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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

515–517

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Anti-Judaism and the Fourth Gospel. Papers of the Leuven Colloquium, 2000. Ed. by R. Bieringer, D. Pollefeyt, and F. Vandecasteele-Vanneuville.

Verlag:

Assen: Van Gorcum 2001. XVI, 612 S. gr.8 = Jewish and Christian Heritage Series, 1. Geb. ¬ 104,36. ISBN 90-232-3712-9.

Rezensent:

Michael Labahn

Das Johannesevangelium (= JohEv) wurde als "judenfeindlichste[s] Evangelium" bezeichnet (M. Brumlik, KuI 4, 1989, 102- 113). Dieses Votum markiert einen Pol in der aktuellen Debatte, der die Dringlichkeit der inzwischen viel diskutierten Frage nach dem Antijudaismus dieser frühchristlichen Schrift belegt. So fand 2000 in Leuven ein internationales Symposium zu diesem Thema statt, zu dem Teilnehmer und Teilnehmerinnen unterschiedlicher theologischer Disziplinen, die durch verschiedene Publikationen zur Fragestellung hervorgetreten sind, eingeladen waren.

Den gegenwärtigen Standort der Debatte suchen die drei Herausgeber im ersten Beitrag Wrestling with Johannine Anti-Judaism zu bestimmen und erkennen fünf Leitfragen: (1) Ist das JohEv antijüdisch? (2) Wer sind "die Juden"? (3) Wie ist der zwischen joh Kreis und "den Juden" angenommene Konflikt zu verstehen? (4) Vertritt das JohEv eine "supersessionist christology"? (5) Welchen Beitrag leistet die Schrifthermeneutik? Für die Herausgeber steht fest: "(a) the Fourth Gospel contains anti-Jewish elements, (b) the anti-Jewish elements are unacceptable from a Christian point of view, and (c) there is no convincing way to simply neutralize or remove the anti-Jewish dimensions of these passages to save the healthy core of the message itself" (39). Daher sei ein neues Verständnis von Offenbarung als Lebens- und Liebesgemeinschaft zwischen Gott und Menschheit notwendig. Die Einladung Gottes in eine Alternativwelt durch die Schrift erfolgt unter den Bedingungen der faktischen Welt, und diese Konditionen - wie der Antijudaismus des JohEv- sind durch den Wahrheitsanspruch von Gottes Alternativwelt her zu kritisieren.

Die Beiträge des Kolloquiums werden in zwei Rubriken (allgemeine Zugriffe und Einzelthemen) präsentiert: J. D. G. Dunn, The Embarrassment of History: Reflections on the Problem of Anti-Judaism in the Fourth Gospel, R. A. Culpepper, Anti-Judaism in the Fourth Gospel as a Theological Problem for Christian Interpreters, S. Motyer, The Fourth Gospel and the Salvation of Israel: An Appeal for a New Start, J. W. van Henten, Anti-Judaism in Revelation? A Response to Peter Tomson, J. M. Lieu, Anti-Judaism in the Fourth Gospel. Explanation and Hermeneutics, S. Schoon, Escape Routes as Dead Ends: On Hatred towards Jews and the New Testament, Especially in the Gospel of John, B. Klappert, The Coming Son of Man Became Flesh: High Christology and Anti-Judaism in the Gospel of John, H. Hoet, "Abraham is our Father (John 8:39): The Gospel of John and the Jewish-Christian Dialogue, R. Burggraeve, Biblical Thinking as the Wisdom of Love. Es folgen Beiträge zu Einzelthemen: J. Beutler, The Identity of the Jews for the Readers of John, H. J. de Jonge, The Jews in the Gospel of John, M. C. de Boer, The Depiction of the Jews in John's Gospel: Matters of Behavior and Identity, R. F. Collins, Speaking of the Jews: Jews in the Discourse Material of the Fourth Gospel, P. J. Tomson, Jews in the Gospel of John as Compared with the Palestinian Talmud, the Synoptics and Some New Testament Apocrypha, A. Reinhartz, Jews and Jews in the Fourth Gospel, J. M. Sevrin, The Nicodemus Enigma: The Characterization and Function of an Ambiguous Actor of the Fourth Gospel, G. van Belle, "Salvation is from the Jews": The Parenthesis in John 4:22b, C. K. Barrett, John and Judaism, U. C. von Wahlde, "You Are of Your Father the Devil" in Its Context: Stereotyped Apocalyptic Polemic in John 8:38-47, M. J. J. Menken, Scriptural Dispute between Jews and Christians in John: Literary Fiction or Historical Reality? John 9:13-17, 24-34 as a Test Case, J. Zumstein, The Farewell Discourses in John (13:31-16:33) and the Problem of Anti-Judaism, J. H. Charlesworth, The Gospel of John: Exclusivism Caused by a Social Setting Different from That of Jesus (John 11:54 and 14:6), J. Lambrecht, "Synagogues of Satan" (Rev 2:9 and 3:9): Anti-Judaism in the Book of Revelation.

Im letzten Abschnitt formuliert H. H. Henrix in seinem Artikel Canon-Revelation-Reception: Problems of a Biblically Oriented Theology in the Face of Israel eine Synthese mit der beachtenswerten Konsequenz: "The renewal of the relationship between the Church and the Jewish people needs, in the first place, a greater sensitivity in the way theology, homiletic preaching, and the Church handle the Holy Scriptures" (548).

