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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

526–528

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bubenheimer, Ulrich, u. Stefan Oehmig [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Querdenker der Reformation. Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung.

Verlag:

Würzburg: Religion & Kultur-Verlag 2001. 297 S. m. ca. 20 Abb. 8. Kart. ¬ 23,00. ISBN 3-933891-07-8.

Rezensent:

Andreas Gößner

Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis eines 1999 veranstalteten Kolloquiums zu Person und Werk des Theologen und Dissidenten der frühen Reformation Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486-1541).

Ein Jahr vor Veranstaltung dieses Kolloquiums erschien auf der Basis eines Arbeitsgesprächs der Arbeitsgruppe Karlstadt-Edition bereits ein Sammelband zu Bodenstein (B.), der von Sigrid Looß und Markus Matthias herausgegeben wurde (Wittenberg 1998; Themata Leucoreana 4) und Beiträge von Autoren enthält, die im vorliegenden Sammelband ebenfalls mitgewirkt haben. Auf Grund dieser Vorgeschichte wundert es nicht, dass auch im vorliegenden Band die wesentliche Aufmerksamkeit der Analyse zahlreicher Druckschriften B.s aus unterschiedlichen Kontexten gilt.

In dem Beitrag von U. Bubenheimer über "Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine fränkische Heimat" (15-48) werden die auf seine Heimat bezogenen literarischen Aktivitäten B.s untersucht. Der zeitliche Schwerpunkt dieser Aktivitäten lag in den Jahren 1520-22 und die Rezeption seiner Schriften in Franken setzt sich auch in die Zeit nach dem Bruch zwischen Luther und B. fort. Diesen Bruch, der sich auf die Wittenberger Reformen Karlstadts und deren Ablehnung durch Luther zurückführen lässt, dokumentiert ein vertraulicher Brief B.s an den Nürnberger Propst von St. Sebald, Hektor Pömer, vom 27. März 1522, den Bubenheimer als Faksimile, Edition und in Übersetzung seinem Beitrag folgen lässt. Die darin anklingende Reaktion B.s auf Luthers Invocavit-Predigten an einen Adressaten in Franken zeigt sein Interesse, seine in der Wittenberger Bewegung deutlich artikulierte Orientierung am biblischen Gesetz Gottes weiter zu propagieren. Es ist die gleiche pädagogisch-theologische Grundhaltung, die B. auch in Veröffentlichungen, so z. B. im frühesten reformatorischen Bildflugblatt Himmel- und Höllenwagen (1519), vertreten hat.

H.-P. Hasse analysiert in seinem Beitrag ("Von mir selbs nicht halden: Beobachtungen zum Selbstverständnis des Andreas Bodenstein von Karlstadt" [49-73]) B.s Selbstdeutung seines Wirkens. B. verzichtet sowohl auf prophetisch-apokalyptische Selbsttitulaturen (im Unterschied zu Thomas Müntzer) als auch auf programmatische Deutungen des eigenen Namens (im Unterschied zu Martin Luther). Vielmehr lassen sich nur wenige Selbstaussagen ermitteln; daneben ist aber die Hochschätzung seines Namenspatrons für B. beachtenswert. Auf den Titelblättern von zwei Flugschriften (über den Willen Gottes und über die Gelassenheit) hat sich B. 1523 als neuer Laie bezeichnet und damit Position bezogen für eine sich selbstbewusst artikulierende Laientheologie in Abgrenzung zur akademischen und klerikalen Gottesgelehrtheit, die den falschen Umgang mit der Heiligen Schrift pflege und der deshalb auch die Gelassenheit als christliche Tugend fehle. In zwei 1525 verfassten Flugschriften gegen Luther bezeichnete sich B. als berufen und erwählt zur lauteren Verkündigung des Kreuzes Christi, und dies geschah vor allem auf Grund der Polemik Luthers und zur Selbstvergewisserung B.s in seiner Situation als Dissident.

In seinem Beitrag "Andreas Bodensteins von Karlstadt Augustinvorlesung. Neue Aspekte im Lichte studentischer Nachschriften" (75-86) formuliert V. Gummelt wertvolle Einsichten zu B.s Augustinkommentar, der dessen umfangreichste Veröffentlichung überhaupt darstellt. In dem in acht Exemplaren überlieferten Druck mit einem Teilkommentar zu Augustins Schrift De spiritu et litera untersucht Gummelt die handschriftlichen Eintragungen. Damit gelingt eine Rekonstruktion der konkreten Inhalte von B.s Wittenberger Augustinkolleg des Jahres 1518 und es werden interessante Einblicke in B.s Beschäftigung mit diesem Kirchenvater möglich.

