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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

509–512

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Mason, Steve [Ed.]

Titel/Untertitel:

Flavius Josephus. Translation and Commentary.

1) Vol. 3: Judean Antiquities 1-4. Translation and Commentary by L. H. Feldman.

2) Vol. 9: Life of Josephus. Translation and Commentary by S. Mason.

Verlag:

1) Leiden-Boston-Köln: Brill 2000. XLV m. 2 Ktn., 582 S. 4. Lw. ¬ 121,00. ISBN 90-04-10679-0.

2) Leiden-Boston-Köln: Brill 2001. LIV, 287 S. m. 8 Ktn. auf 2 Leporellos. 4. Lw. ¬ 111,00. ISBN 90-04-11793-8.

Rezensent:

Marco Frenschkowski

"Das Studium dieses Schriftstellers wird arg vernachlässigt", schrieb Julius Wellhausen in seinem Frühwerk "Die Pharisäer und die Sadducäer" (1874, Göttingen 3. Aufl. 1967, 130) über Flavius Josephus. Diese Klage wäre heute nicht mehr am Platz. Was bis jetzt allerdings nach wie vor gefehlt hat, war eine umfassende Dokumentation des bisher Erreichten in Kommentarform. Das 1995 vom Verlag Brill inaugurierte Großprojekt einer kommentierten Neuübersetzung aller Schriften des Josephus (im Folgenden: J.) in 10 Bänden verspricht nun, diese Lücke in einer geradezu überwältigenden Weise zu füllen. Die ersten beiden Bände liegen vor, bearbeitet von dem Nestor der J.-Forschung Louis H. Feldman (hier zit. Bd. 3) und von dem ebenfalls durch diverse einschlägige Arbeiten bekannten Steve Mason (zit. Bd. 9).

Das Brill-Projekt bietet keinen eigenen Text. Bekanntlich ist die Textüberlieferung zu J. außerordentlich schwierig und zum Teil auch verderbt. Die Editio maior Benedict Nieses (1885- 1895 in 7 Bänden) ist sehr konservativ, d. h. vorsichtig und dicht an den Handschriften, die Editio minor (1888-1895 in 6 Bänden) etwas wagemutiger, aber keineswegs immer konsensfähig. Die Neuausgabe von Vita mit Übersetzung und Kommentar durch Folker Siegert (Tübingen 2001) konnte von Mason bereits vor ihrer Publikation benutzt werden; ein neuer Text der anderen Schriften bleibt ein Desiderat. Der Kommentar bietet den Übersetzern jedoch Gelegenheit, textkritische Fragen (zum Teil erfreulich ausführlich) zu besprechen; dennoch muss man oft den Niese-Text benutzen, um zu sehen, ob von diesem abgewichen wird oder nicht. Es wäre dringend zu wünschen, dass zumindest der Schlussband des Kommentars eine Gesamtliste aller Abweichungen zu Niese liefert. Die einzelnen Übersetzer weichen dabei unterschiedlich stark von den Niese-Texten ab. Im Gegensatz zu der im englischen Sprachraum weit verbreiteten, literarisch anspruchsvollen, aber oft auch textfernen Loeb-Übersetzung (deren Hauptübersetzer H. St. J. Thackeray war) bemüht sich das neue Projekt um deutlichere Textnähe und Präzision (Mason bietet S. LII sogar eine exemplarische Liste griechischer Vokabeln, die er um dieser Textnähe willen immer mit demselben englischen Wort wiedergibt). Das große Format der Bände erlaubt Text und Kommentar im Allgemeinen auf einer Seite abzudrucken. Das liegt nicht im üblichen Trend zu kleinformatigen Büchern, kommt dem Werk aber entschieden zugute.

