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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

531 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Detmers, Achim

Titel/Untertitel:

Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. VIII, 392 S. m. Abb. gr.8 = Judentum und Christentum, 7. Kart. ¬ 35,30. ISBN 3-17-016968-8.

Rezensent:

Heinz Schreckenberg

Dieses Buch ist eine für den Druck geringfügig überarbeitete Dissertation, angenommen im Sommersemester 2000 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Universität Gießen. Nach einer einleitenden Darstellung des Forschungsstandes behandelt Achim Detmers "Das Nebeneinander von Christen und Juden in der Reformationszeit" (37-116); "Die Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum bei ausgewählten Reformatoren" (117-238); "Die Anfänge der Israel-Lehre Calvins in der Zeit des Baseler Exils (1535/36)" (239- 279); "Die Weiterentwicklung der Israel-Lehre Calvins und die Veränderungen in seiner Haltung gegenüber dem Judentum (1536-1544)" (281-317).

Thematisiert werden im Einzelnen vor allem Fragen der Kontinuität von Altem und Neuem Bund, die christliche Interpretation der hebräischen Bibel, die heilsgeschichtliche Ablösung (Substitution) des Judentums durch das Christentum, die Judenmission, der (innerchristliche) Vorwurf des Judaisierens, die Duldung der Juden in den Territorien christlicher Herrscher und die antijüdische Polemik (angebliche Bildschändungen, Hostienschändungen, Ritualmorde).

Der reiche Inhalt dieses Werkes kann hier nicht angemessen referiert werden, nur soviel sei gesagt, dass D. in vollem Umfang seinem Anspruch gerecht wird, den Ursprung und die Entwicklung der frühen Israel-Lehre Calvins und seine Haltung gegenüber dem Judentum aufzuzeigen. Er ermittelt z. B. schlüssig die Ausprägungen des seinerzeitigen theologischen Antijudaismus und stellt zu Recht fest, dass es wenig Begegnungen der Reformatoren mit Juden gab und dass dementsprechend die Israel-Lehre im 16. Jh. hauptsächlich der innerchristlichen Profilierung und der Abgrenzung nach außen diente. "Israel-Lehre" ersetzt übrigens gut den noch vor einigen Jahrzehnten üblichen antijüdisch gefärbten Begriff "Judenfrage", in dessen Rahmen israeltheologische und sozialgeschichtliche Wertungen meistens vom hohen Ross herab erfolgten. Sehr zustatten kommen D.s Buch besonders die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Holzschnitte sowie der Abdruck aller wichtigen Quellentexte samt deutscher Übersetzung. Beides erleichtert dem Leser das Mitdenken und ermöglicht Einblicke in historische Zusammenhänge. Jedenfalls konstatiert D. zutreffend, dass sich an den Bildern ablesen lässt, wie sich das christliche Judenbild vom "Zeugen der Wahrheit" zum "Bundesgenossen des Teufels" wandelt (38).

Da und dort überzeugt die Bildinterpretation nicht, so 109- 110 (bezüglich Luthers Spott über die jüdischen Geheimlehren, verknüpft mit der Judensaudarstellung an der Wittenberger Stadtkirche: Hier ist "pirtzel" nicht "Hinterteil" der Sau, sondern deren Schwanz (vgl. 163 Anm. 9). Wirklich gravierend sind aber Fehlverständnisse betreffend die lateinischen Texte, weil diese Quellen einen großen Teil von D.s Werk füllen und deren Interpretation für seine Argumentationen wesentlich ist. Hier nur drei Beispiele:

S. 201: (zu Bucer) übersetzt D. in vellere pluvia ... in area mit "Regen in einer dünnen Wolke ... wie ein Regen auf dem Feld", dies in totaler Verkennung der Intention des Reformators, der hier an Richter 6,36-40 dachte: Gideons Vlies auf der Tenne.

S. 201 (zu Bucer; Bezug auf Röm 11): "Ölbäume, welche reiche Frucht in Gestalt des rechten Lebens tragen" (foecundae vitae rectae oleae); D. übersetzt unrichtig "(wir sind) voll von dem Leben des rechten Ölbaums". Das parallel stehende steriles omnis boni oleastri liefert den Schlüssel zum richtigen Verständnis der Aussage Bucers.

S. 297 (zu Calvin): Der Bund wurde von Abrahams Nachkommenschaft weg übertragen (translatum) auf das Christenvolk. D. deutet: "daß der Bund durch die Nachkommenschaft Abrahams hinfällig geworden sei", was Calvins Überzeugung verkennt; denn für diesen werden die Christen in den (sozusagen als Rahmen bestehen bleibenden!) Bund adoptiert, die Kontinuität von Gottes Bundeshandeln wird also nicht unterbrochen!

Zutreffend stellt D. fest, dass es in den Bibelkommentaren der Reformationszeit darum ging, die Wahrheit des christlichen Glaubens unter Beweis zu stellen (213 zu Bucer). Im Hinblick darauf ist es aber zumindest missverständlich, wenn er die Hebraica veritas als "christliche Wahrheit" bezeichnet (102) ; denn es geht um die durch christologische Exegese aus der hebräischen Bibel zu erhebende Wahrheit des Christentums.

Das wertvolle Buch hätte ein besseres Korrekturlesen verdient gehabt. So stört sehr, dass das deutschsprachige Summary als 4. Abschnitt im Kapitel E versteckt ist, also den anderen die einzelnen Kapitel beschließenden Zusammenfassungen satztechnisch gleichgestellt erscheint. Auch die Umbruchpanne S. 316/ 317 war vermeidbar.

D.s besonders anzuerkennende Leistung liegt m. E. in einem guten kritischen Gesamtüberblick über das breite Spektrum seines Themas. Aber es fehlt auch nicht an Tiefenschärfe, und manche Detailfragen sind überzeugend beantwortet, so S. 293- 297 das Verhältnis von Calvins Ad quaestiones et obiecta Iudaei cuisdam zu Schemtob ben Isaak ibn Schapruts Eben bochan (Ende 14. Jh.).