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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

523–525

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Resseguie, James L.

Titel/Untertitel:

The Strange Gospel. Narrative Design and Point of View in John.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2001. XI, 222 S. gr.8 = Biblical Interpretation Series, 56. Lw. ¬ 71,00. ISBN 90-04-12206-0.

Rezensent:

Christian Cebulj

Unter der Vielzahl neuerer Johannesarbeiten ist die hier vorzustellende Monographie von J. Resseguie ein schillerndes Beispiel, das der Rez. mit sehr ambivalenten Gefühlen aus der Hand legt. Der Vf., Professor für Neues Testament am Winebrenner Theological Seminary (Findlay/Ohio), stellt sich mit seiner Studie einer doppelten Aufgabe: De facto legt er eine literarische Analyse des Johannesevangeliums (= JohEv) vor, welche das zweifelsohne interessante literarische Konzept bestimmter Blickwinkel (points of view) im vierten Evangelium herauszuarbeiten versucht. Als eigentliches Ziel der vorliegenden Arbeit wird in der Einleitung jedoch formuliert, sie solle eben keine literarische Analyse sein, sondern der praktischen Anwendung dienen. Dabei hat R. Studierende, Biblische Theologen und Theologinnen und in der pastoralen Praxis Tätige im Blick, die bibeldidaktisch mit dem JohEv arbeiten wollen (2). Um es vorwegzunehmen: Hinter dem bibeldidaktischen Anspruch bleibt die Arbeit zwar weitgehend zurück, auf der exegetischen Ebene der Arbeit profitieren die Leser aber von einer Menge interessanter Beobachtungen am Text.

Um eine kritische Würdigung der Arbeit vornehmen zu können, muss differenziert werden zwischen der Originalität des methodischen Zugangs und der nur mäßig befriedigenden Art und Weise der Durchführung. In der Einleitung (1-26) definiert der Vf. sein Konzept vom "Blickwinkel" in Anlehnung an M. H. Abrams zunächst nur als "the way a story gets told" (1). Damit umschreibt Vf. wohl das, was die deutschsprachige Forschung den "impliziten Autor" nennt, obwohl dieser Begriff als Terminus technicus in der gesamten Studie nicht erwähnt wird. (Anders verhält es sich mit dem "impliziten Leser", den R. in Anlehnung an W. Iser in 23-26 als Adressaten des JohEv identifiziert: "The reader I envision of the Fourth Gospel shares some similarity to Iser's implied reader and other characteristics with Peter Rabinowitz's authorial reader" [25].) Seinen "Blickwinkel" unterteilt der Vf. in fünf Kategorien: Der implizite Autor will sein Evangelium den Lesern unter einem 1. ideologischen, 2. räumlichen, 3. zeitlichen, 4. phraseologischen und 5. psychologischen "Blickwinkel" vermitteln. Diese fünf Kategorien werden in der Einleitung (4-16) umrissen, wenn der Umfang mit maximal einer Seite pro Kategorie auch sehr knapp ausfällt.

Man tut bei der Lektüre von R.s Studie dennoch gut daran, sich immer wieder an der Einleitung zu orientieren. Denn die Durchführung der literarischen Analyse des JohEv mit Hilfe der "Blickwinkel"-Theorie basiert auf vier weiteren Elementen, die inhaltlich den Hauptteil der Arbeit ausmachen, jedoch nicht immer eindeutig einer der eingangs definierten Kategorien zuzuordnen sind: Im umfangreichen Mittelteil erläutert der Vf. sein Konzept des "Blickwinkels" in Bezug auf die johanneische Rhetorik (27-59), den "Blickwinkel" in Gestalt des erzählerischen Rahmens ("setting") im JohEv (63-107), den "Blickwinkel", wie er durch ausgewählte Charaktere im JohEv vermittelt wird (110- 168), und schließlich den "Blickwinkel" auf der Ebene der Handlungsebene (plot) des JohEv (169-196). Hier setzt die zentrale These R.s an: Durch den gezielten Einsatz der o. g. "Blickwinkel" versuche der implizite Autor des JohEv seiner Leserschaft vermeintlich bekannte und alltägliche johanneische Begriffe und Vorstellungen fremd/seltsam ("strange") erscheinen zu lassen, um dadurch die Aufmerksamkeit der Leser auf diese Begriffe und Vorstellungen zu lenken: "The narrator of the gospel uses every aspect of point of view to make strange common, everyday perspectives". (197). Den hieraus entstehenden Effekt nennt R. in Anlehnung an den russischen Formalisten Victor Shklovsky "Verfremdung" ("defamiliarization or making strange", 27). Auf der Basis dieser Verfremdungstechnik durch eine Reihe neuer und ungewohnter "Blickwinkel" meint der Vf. zeigen zu können, dass der implizite Autor des JohEv seinen Lesern eine neue und vertiefte spirituelle Weise des Denkens über Jesus vermitteln kann. Da R. sich die Leser des JohEv als real existierende "flesh-and-blood reader (actual reader)" vorstellt (25), bleibt leider bis zum Schluss seiner Studie unklar, welche Funktion die von ihm postulierte literarische Verfremdungstechnik haben soll. Was soll die neue, vertiefte Einsicht über Jesus bei den Adressaten des JohEv bewirken? Stärkung im Glauben? Identitätssicherung? Abgrenzung von konkurrierenden Gruppen der Jesusanhängerschaft?

