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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

520–522

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hengel, Martin, u. Anna Maria Schwemer

Titel/Untertitel:

Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels. Mit einem Beitrag von Ernst Axel Knauf.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1998. XXII, 543 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 108. Lw. ¬ 99,00. ISBN 3-16-146749-3.

Rezensent:

Traugott Holtz

Dass dieses überaus gewichtige Buch erst so verspätet hier angezeigt wird, ist bedauerlich. Doch mag es auch gut sein, dass jetzt noch einmal die Bedeutung des Werkes gebührend zu würdigen versucht werden kann. Sie ist groß. Denn die Verfasser präsentieren ein mit Abstand bislang unerreichtes Maß von historischem, religionsgeschichtlichem und archäologischem Material zu dem gesamten mutmaßlichen Raum, in dem sich der Apostel Paulus in der Zeit zwischen seiner Bekehrung/Berufung im Dunstkreis von Damaskus und seinem Aufbruch zur Mission westlich von Antiochia (Zypern und Kleinasien) sowie dem Apostelkonzil, d. h. zwischen den Jahren 33 (dem Datum der Bekehrung/Berufung nach Hengel/Schwemer) und 46/47 ("sog. 1. Missionsreise") bzw. 48/49 ("Apostelkonzil"), bewegt hat. Freilich geschieht das nicht in einer einfachen, archivalischen Aufhäufung aller erreichbaren Überlieferungen (obwohl die Darstellung bisweilen geradezu monographischen Charakter annimmt bei der Behandlung bislang von der Forschung weitgehend unerschlossener Bereiche), sondern in einer Form, die die Fülle des Stoffes in Beziehung setzt zu dem Weg und Werk des Apostels, die ihrerseits durch eben diese Arbeit erhellt werden. Das erfolgt in ständiger, öfters freilich reichlich scharfer, inhaltlich aber nicht immer unberechtigter Auseinandersetzung mit einem Paulus-Bild, das lange Zeit die deutschsprachige neutestamentliche Forschung maßgeblich bestimmt hat. Dieses Bild sollte nun endlich seine Faszination verloren haben.

Das Buch basiert auf Fundamenten und Vorarbeiten, die ihre Wurzeln in der Mitarbeit an der Ausgabe des "Jüdischen Krieges" von Flavius Josephus durch O. Michel/O. Bauernfeind (1959ff.) haben und deren endliches Ziel eine umfassende Darstellung der Geschichte des Christentums im 1. und 2. Jh. ist. Obwohl es sich mithin um eine Durchgangsstation eines als zusammengehörig und aufeinander bezogen angelegten weiteren Forschungsvorhabens versteht, liegt ein eigengewichtiges und eigenständiges Werk vor, das seinen Teilbereich umfassend zu erhellen unternimmt, auch wenn sich z. B. hinsichtlich der Beurteilung der Bedeutung des sog. Antiochenischen Zwischenfalls und der damit verbundenen Frage nach der Geschichte des Verhältnisses Paulus-Barnabas auf Grund der Auslagerung dieses Ereignisses durch Hengel/ Schwemer erst in die Zeit 52 n.Chr. (Act 18,22 f.) durchaus Probleme öffnen, die sich als uneingelöste Fragen schon an die vorliegende Arbeit richten (s. dazu unten).

Neben einem interessanten, wichtigen Appendix von E. A. Knauf zur "Arabienreise des Apostels Paulus" (465-471) hat das Buch zwei Autoren, deren jeweiliger Beitrag nicht (oder durch die Ich-Partien, die auf Hengel verweisen [s. IX], kaum) kenntlich gemacht ist. Die Vf. ermuntern zwar "die kundigen Literaturkritiker unserer Disziplin", sich an Quellenscheidungen zu versuchen, doch dürfte ein solches Unterfangen kaum gelingen. Sie legen einen einheitlichen Text vor; nur ganz gelegentlich tritt eine leichte Spannung hervor wie bei der Lokalisierung der Ereignisse hinter 1Thess 2,15(f.) (151: "in Judäa, nicht in Syrien"; 305: "doch wohl in Syrien"). Auch in einer gewissen Redundanz, die sich bisweilen aufdrängt, mag sich die Entstehungsgeschichte reflektieren (möglicherweise aber auch der Einsatz des Computers eine Rolle spielen). Eine redaktionelle Straffung des Textes wäre vielleicht hilfreich gewesen.

