialistischen Dialektik, wobei Natur und Geschichte ineinander greifen. Zur Geschichte gehört eine Auseinandersetzung mit der Natur, doch geht die Natur niemals in der Geschichte auf. Auf die Kultur bezogen heißt es: "Der materialistische Einspruch hält die Erinnerung nicht nur an die Naturwüchsigkeit der Kultur, sondern auch an das unabgegoltene Recht der Natur innerhalb der Kultur fest." (170)

Im vierten Kapitel beginnt der Vf. den theologischen Teil seiner Untersuchung und zeigt durch eine Auseinandersetzung mit Hansjürgen Verweyen, dass die materialistische Tradition gegen eine erstphilosophische Vermittlung des Glaubens spricht. Das heißt jedoch nicht, dass die Theologie im Geiste der Wort-Gottes-Theologie (Barth, Bultmann) auf die Begründung des Glaubens völlig verzichten und sich in eine "sturmfreie Zone" zurückziehen darf. Vonnöten ist ein nachidealistischer Vernunftbegriff, der nicht nur als Bedingung der Möglichkeit der Offenbarung Gottes, sondern auch als Horizont, innerhalb dessen diese Offenbarung als notwendig erscheint, dienen kann. Dadurch, dass er vom existentialen Begriff der Geschichtlichkeit Abschied nimmt und die geschichtliche Existenz des Menschen als "praktische Auseinandersetzung von Mensch und Natur" (187) auffasst, bringt der Vf. das Widerständige, d. h. all das, was die Vernunft nicht beherrschen und assimilieren kann, ans Licht und erhellt damit die Vernunft als somatisch vermittelt und deshalb als jenseits des Identitätsprinzips der idealistischen Philosophie liegend. Die Vernunft ist eine rationale Bewegung, deren Bedingung und Grenze das leiblich-stoffliche Moment einschließlich der Gesellschaftsstrukturen bildet, und sie hat primär die Differenz, nicht die Einheit zu denken. Solches Denken kann freilich bei der unaufhebbaren Differenz zwischen dem Subjekt und dem Andern ansetzen, aber Transzendenz eröffnet sich letzten Endes nicht in den Augen des Anderen, sondern in den vom Anderen hervorgerufenen kollektiven Erinnerungen. Von daher zeigt sich die somatisch vermittelte Vernunft als anamnetisch.

Der Vf. schreitet im fünften Kapitel zu einer kritischen Diskussion der Theologie Karl Rahners, um ein dem neu gewonnenen Vernunftbegriff entsprechendes Verständnis des "Hörers des Wortes" herauszuarbeiten. Grundsätzlich gilt: der "Hörer des Wortes" ist kein abstraktes Wesen, sondern ein natural, intersubjektiv und historisch konstituiertes Subjekt (221). Allerdings betonte Rahner besonders in seinen späteren Schriften die Wichtigkeit von Materie und Leib, aber die teleologische Ausrichtung seiner Theologie hinderte ihn daran, die ganze Tragweite des Somatischen im Offenbarungsrezipienten richtig zu erkennen. Wie die Vernunft anamnetisch ist, so ist sie auch sprachlich und deshalb mimetisch; Mimesis (im Sinne von Ausdruck und Darstellung) und Anamnesis bezeichnen also zwei Momente sprachlicher Rationalität (252). Anhand der Arbeiten Walter Benjamins erläutert der Vf. die Verflochtenheit von Sprache und Geschichte und daraufhin den Text-Charakter Letzterer. Geschichte muss "gelesen" werden, und sofern sie als Universalgeschichte "gelesen" wird, steht sie im Interesse der Kontinuität und verdrängt das Katastrophale der Vergangenheit. Gerade die Kontinuität der Universalgeschichte zu sprengen, ist Sache des Eingedenkens des Somatischen im Subjekt. Denn Geschichte ist in Wahrheit diskontinuierlich; sie ist Fragment nicht nur hinsichtlich ihrer noch ausstehenden Vollendung, sondern auch im Hinblick auf ihren bisherigen katastrophischen Verlauf. Sie wird nicht bloß verstanden, sie will auch gerettet werden (282), und darum gehören Antizipation (Pannenberg) und Erinnerung zusammen (283). "So ist das endliche, somatische Subjekt nicht nur Hörer, sondern mehr noch Leser des Wortes. Es ist der Text der Geschichte in seiner Verfallenheit an Natur und Vergängnis, in welchem sich, wenn auch nur gebrochen, das Neue und Andere verspricht." (288)