Der Kommentar ist das eigentliche Zentrum des Projektes und darf als eine epochale Leistung der J.-Forschung angesehen werden. Hier sind enthusiastische Worte durchaus am Platz. Dabei ist ein quantitatives Verhältnis zum Text zwischen 4:1 und 8:1 angestrebt: Der Kommentar ist also an Ausführlichkeit mit manchem Bibelkommentar vergleichbar. Es versteht sich von selbst, dass dabei der Sprachgebrauch des J., Fragen der Textstruktur, die Realien, Historisches, Personen und Orte (einschließlich der rabbinischen Überlieferungen zu den Ortsnamen) umfassend behandelt werden. Doch bieten die Kommentatoren noch weit mehr. Feldman in seinen Anmerkungen zu Antiquitates 1-4 etwa liefert einen so reichen Apparat an jüdischem auslegungsgeschichtlichem Material, dass sein Teilband in jedem Sinn des Wortes zu einem auslegungsgeschichtlichen Handbuch zum Pentateuch wird (dessen Inhalt Ant. 1-4 abdeckt). Damit greift die Bedeutung dieses Bandes weit über die Erklärung des J. hinaus: Er wird zu einem monumentalen Hilfsmittel zur Rezeptionsgeschichte der Thora. Halachische und haggadische Stoffe (um in rabbinischen Kategorien zu sprechen) werden gleichermaßen berücksichtigt. Zu zahllosen Details werden nicht nur J. entsprechende, sondern auch konkurrierende Auslegungstraditionen dokumentiert, in imposanter Souveränität und Materialbeherrschung, d. h. nicht einfach nur additiv. Zahlreiche Anmerkungen haben die Länge von Exkursen und stellen im Grunde eigene kleine Aufsätze dar. Beispiele (Bd. 3): zur Originalität des J. zum Thema "Gottesbeweise" (57f.); zur Identifikation Esau-Edoms mit Rom (104 f. u. 128); zu Traum und Traumdeutung bei J. (133 f. u. 156); zum legendären Äthiopienfeldzug des Mose (200-203); zur Selbstidentifikation des J. mit seinem biblischen Namensvetter (130 f.); zu den Töchtern des Zelofhad (391 f.); zur Korah-Episode, die bei J. zu einem theologisch zentralen Text wird (333ff.); zum Zeugnisrecht der Frauen (412 zu Ant. 4,219, einem wesentlichen Abschnitt für die Beurteilung von Mk 16,1-8 parr.) und vielem mehr. Der Kommentar lässt - ganz im Trend der jüngeren Josephusforschung, die sich gegen einen Missbrauch des Autors als eines reinen Steinbruchs wehrt - die immense literarische Leistung des J. sichtbar werden, auch wenn dieser (wie "Lukas") Anstößiges gerne durch Übergehen und Verschweigen unsichtbar zu machen versucht (vgl. etwa 215 zur Verstockung des Pharao). Sehr schön werden die romanhaften Stilelemente (etwa zu Jakob und Rahel oder zur Josephsnovelle) herausgearbeitet, die J. in seine Vorlagen einführt. Aber auch Rechtsgeschichtliches und Theologisches wird mit gleicher Souveränität diskutiert, wie überhaupt die Breite des Kommentars immer wieder überrascht.

Gewiss wird manches weiterer Diskussion bedürfen. Kann man wirklich von einer profilierten "tolerance toward non-Jewish religion" (396.403 f.) sprechen? Ist das Verschweigen des Wortlautes des Dekalogs und des Tetragramms als ou themiton wirklich schon eine Annäherung des Judentums an die Mysterienreligionen (212.252 f. mit freilich sehr vorsichtiger Ausdrucksweise)? Zu Mysterien gehören auch Dromena, nicht nur Legomena; Arkandisziplin allein macht noch keine Mysterienreligion aus. (Man wird sich an das wohl ebenfalls auf Arkandisziplin beruhende Verschweigen der Abendmahlsworte im Johannesevangelium bei gleichzeitigen Anspielungen für "Insider" erinnern.) Trifft es das Anliegen des jüdischen Autors, zu sagen: "In general, Josephus takes pains to stress the accomplishment of his biblical heroes by de-emphasizing the role of God in their actual achievements" (143)? Gelegentlich lässt Feldman konkurrierende Deutungen nebeneinander stehen, z. B. 96 zu Kleodemos Malchas (so mit Euseb, Praep. Ev. 9,20,2-4 gegen die Handschriften von Josephus, ant. 1, 240); dieser ist m. E. als Phönizier bzw. Punier zu verstehen, nicht als jüdischer Autor (vgl. ausführlich in meiner Studie Offenbarung und Epiphanie 1, Tüb. 1995, 205-208, wo aber die Euseb-Stelle verschrieben ist). Auch auf offene Fragen wird hingewiesen: Warum übergeht J. die Namenwechsel der Thora vom Typ Abram -> Abraham (325)? Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch die Stoffe und Vergleiche, mit deren Hilfe J. sein Werk für ein paganes Publikum zugänglich macht: Ist z. B. Noah mit Deukalion identisch (was J. nur andeutet, aber nicht wie Philon explizit sagt; vgl. 33, auch zur Identität mit Xisuthros)? Warum benennt J. die heilige Eiche von Mamre mit dem mythologisch hochbesetzten Namen "Ogyges" (70 f.)?