Einige Beispiele aus den literarischen Analysen sollen das zurückhaltende Urteil des Rez. begründen: 1. Rhetorik: Auf dem Feld der Rhetorik versucht der Vf. am Beispiel der johanneischen Stilmittel Ironie, Missverständnis und Doppelsinnigkeit zu zeigen, wie der implizite Autor des JohEv arbeitet. Zur ironischen Frage des Nathanael "Was kann aus Nazareth Gutes kommen?" (1,46), auf die Philippus antwortet "Komm und sieh ...!", hält der Vf. lediglich fest: "for faith, in this instance, is the only way to see the strange in the ordinary" (31). Bloße "Verfremdung" wird m. E. an dieser Stelle der johanneischen Sehweise nicht gerecht. Vielmehr ist mit dem Begriff des "Sehens" im JohEv die ganze Breite des Bekenntnisses zu Jesus als dem fleischgewordenen Logos und Gesandten des Vaters verbunden.

Ähnlich vorsichtig bewertet R. die joh Missverständnisse: Bei der Selbstvorstellung Jesu als dem "lebendigen Wasser" gegenüber der Samaritanerin am Jakobsbrunnen (4,13-14) bleibt er bei der Beobachtung "The ambiguity makes strange what humankind calls living" (45). Hier ließe sich R.s Analyse mit der Frage nach der theologischen Funktion der joh Missverständnisse verbinden. H. Leroy hat in seiner bahnbrechenden Studie "Rätsel und Mißverständnis" (Bonn 1968) als Funktion der Missverständnisse formuliert, sie sollten zwischen Glaubenden der joh Gemeinde und den Nichtglaubenden unter den "Ioudaioi" und des "Kosmos" trennen. R. geht zwar kurz auf L. ein, resümiert zu den Missverständnissen dann aber nur kurz: "misunderstandings make strange the reader's stale perception of reality and open a fresh perspective on the world (= Culpepper's new way of reading)" (43). Auch hier bleibt der Vf. mit seinen literarisch zweifellos innovativen Analysen zur johanneischen Rhetorik hinter dem zurück, was sich über deren theologische Funktion und Aussagekraft sagen ließe.

2. Setting: Dieser Abschnitt, den der Vf. eng mit der räumlichen Kategorie seines "Blickwinkel"-Konzepts verbindet, beeindruckt durch die Gegenüberstellung Innen - Außen und die damit verbundene These, im JohEv repräsentierten Innenräume Sicherheit, das Äußere Bedrohung: "Inside space may signify security while outside space is perceived as threatening" (63). Angewandt etwa auf die Erwähnung des Synagogenausschlusses (9;22; 12,42; 16,22), den Schafstall (10,1.16), den Garten Gethsemani (18,1.26; 19,41), den Hof des Hohenpriesters (18,15) und das Prätorium (18,28.33; 19,9) ergibt sich in der Tat, dass es hier um geschützte Räume bzw. um Orte geht, an denen sich der johanneische Jesus selbstoffenbaren kann.

3. Charaktere: Von großer hermeneutischer Bedeutung für die gesamte Arbeit ist die (fast schon literatursoziologisch anmutende) Analyse verschiedener im JohEv auftretender Personen und ihrer Glaubenshaltung. Der Vf. profiliert drei Gruppen: a. dominante Ch. (Nikodemus, die Juden, die Welt, der königliche Beamte), b. marginalisierte Ch. (der Gelähmte am Teich Bethesda, der Blindgeborene, Maria Magdalena) und c. die Jünger (Simon Petrus, der Lieblingsjünger, Thomas, Judas Iskariot). Er diagnostiziert sehr treffend, wie die Oberschicht-Vertreter (a.) eine Art "Umwertung der Werte" durchlaufen, indem sie durch die Konfrontation mit der Botschaft Jesu ihre materielle Lebenseinstellung hinterfragen (fraglich bleibt hier, ob Nikodemus wirklich als dominanter Charakter gezählt werden kann oder ob er, der nachts heimlich zu Jesus kommt [Joh 2,2], unter den jüdischen Jesusanhängern nicht vielmehr als ein Stigmatisierter bzw. Marginalisierter anzusehen ist). Der Vf. stellt richtig heraus, dass die Marginalisierten (b.) durch ihre Begegnung mit Jesus aus ihrem todesähnlichen Status befreit werden, die Jünger bleiben gespalten in Anhänger, Zweifler und Feinde Jesu.

Auf den Abschnitt 4. innere Struktur (plot) kann aus Platzgründen nicht mehr eingegangen werden. In der Zusammenfassung (197-201) greift der Vf. inhaltlich logisch auf die fünf "Blickwinkel"-Kategorien des Eingangsabschnitts zurück und entfaltet auf dieser Basis seine Schlussthese: Durch die Profilierung eines räumlichen, phraseologischen, zeitlichen, psychologischen und ideologischen "Blickwinkels" schafft der Autor des JohEv ein literarisch-theologisches Erzählkonzept der Verfremdung, welches seine besondere Stärke auch darin hat, dass die verschiedenen Blickwinkel zueinander in Spannung stehen. Diese Spannung ist gewollt und eröffnet den Lesern neue, ungewohnte Blicke auf das vierte Evangelium.

Insgesamt eine lesenswerte literarische Analyse mit zahlreichen interessanten Textbeobachtungen, die offenbar als Fortsetzung der vorausgehenden Studie des Vf.s zur Apokalpyse des Johannes verstanden werden will: Revelation Unsealed. A Narrative Critical Approach to John's Apocalypse (Biblical Interpretation Series 32), Leiden 1998. Der methodische Zugang ist hier exakt derselbe, die Gliederungen gleichen sich bis in Details. Der Erweis der Tragfähigkeit des narrativen Konzepts verschiedener "points of view" ist dem Vf. in seiner Arbeit zur Apokalypse jedoch besser gelungen.