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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

533–535

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kohnle, Armin

Titel/Untertitel:

Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001. 484 S. gr.8 = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 72. Geb. ¬ 49,95. ISBN 3-579-01757-8.

Rezensent:

Georg Schmidt

"Das man das Evangelium predigen soll nach schrifft von Christlicher kirchen angenummen, das dann allein die Biblischen bücher seind." Martin Bucer brachte die Predigtklausel des Regimentsabschiedes vom 6. März 1523 auf den evangelischen Punkt. Der Text ist weniger eindeutig: Die Fürsten sollten bis zum Konzil dafür sorgen, dass "nichts anders dan das heilig evangelium nach auslegung der schrieften von der cristlichen kirchen approbirt und angenommen" gepredigt werde. Zudem wollte man mit Kurfürst Friedrich von Sachsen darüber verhandeln, Luther und seinen Anhängern bis zum Konzil ein Publikationsverbot zu erteilen (126 ff.).

Ein großer Teil der reichspolitischen Auseinandersetzungen um das Evangelium lässt sich von hier aus problematisieren. Dies ist möglich, weil nun mit der vorbildlich gearbeiteten, das Geschehen chronologisch zusammenfassend erzählenden und klug kommentierenden Heidelberger Habilitationsschrift ein Werk vorliegt, das den für die frühe Reformationsgeschichte zentralen Zusammenhang der Entscheidungsebenen "Reich" und "reichsständische Herrschaft" thematisiert. K. beschreibt die Verhandlungen, Abschiede und Mandate zur Causa Lutheri auf Reichsebene zwischen 1517 und 1532, um jeweils anschließend deren Umsetzung in sechs Kurfürstentümern sowie in jeweils sechs weltlichen und geistlichen Fürstentümern zu schildern. Das sehr gut lesbare, stringent und nachvollziehbar argumentierende Buch bietet eine Fülle neuer Details und Einsichten zum Ringen zwischen Kaiser Karl V., den Reichstagen und den einzelnen Reichsständen um die Entscheidungskompetenz über den wahren Glauben. Die Auswertung ungedruckter Quellen aus 14 Archiven, teilweise entlegenen Aktenpublikationen und der Sekundärliteratur konzentriert K. zu einem beeindruckenden Panorama der frühen Reformationszeit.

Mit dem Wormser Edikt, einem die Lehre Luthers verbietenden kaiserlichen Rechtsgebot, und den bisher von der Forschung wenig beachteten deutungsoffenen Regimentsmandaten von 1522 und 1523 existierten sich widersprechende Anordnungen der Handlungsebene Kaiser und Reich. "Seither herrschte ein reichsrechtlicher Pluralismus in doppelter Hinsicht: Kaiserliches Rechtsgebot stand gegen ständisches Einungsrecht, außerdem traten die ständischen Satzungen in Konkurrenz zueinander, weil das Spektrum der reichsrechtlichen Regelungen in den folgenden Jahren durch die Religionsabschiede der Reichstage immer mehr erweitert wurde." (441) Karl V. beanspruchte auch in Glaubensfragen eine verbindliche monarchische Verfügungsgewalt, die im Traditionsgebäude der Reichsverfassung so bisher nicht üblich war. Die Reichsstände verstanden sich als Mitregenten, nicht als Untertanen, und sie sorgten mit konsensualen und offenen Regelungen dafür, dass das Wormser Edikt in den zwanziger Jahren mehr oder weniger in Vergessenheit geriet.

Da es keine eindeutigen, reichsrechtlich verbindlichen bzw. allgemein anerkannten Normen gab, nutzten die Reichsstände ihren Entscheidungsspielraum: Sie betrachteten entweder den kaiserlichen Lutherbann als Rechtsgrundlage ihrer Religionspolitik oder sie hielten ihn durch die Formelkompromisse der Regimentsmandate oder Reichsabschiede für überholt bzw. reagierten überhaupt nicht auf die Vorgaben des Reichs. Grob vereinfacht könnte man sagen, dass diese Grundpositionen mit vielfältigen Variationen und fließenden Übergängen bis 1529 bestanden. Während man auf Reichsebene noch versuchte, einen Konsens vorzutäuschen, gab es spätestens seit dem Bauernkrieg offen unterschiedliche Haltungen der Reichsstände zur reformatorischen Bewegung.