Im Widmungsschreiben zu seinem Kommentar über Augustins De spiritu et litera vom November 1517 legt B. Rechenschaft über seine reformatorische Wende ab. Ausgehend von diesem Bekehrungsbericht charakterisiert M. Matthias "Die Anfänge der reformatorischen Theologie des Andreas Bodenstein von Karlstadt" (87-109). Als Anlass für B.s Bekehrung thematisiert M. die Wirkung eines - nicht mehr feststellbaren - Satzes aus den Schriften Augustins und den Einfluss des Johannes von Staupitz; letzterer lässt sich an B.s Rezeption von Staupitzens Schlüsselbegriff von der Süße Christi (dulcedis Christi) festmachen. Die Ausführungen münden in die schlüssig begründete Hypothese, dass der augustinische Schlüsselsatz in der Schrift Über die Selbstbeherrschung (De continentia) zu finden sei.

S. Todt untersucht unter dem Titel "Äußeres und inneres Wort in den frühen Flugschriften des Andreas Bodenstein von Karlstadt - Das Bild vom Laien" (111-134) anhand des linguistischen Ansatzes von Umberto Eco den Schreib- und Argumentationsstil B.s am Beispiel von drei Flugschriften der Jahre 1520-22. Die ausgewählten Texte dienen der Vn. als Beispiele für einen einmal sachlichen, ein anderes Mal mystischen und schließlich einen agitatorischen Duktus im Hinblick auf den Laien als Rezipienten von B.s Publizistik.

M. Brecht konzentriert sich in seinem Beitrag "Andreas Bodenstein von Karlstadt, Martin Luther und der Kanon der Heiligen Schrift" (135-150) auf die Genese des reformatorischen Schriftprinzips in Wittenberg. B. kann als Verfasser der beiden ersten reformatorischen Schriften zum biblischen Kanon angesehen werden. Besonders seinen Schriften Von den kanonischen Schriften (De canonicis scriptis) und Welche Bücher biblisch seind gesteht Brecht eine "große reformationsgeschichtliche Bedeutung" (136) zu. In der ersten dieser beiden Schriften ist das reformatorische sola scriptura breit entfaltet; in beiden lässt sich auch der zwischen B. und Luther entfachte Dissens um die Kanonizität des Jakobusbriefes präzise dokumentieren.

St. Oehmig ("Christlicher Bürger - christliche Stadt? Zu Andreas Bodensteins von Karlstadt Vorstellungen von einem christlichen Gemeinwesen und den Tugenden seiner Bürger" [151-185]) behandelt die Vorstellungen von Wittenberg als einer christlichen Stadt, die an der Jahreswende 1521/22 als Druckvermerk auf Schriften B.s erstmals auftauchen - so auch in der Stadtordnung vom Beginn des Jahres 1522. B.s Verständnis eines derart qualifizierten Gemeinwesens und sein dahinter stehender, jedoch nicht als Gesamtkonzept entfalteter Tugendbegriff werden deshalb von Oe. diskutiert. Einen zentralen Stellenwert nimmt dabei die Gelassenheit ein, die als zentrale Tugend vorgestellt wird; der Dekalog und die christliche Nächstenliebe bestimmen ferner den konkreten Lebensvollzug des Individuums, und sie bilden die strikt zu befolgenden Grundprinzipien für das sittlich-religiöse und soziale Leben in der Gemeinschaft der christlichen Stadt.

Anhand von vier Schriftstücken aus der Korrespondenz von B. und Thomas Müntzer verweist S. Bräuer ("Der Briefwechsel zwischen Andreas Bodenstein von Karlstadt und Thomas Müntzer" [187-209]) auf Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede im theologisch-reformatorischen Ansatz, die die unter den Zeitgenossen vorherrschende Identifizierung der Positionen beider deutlich relativieren. In einer Momentaufnahme, die den fragmentarischen Charakter der erhaltenen Briefe aus den Jahren 1522 bis 1524 widerspiegelt, gelingt es Bräuer, die unterschiedlichen Überzeugungen B.s und Müntzers z. B. im Schrift- und Glaubensverständnis, in ihrer Haltung zu Gewalt und ihrem apokalyptischen Denken herauszuarbeiten.