Im sechsten Kapitel widmet sich der Vf. einer Schilderung der geschichtlichen Physiognomie der Offenbarung. Nach einer Kritik der Wort-Gottes-Theologie (Barth, Ebeling) konstatiert der Vf. im Anschluss an Pannenberg, dass die Selbstoffenbarung Gottes indirekt in der Geschichte sich vollzieht. Da aber die endliche Transzendenz im Sinne der Anerkennung des Anderen die anthropologische Bedingung der Offenbarung bildet, geschieht letztere nicht in der Universalgeschichte, sondern in der "Counter-History", die vom somatischen Subjekt "gelesen" wird. An dieser Stelle wird deutlich, dass das Subjekt als produktiver Ausleger des Textes tätig werden muss, damit die Offenbarung überhaupt vermittelt wird (292, vgl. 310), und dass ferner diese Tätigkeit darin besteht, wie Benjamin es ausdrückte "Geschichte gegen den Strich zu bürsten" (297). Die anamnetische Vernunft stellt die bisherige, offizielle Geschichte unter Ideologieverdacht und objektiviert sich als Gegen-Geschichte. Dem Charakter der Offenbarung entsprechend, erweist sich das Heil und Unheil als somatisch vermittelt; Materie, Leib, Geschichte und Gesellschaft sind "die entsprechenden Schauplätze und Konkretionen von Heil oder Unheil" (311). Diese Auffassung der Erlösung findet der Vf. primär im Alten Testament bestätigt, aber auch die Wundererzählungen des Neuen Testaments bezeugen, "daß Heil nicht jenseits von Leib und Geschichte als ein rein innerliches oder geistiges zu denken ist, ..." (351). Zum Schluss stellt der Vf. fest, dass der Leib monadologisch als der Schauplatz der Geschichte dient, weil am Schicksal des Leibes die dialektische Geschichte ablesbar ist. Am Leib der Opfer verherrlicht sich der Sieger, und am Leib der Befreiten wird die Erlösung konkret, wie die Rede von der Auferstehung des Fleisches andeutet.

Wer sich für Politische Theologie interessiert, der wird von der Lektüre dieser Arbeit sicher profitieren. Freilich ist die Kritik des Vf.s an der protestantischen Tradition, insbesondere an der "Wort-Gottes-Theologie", nicht immer zutreffend, aber trotzdem bietet der Vf. wichtige Impulse für eine Politische Theologie an und fügt immer wieder interessante Beobachtungen zur Kultur und Gesellschaft ein. Grundsätzlich zu bemängeln sind aber die Unklarheiten in Bezug auf den zentralen Begriff der Materie. Vielleicht gehört es zur materialistischen Denktradition als "Counter-Philosophy", ihre Begrifflichkeit weniger genau zu bestimmen, als man in der "mainstream"-Tradition erwartet. Wenn aber Natur, Geschichte, Leib, Materie und Stoff wesentlich miteinander verbunden sind, würde man gerne wissen, worin das Wesentliche besteht. Solche Klarheit wäre die Voraussetzung für eine Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlichen Verständnis der Materie, was m. E. notwendig sein wird, wenn man darauf beharrt, die Materie zum zentralen theologischen Begriff zu machen. Es ist z. B. fraglich, ob der vom Vf. behauptete Gegensatz von Materie und Relation (370. 374) angesichts der Naturwissenschaft wirklich standhält. Wegen der definitorischen Unklarheit des Materiebegriffs ist es auch schwer zu beurteilen, inwiefern die hier angestrebte Verknüpfung vom Materialismus und Dekonstruktivismus wirklich gelungen ist. Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass der Vf. sich dabei in Widersprüche verwickelt hat.