Der Weg des Apostels in der Zeit, die zur Verhandlung steht, wird weitgehend von den Angaben der Apg her rekonstruiert. Das ist gut begründet, wie gerade Hengel in vielen Veröffentlichungen überzeugend gezeigt hat. Gelegentlich freilich wird die Harmonisierung zwischen Lukas und Paulus überdehnt, wie bei der Identifikation von Act 9,26-29 mit Gal 1,18 f., auch wenn die Verarbeitung von auf den Vorgang bezogenen Traditionen durch Lukas durchaus wahrscheinlich ist; so ist in der Tat die Annahme erwägenswert, dass Barnabas bereits bei dem ersten Besuch des Paulus in Jerusalem (Gal 1,18 f.) eine Rolle (als Vermittler der Kontakte) spielte (vgl. 223 f.). In anderen Fällen aber gehen die Autoren durchaus robust mit Angaben der Apg um. Dies betrifft etwa die freilich besonders schwierige, aber doch wichtige Frage, warum erst im Jahr 48/49 n. Chr. die Beschneidungsfrage eine grundsätzliche Lösung durch das Apostelkonzil erzwang, obwohl doch Paulus seit rund 15 Jahren bereits das Evangelium unter den Völkern verkündigte. Denn dass der Apostel alsbald nach seiner Berufung begonnen hat, den auferstandenen Gekreuzigten als Christus zu predigen, sogleich in Damaskus, dann in der Arabia/dem Land der Nabatäer, im Gebiet von Tarsus, dem Norden von Syrien/Zilizien, schließlich in besonderer Beziehung zu Barnabas in Antiochia und von dort in ganz Syrien/Zilizien, das kann die Untersuchung von Hengel/Schwemer in hohem Maße wahrscheinlich machen. Dass aber zunächst in Jerusalem toleriert worden ist, dass - durch Paulus theologisch fundiert - in diesen Missionsgebieten schon von der Zeit in Damaskus an (s. 440 f.) Unbeschnittene getauft und dadurch in die Gemeinde aufgenommen wurden und erst die Änderung der politischen Situation (ab spätestens Mitte der 40er Jahre) dort zum Einspruch dagegen führte (s. z. B. 85.318), entspricht nicht dem Bild, das sich aus der Apg ergibt oder jedenfalls im Sinne des Lukas ergeben soll. Tatsächlich wird die Frage der Beschneidung auch erst - wie Lukas es insinuiert - auf der sog. ersten Missionsreise kritisch im Sinne der Heilsrelevanz geworden sein. An sich selbst ist sie das auch für Paulus nicht, wie theologisch 1Kor 7,19 und insbesondere Gal 5,6 und 6,15 und in praxi - selbst für die Zeit nach dem Apostelkonzil - Act 16,3 zeigen. Zurecht warnen die Vf. übrigens davor (442), die Häufigkeit der Taufe in der fraglichen Zeit zu überschätzen; und in einer Umwelt, in der religionsgeschichtlich semitische Einflüsse wirksam sind, hat die Beschneidung ohnehin einen anderen Stellenwert als im westlichen Kleinasien und in Griechenland; das gilt besonders für das nabatäische Gebiet. Schließlich zeigt die Izates-Geschichte (Joseph., ant. 20,17.34-48) nun doch auch, dass selbst sehr exponierte Nichtjuden unter Umständen bereit waren, sich beschneiden zu lassen.

