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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

505–509

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Leonhardt, Jutta

Titel/Untertitel:

Jewish Worship in Philo of Alexandria.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. XIV, 347 S. gr.8 = Texts and Studies in Ancient Judaism, 84. Lw. ¬ 79,00. ISBN 3-16-147597-6.

Rezensent:

Hermut Löhr

Das Ziel der Studie ist klar begrenzt: Es geht der Vfn. darum, auf Grund der erhaltenen griechischen Texte das Bild zu rekonstruieren, das Philo von Alexandrien vom "Jewish worship" zeichnet. Damit sind die in armenischer und lateinischer Sprache erhaltenen Texte Philos (besonders die Kommentare zur Genesis und zum Exodus) weitgehend von der Analyse ausgeschlossen; Leitfaden der lexikalisch orientierten Untersuchung sind nämlich die griechischen termini.

Textbasis ist erkennbar die von F. H. Colson und G. H. Whitaker besorgte griechisch-englische Ausgabe (die ihrerseits weitgehend auf der Ausgabe von Cohn und Wendland beruht). Zur lateinischen Überlieferung der Quaestiones wird die Ausgabe von Françoise Petit angeführt; man vermisst jedoch Hans Lewys "Neue Philontexte in der Überarbeitung des Ambrosius" von 1932. Bezüglich der griechischen Überlieferung wäre zu ergänzen Joseph Paramelles Edition der griechischen Fragmente zu Quaest in Gen 2,1-7 von 1984, die in Borgens Index Eingang gefunden hat. Darüber hinaus findet die seit der Edition von Rendel Harris 1886 auf eine neue Grundlage gestellte Beschäftigung mit den griechischen Philo-Fragmenten auch abgesehen von den Quaestiones keinen Niederschlag im Literaturverzeichnis; die Studie von James R. Royse von 1991, die den Befund übersichtlich präsentiert, begegnet bei der Vfn. nicht. Ein wesentlich anderes Gesamtbild wäre auf Grund dieser Ergänzungen jedoch nicht zu erwarten.

Programmatisch geht es weder um eine traditionsgeschichtliche Erhellung der bei Philo sich findenden Aussagen noch um eine Rekonstruktion der tatsächlichen Praxis jüdischer Gottesverehrung etwa in Alexandria im ersten Jahrhundert nach Christus. Angestrebt sind "commentary and systematic study" (6), welche die Philo-Texte nicht lediglich als Steinbruch solcher historischer Informationen ausbeuten, sondern sie kohärent zu interpretieren suchen. Eine solche umfassende Studie existierte bislang nicht, wie ein kurzer Einblick in die Forschung (5 f.) zeigt.

Mit dieser Art von synchronem Ansatz verzichtet die Untersuchung allerdings auf den Versuch, innerhalb des philonischen Werkes nach Schriftengruppen oder chronologisch zu differenzieren und solche Unterscheidungen sodann interpretativ zur Geltung zu bringen. Die in dieser Hinsicht wichtigen älteren Studien von Cohn, Massebieau und Adler fehlen charakteristischerweise im Literaturverzeichnis. So problembehaftet solche Versuche sind, stellen sie aber doch eine wichtige Hilfe zum Versuch historischer Kontextualisierung dar, auf den nicht verzichtet werden sollte.

Als Ausgangspunkt ihrer lexikalischen Untersuchungen wählt die Vfn. den griechischen Terminus latreia, der von den drei Lexemen, welche in der Septuaginta hebr. 'bwdh übersetzen, bei Philo am ehesten als fundamentaler Begriff für "worship as service to the Jewish God" (9) anzusprechen sei. Damit ist, wie die Vfn. selbst signalisiert, der für Philo wichtigere, allerdings auch allgemeinere Begriff therapeia für die definitorische Grundlage dessen, was "worship" bei dem alexandrinischen Autor meint, zunächst ausgeschlossen - eine durchaus konsequenzenreiche Entscheidung insofern, als sie die weitere inhaltliche Disposition determiniert (17). Anhand der zehn Vorkommen des Stammes latr- im durch Borgens Index erfassten Werk Philos werden seine semantischen Konnotationen herausgearbeitet: "prayer", "dedication", "sacrifice", "rituals (which includes purification)" sowie "festivals" (15).