Mit diesem Tagungsband liegt eine anspruchsvolle Textkollektion vor (zwei Beiträge wenden sich der Johannesapokalypse zu und stellen Spuren von christlichem Antijudaismus fest: van Henten, Lambrecht), die verschiedene Aspekte des Themas mit unterschiedlichen Methoden und hermeneutischen Modellen beleuchtet. Neben diachronen Modellen (Tomson: drei literarische Strata von judenchristlichen Fragmenten; Charlesworth: 14,6b als sekundäre Redaktion) werden text- und leserorientierte Zugänge in ihrer Bedeutung für die verhandelte Fragestellung erkannt und rezipiert. So stellt Motyer mit Hilfe der rezeptionsorientierten Methodik fest, dass die jüdische Frage, wie der Tempel wiederhergestellt werden kann, eine joh Antwort in Jesus als wahrem Gehalt des Tempels und des Kultes bekommt. Auch die Charaktere in der joh Erzählung kommen zu Recht in Betracht (Sevrin: die Darstellung des Nikodemus zeige, dass in der joh Erzählung Raum für ein "in-between" zwischen Ablehnung und Glauben sei; Collins). Ferner wird die Rolle der Leserschaft und damit der Rezeption für den Text als hermeneutisches Problem beachtet (Lieu).

Ein Konsens wurde erwartungsgemäß nicht erreicht. Beispiele sind die unterschiedlichen Beurteilungen der Konfliktsituationen. Als innerjüdisch und damit als nicht-antijüdisch verortet Dunn die Kontroverse "within the factionalism of Second Temple Judaism" (53); s. auch de Boer: die Bezeichnung "die Juden" ist Ausdruck joh Ironie und enstammt einem innersynagogalen Dialog, oder Menken: eine in der Schrift zentrierte Auseinandersetzung über Jesus zwischen jüdischer Umwelt und judenchristlichen Gemeinden. Klappert geht sogar so weit, die Pointe der joh Christologie in der Erneuerung ganz Israels zu sehen. In einen inner-christlichen Konflikt schreibt de Jonge die joh Polemik ein, da sie ein christologisches Einverständnis voraussetzt, und damit ist der Konflikt mit "den Juden" eine literarische Invention. Für Zumstein zeigen die Abschiedsreden den Gegner der joh Christen im kosmos an, in den die Synagoge eingereiht wird. Mit diesen unterschiedlichen historisch-soziologischen Modellen sind Differenzen über die Frage nach der Identifikation "der Juden" angezeigt. Neue Impulse setzt Beutlers Hinweis, die Kanonisierung des JohEv sei für die antijüdische Lektüre mit verantwortlich, da andere neutestamentliche Schriften nicht zwischen "Juden" und jüdischen Autoritäten unterscheiden. Dissens herrscht weiterhin über die in Kritik geratene Annahme, dass der mit der Birkat ha-Minim verbundene Synagogenausschluss als hermeneutischer Schlüssel des JohEv angesehen werden kann. All dies hängt auch von der Verortung des joh Kreises innerhalb, am Rande oder außerhalb des Judentums ab.

Entsprechend den unterschiedlichen Urteilen über den Ort des JohEv divergieren auch die Meinungen über seinen Antijudaismus. Sehr weit geht Hoet, wenn er den Konflikt als "an authentic form of Christian love and care for the life of erring brothers" (196) betrachtet. Das Gegenteil betont Culpepper, demzufolge Antijudaismus die joh Theologie und Ethik formt, die allerdings durch das jüdische Erbe in der joh Theologie zu dekonstruieren sind. Auch Schoon, der die historische Forschung und Sachkritik anhand eines zu debattierenden Kanons im Kanon stark macht, um eine neue Praxis in der Begegnung mit dem Judentum zu suchen, und Reinhartz (anti-jüdische Interpretationen des JohEv wurzeln in der joh Rhetorik selbst) warnen vor möglicher Verharmlosung. Ein Prinzip für Sachkritik benennt Burggraeve, wenn er the Wisdom of Love als hermeneutischen Maßstab herausstellt, an dem zu messen ist, wie eine Schriftpassage für moderne Leser/Leserinnen eine bleibende Bedeutung haben kann. Hermeneutische Konsequenzen sind die Forderung zum Respekt des anderen: Nicht Wiederholung des Evangeliums und des ihm inhärenten "problem of his Jewishness and his Anti-Jewishness" (141) stellen daher nach Lieu eine Lösung dar, sondern christologische Überzeugungen sind im Respekt gegen "the otherness of the others" (143) zu vertreten.

Angesichts der Anregungen dieser Sammlung bleibt manches weiterhin zur Klärung aufgegeben. Trotz eines im JohEv scheinbar beendeten Dialogs mit dem Judentum ist der Terminus Ioudaioi keine eindeutig negativ qualifizierte Stereotype (vgl. vor allem 4,22, hierzu van Belle: "No other New Testament passage places more emphasis on the Jewish religion") und damit die Notwendigkeit zu einem differenzierten Urteil über das JohEv gegeben, das jenseits gradliniger Alternativen erfolgen wird. Weiterhin ist das JohEv in die antike Rhetorik einzugliedern, die auch von scharfer innerjüdischer Polemik weiß, wie es etwa in Qumran zu erkennen ist. Auf diesem Weg schreitet vor allem von Wahlde voran, wenn er die Polemik von Joh 8,38-47 mit Hilfe des apokalyptischen Dualismus (1QS, bes. 3,13-4,26, und TestXII) als innerjüdische Polemik darstellt. Das häufige Diktum vom joh Dualismus (z. B. Lieu) weist auf einen strittigen Begriff (s. auch den Rekurs auf das sich ausbildende gnostische Denken bei Barrett). - Die Neuansätze lassen erwarten, dass von diesem mit Registern und Bibliographien gut ausgestatteten Band Impulse zur Weiterarbeit und eine Bereicherung für die joh Forschung ausgehen wird.