Die ursprünglich von Ranke eher beiläufig postulierte "Spaltung [in] der Nation" (202), wird dem Geschehen aber nur bedingt gerecht. Hat der vorwiegend politisch, teilweise auch gewaltsam ausgetragene Religionsdissens "die Nation" gespalten? Die Ständenation suchte und fand auf den Reichstagen integrierende Kompromissformeln, das Volk ergriff für oder gegen die neue Lehre Partei und setzte die Obrigkeiten nicht nur deswegen unter Druck. Die Sprachnation profitierte von der Bibelübersetzung, wobei der spätere Streit um Lutherdeutsch und "Luther-e" - Krone vs. Kron - nur in den Augen einiger Sprachforscher Ausdruck einer tief greifenden nationalen Spaltung ist. Das Ganze lässt sich daher auch anders deuten: Bereits in der frühen Reformationszeit zeigte sich, dass verschiedene Varianten des christlichen Glaubens nebeneinander bestehen konnten. Obwohl dieser Streit mit der Speyrer Protestation 1529 öffentlich ausgetragen wurde, blieb die einvernehmliche politische Zusammenarbeit der Reichsstände in anderen Fragen möglich, wie das gemeinsame Vorgehen zur Türkenabwehr oder die Augsburger Reichspolizeiordnung zeigt. Die reichsständischen Obrigkeiten handelten unterdessen vor allem unter Berufung auf die angeblich einhellig beschlossene Freigabe der Religion im ersten Speyrer Reichsabschied 1526 - jeder Stand sollte sich so verhalten, wie er es gegenüber Gott und dem Kaiser verantworten zu können glaubte - wie sie es für richtig hielten. Kaiser und Reich duldeten dieses Verhalten oder legitimierten es mit befristeten Anständen.

Die Causa Lutheri beweist einmal mehr, wie sehr in Deutschland die reichischen und die territorialen Handlungsebenen miteinander verflochten waren. Die immense Bedeutung der Religionsfrage zwang Karl V. geradezu, eine Entscheidung der noch unausgetragenen Verfassungsangelegenheiten zwischen seinen monarchischen Ambitionen und den ständischen Partizipations- und Obrigkeitsansprüchen zu suchen. Doch selbst der militärische Sieg brachte ihn 1547 seinen monarchischen Vorstellungen kaum näher. Der Augsburger Religionsfriede bestätigte das System komplementärer Staatlichkeit: Kaiser und Reich(sstände) einigten sich auf bestimmte Rahmenregelungen, die auf territorialer Ebene ausgefüllt wurden.

"Die Betrachtung landesherrlicher Religionspolitik unter dem Aspekt der Umsetzung von Reichsentscheidungen kann bei der Frage nach Veröffentlichung oder Nichtveröffentlichung von Beschlüssen oder der direkten Anwendung des Wormser Edikts nicht stehen bleiben." (15) K. ist es gelungen, die Tiefendimensionen zu erfassen, d. h. er hat alle Spuren aufgezeigt, die "Reichsentscheidungen" in den Territorien hinterließen. Das Buch verbindet insofern Reichs- und Landesgeschichte in vorbildlicher und beeindruckender Weise, obwohl es auf eine systematische Behandlung des Verhältnisses von Kaiser und Reich einer- sowie den Reichsständen andererseits verzichtet. Die in der Forschung verbreitete Tendenz, die Rolle des Reiches für das Reformationsgeschehen zu minimalisieren, weil die kaiserlichen Gebote und die Mehrheitsentscheidungen der Reichstage nicht von allen Ständen befolgt worden seien, verbietet sich nach dieser Lektüre: Reichssatzungen und kaiserliche Mandate markierten den Rahmen innerhalb dessen legitimes Handeln möglich war. Die Reichsstände handelten zunächst korporativ auf den Reichstagen, bevor sie einzeln auf diese Vorgaben reagierten. Das Reich war eine Größe, "die im Rechtsleben der Territorien eine beachtliche Rolle spielte" (445). Deswegen verhinderten die Stände Reichstagsbeschlüsse, die ihnen später keinen Handlungsspielraum ließen. Und wo dies nicht der Fall war - wie etwa beim Wormser Edikt - war selbst Kaiser Karl V. bereit, den sächsischen Kurfürsten damit nicht zu behelligen. Es wurde nicht nach Torgau übersandt und 1532 faktisch aufgegeben.