In bestimmter Weise dürfte die Datierung des sog. Antiochenischen Zwischenfalls, der bei Lukas allerdings überhaupt nicht erwähnt wird, in die gleiche Problemlage gehören. Die Vf. datieren ihn erst (s. o.) in die Zeit zwischen der sog. 2. und 3. Missionsreise. Als sicher darf freilich gelten, dass Barnabas an der zweiten Missionsreise nicht mehr in irgendeiner Weise beteiligt war; so wird Act 15,39 den Bruch zwischen ihm und Paulus richtig datieren, wenn auch nicht seine eigentliche Ursache, nämlich den Antiochenischen Zwischenfall, aufdecken (und stattdessen höchstens einen akuten Anlass dafür nennen). Jedenfalls passt Gal 2,13b nur schwer in die Situation von Act 18,22 f. Ich halte es übrigens für wahrscheinlich, dass nicht schon auf der sog. ersten, sondern erst auf der ersten ganz selbständigen, ohne Rückbezug auf Antiochia unternommenen Missionsreise des Paulus (der sog. zweiten), also nach Apostelkonzil (und Antiochenischem Zwischenfall) die Gemeinden, an die Gal gerichtet ist, gegründet worden sind; doch hat schon R. Riesner (vgl. K.-W. Niebuhr, ThLZ 121, 1996, 277) gewichtige Gründe dafür geltend gemacht, sich wie die Vf. für die "südgalatische" Lösung zu entscheiden.

Gemessen an der Fülle überzeugender Beobachtungen und Analysen zum Weg des Apostels von Damaskus bis zum Aufbruch zur 2. Missionsreise, seinem Verlauf und der Situation, in der er verlief, sowie der Antwort darauf, die Paulus von der Erfahrung seiner Bekehrung/Berufung, aber auch seiner Herkunft her gab, sind die voranstehenden Anmerkungen nur von geringem Gewicht. Beeindruckend wichtig ist die auf tiefem und breitem Fundament bauende Darstellung der religions- und geisteswissenschaftlichen Lage im palästinisch-syrischen Großraum (einschließlich der historisch-politischen Gegebenheiten), die - jedenfalls soweit sie den Weg der frühen christlichen Mission betraf - gerade nicht hellenistisch oder gar gnostisch bestimmt war, sondern stark von semitischer Religion und Kultur beeinflusst. Besonders wichtig scheint mir zu sein, dass hier der gegenwärtig verbreiteten, fast axiomatisch vorausgesetzten Annahme einer eigenen "vorpaulinischen", gar heidenchristlichen Antiochenischen Theologie der Boden entzogen wird. Für ihre Existenz spricht nichts. Und ebenso schwerlich für von Galiläa ausgehende "Wanderradikale", die in Syrien eine besondere Bedeutung gehabt hätten. Da gelegentlich der 1Thess zum Zeugen dafür gemacht wird, dass Paulus zunächst, bevor er die Höhe der eigenen Theologie erreichte, diese postulierte "Antiochenische Theologie" vertreten habe, ist es - in Überschreitung der selbst gesetzten chronologischen Grenze - gerechtfertigt, auf diesen Brief am Schluss des Buches näher einzugehen und zu zeigen, dass er dafür zu Unrecht in Anspruch genommen wird, vielmehr für die Theologie steht, die Paulus selbst in Konfrontation seiner Welt mit der Erfahrung der Wirklichkeit des Auferstandenen entfaltet.

Das Buch wird abgeschlossen mit dem bereits genannten Appendix von E. A. Knauf, einer Zeittafel, Karten von Damaskus, Antiochia und dem syrischen Großraum sowie ausführlichen Registern (479-543). Dadurch wird der Zugang zu dem Werk wesentlich erleichtert, über dessen Inhalt ein recht detailliertes Inhaltsverzeichnis eine erste Übersicht gibt. So ist die Stofffülle, von der man - auch auf Grund mehrerer z. T. umfangreicher Exkurse - sich zunächst geradezu überwältigt fühlen kann, einigermaßen gebändigt. Die Lektüre des Ganzen ist überaus ertragreich; aber auch zu einzelnen einschlägigen Sachfragen ist das Buch eine Fundgrube. - Man hofft und wünscht, dass Martin Hengel und seine Mitarbeiter das geplante Gesamtwerk in ähnlicher Fülle vorantreiben und zum Ziel bringen können!