Der entscheidenden Orlamünder Lebensphase B.s widmet sich V. Joestel in Anbindung an seine Monographie aus dem Jahr 1996 unter dem Titel "Andreas Bodensteins von Karlstadt Schrift Von dem Sabbat und gebotenen Feiertagen im Spiegel der sozialen Bewegung in Ostthüringen (1522-1524)" (211-227). Besonderer Schwerpunkt ist hierbei die Interdependenz zwischen dem konkreten reformatorischen Wirken B.s unter sozialhistorischer Perspektive und den in dieser Flugschrift formulierten theologischen Grundsätzen für den Sabbat. Auf der Grundlage von B.s Differenzierung von innerem (geistlichem) und äußerem Sabbat sowie seiner seelsorgerlich motivierten Anprangerung des Sabbatmissbrauchs diskutiert Joestel sozialökonomisch wirksame Formen des Widerstandes gegen Frondienste und Steuer- bzw. Zinsforderungen der lokalen Obrigkeiten.

Gestützt auf die Analyse der volkssprachlichen Publizistik vermittelt A. Zorzin Einblicke in das Thema "Gelassenheit gegen Sanftleben: die Umsetzung des neuen Glaubens in einen evangelischen Lebensstil bei Andreas Bodenstein von Karlstadt und seinen Anhängern (1522-1527)" (229-250). Anhand von B.s Positionierung gegen den altgläubigen Klerus und gegen die Wittenberger Theologen wird am Beispiel der Publizistik sein Vorhaben, als einfacher Laie zu leben, nachvollzogen. Im Hintergrund dieser Entscheidung stand für B. seine mystisch geprägte Auffassung der Gelassenheit, die im Zentrum seiner Kreuzes- und Leidenstheologie stand und deren Brisanz Z. im Rahmen der reformatorischen Rechtfertigungslehre und der Kritik an der kirchlichen Hierarchie unterstreicht.

M. G. Bayler äußert sich zu dem Thema "Andreas Bodenstein von Karlstadt und der gemeine Mann" (251-264) während der Phase der sog. Wittenberger Bewegung 1521/22. Die Anwendung des Ausdruckes gemeiner Mann vollzog sich bei B. unsystematisch, deshalb bedient sich Bayler der Analyse von B.s Traktat Von Abtuhung der Bilder und das keyn Bedtler unther den Christen seyn sollen (Ende Januar 1522). Darin treten die wichtigsten Charakteristika von B.s Verständnis des gemeinen Mannes, den B. als religiöses Vorbild sieht, als Teil seines gesellschaftlichen Reformprogrammes hervor.

S. Looß verfolgt mit dem Thema "Andreas Bodensteins von Karlstadt Haltung zum Aufruhr" (265-276) einen der besonders neuralgischen Punkte in der Beziehung Luthers und B.s, die Stellung zur Gewaltfrage. B.s Flugschriften im Vor- und Umfeld des Bauernkrieges und seine Lebenssituation (verschiedentliche Ausweisung wegen Anstiftung zum Aufruhr) verweisen dabei auf einen nicht zu lösenden Widerspruch.

Eine "Kleine Rundfahrt auf den Spuren von Andreas Bodenstein" (277-284) im Umfeld seiner Heimat (Eußenheim, Stetten an der Wern, Thüngen, Arnstein, Büchold und Hammelburg), die der Mitveranstalter des Kolloquiums vor Ort, W. Zapotetzky (vgl. den Nachruf auf den vor Drucklegung des Bandes verstorbenen Karlstadter Stadtarchivpfleger von G. Eichler, 10-14), niedergeschrieben hat, bietet abschließend Einblicke in die Lokalgeschichte der Herkunftsregion des eigenwilligen fränkischen Theologen Andreas B. von Karlstadt.

In dem vorliegenden Band sind wichtige Erkenntnisse zu Leben und Wirken des Andreas Bodenstein von Karlstadt zusammengestellt. Gerade die wesentlichen Aspekte des theologischen Dissenses mit Martin Luther, die sich vor allem in Bodensteins Verständnis einer evangelischen Ethik oder auch in seinem Obrigkeitsverständnis manifestieren, sind am Flugschriftenmaterial breit thematisiert und werden der weiteren Karlstadt-Forschung zugute kommen.