Lob ist auch Bd. 9 (bearbeitet von Steve Mason) gegenüber angebracht, der freilich nicht den monumentalen, enzyklopädischen Charakter von Bd. 3 erreicht. Hier waren besonders historische Fragen zu erwägen und das Verhältnis zu den öfters abweichenden Angaben im Bellum Judaicum zu klären. Mason spricht mit Recht von der "disturbing carelessness" (XIII) des J.im Umgang mit vielen historischen Details. Der Herausgeber unterstreicht, dass Vita kein eigenständiges Werk ist, sondern ein Anhang zu Antiquitates, und arbeitet auch kompositorische Affinitäten heraus (XV.XXI-XXVII). Die Selbstverteidigung des J. gegenüber Justus von Tiberias wird gegenüber weiten Teilen der Forschung nicht als zentrales Leitmotiv der Vita gesehen (XLVI-L), die überhaupt nicht in erster Linie von einem apologetischen Anliegen getragen sei. Gegen Shaye J. D. Cohen (und manche ältere Forscher) wird auch bezweifelt, dass sich aus Ant. und Vita eine neue "political agenda" gegenüber Bell. herauslesen lasse (36 u. ö.).

Ergänzt wird Bd. 9 durch einen Anhang zur Archäologie Galiläas (bekanntlich in den letzten Jahren ein bewegtes Arbeitsgebiet voller Überraschungen) von Mordechai Aviam und Peter Richardson (Forschungsstand auf 33 Seiten; mit einer Reihe leider sehr schlechter Fotos) sowie weitere kleinere Beigaben (Synopse der Bellum-Vita-Parallelen, eine Liste der Hapaxlegomena in Vita, eine Übersetzung von Photius, Bibl. 33 zu Justus von Tiberias). Alle Bände enthalten umfassende Register zu Themen, Personen und Stellen sowie zu den diskutierten griech. Vokabeln (zu Bd. 9 orientiert sich der Subject Index aber an zu allgemeinen Begriffen, um hilfreich zu sein). Auf Grund zahlreicher kluger Entscheidungen der äußeren Gestaltung wird ein Maximum an Benutzerfreundlichkeit erreicht, z. B. durch den weitgehenden Verzicht auf Abkürzungen und die (altmodische, aber ungemein hilfreiche) Anbringung seitlicher Paragraphenüberschriften im Kommentar. Ich spreche selten Empfehlungen zur Anschaffung von Büchern aus: Aber diese Reihe sollten Benutzerinnen und Benutzer aus Judaistik, neu- und alttestamentlicher Wissenschaft und Alter Geschichte nicht nur in Bibliotheken nachschlagen, sondern m. E. für einen privaten Kauf ernstlich erwägen, zumal wenn es den Bearbeitern der noch ausstehenden Teile gelingt, das hohe Niveau der ersten beiden Bände zu halten. Eine Arbeit an und mit Josephustexten wird auf Jahrzehnte ohne diesen Kommentar nicht mehr denkbar sein.