Mit dem so gewählten Einstieg erfasst die Studie ohne Zweifel ein breites Spektrum wichtiger Themen. Alternativ wäre aber doch zu erwägen, zunächst das weitere semantische Feld, welches durch engl. "worship" repräsentiert wird und in der Terminologie Philos mehrere Entsprechungen hat, ganz auszuloten. Noch klarer träte so die Gratwanderung vor Augen, die Philos Interpretation unternimmt: den überkommenen, mit rituell-kultischen Praktiken verbundenen jüdischen Gottesdienst im Gewand griechischer Philosophie darzustellen.

Kapitel 2 befasst sich mit den Festen (eostai) im Allgemeinen und den jüdischen Festen im Besonderen, um dann gesondert auf den Sabbat einzugehen. Eine Art negativer Definition von eostai findet die Vfn. in SpecLeg 1,215. Wenn auch diese Definition explizit im Werk Philos keine besondere Rolle spiele, so liege sie doch seinen Erläuterungen zu den einzelnen Festen zu Grunde. SpecLeg 2,41 nennt die für Philo wichtigen Feste des Judentums, die dann im weiteren Verlauf des Traktates ausführlicher beschrieben werden. Alle diese Feste sind dadurch gekennzeichnet, dass sie von den Juden überall gefeiert werden und dass sie einen Bezug auf den Tempel aufweisen. An erster Stelle steht dabei das Fest jeden Tages. Die bei Philo nur eben angedeutete biblische Grundlage sind die Bestimmungen über das Tamid-Opfer in Num 28,1-8. Der eigentliche Inhalt des Festes ist jedoch das tägliche, tugendhafte Leben des weisen Menschen, dem es gelingt, seine Passionen zu beherrschen. In glücklicher Inkonsequenz gegenüber der programmatischen Einleitung fragt die Vfn. sehr wohl nach der Quelle dieser Auffassung und findet sie in Platons Nomoi (828b), wo Platon von den 365 Festen im idealen Staat spricht.

Dass für die Vfn. die traditionsgeschichtliche Frage auch sonst de facto von erheblicher Bedeutung ist, wird durch viele Einzelbemerkungen sowie die Zusammenfassung (vgl. 280-282) deutlich, in der sich auch eine Fortführung des erhellenden Vergleiches von "Philo and Plato's Nomoi" (286- 292) findet.

Zwei weitere Feste (auf welche die eingangs gegebene Definition nicht zutrifft) sind von lokaler Bedeutung: das Alexandrinische Fest, das zu Ehren der Übersetzung der Tora ins Griechische jedes Jahr auf der Insel Pharos abgehalten wurde, sowie das große Fest der Therapeuten. Die Vfn. erkennt, dass die Grundlage der Beschreibungen Philos einerseits die Angaben der Tora sind, dass er andererseits auf griechische kultische Terminologie zurückgreift.

Exemplarisch für alle anderen Feste steht für Philo jedoch der Sabbat, der bei Philo in SpecLeg 2 erst den Anlass und Rahmen für die Darstellung der anderen Feste bildet und auf den der zweite Teil des zweiten Kapitels ausführlich eingeht.

Beachtung finden die grundlegenden theologischen Bestimmungen des Verhältnisses von Sabbat und Welt als Schöpfung sowie Sabbat und Gott ebenso wie die konkrete Sabbat-Halacha, die sich für Philo nicht in allegorische Interpretation auflöst. Der Sabbat ist Tag der Ruhe wie des Schriftstudiums. Ausführlich widmet sich die Vfn. der Frage nach den Sabbatversammlungen in der proseuche und arbeitet dabei schön die Bedeutung der Institution für das Verhältnis zu den Herrschenden, sei es in Ägypten oder in Rom, heraus (77-79). Wenig lässt sich leider aus den Angaben Philos über den konkreten Ablauf der Sabbat-Versammlungen erkennen; aus der Erwähnung der Responsion in Hypoth. 7,13 wird allerdings - gegen den Wortlaut - auf "prayers, praise and blessings" (85) geschlossen. Es bleibt doch erstaunlich, dass bei Philo das synagogale Gebet keine explizite Erwähnung findet. Dass das Bibelstudium ganz im Mittelpunkt der Versammlungen steht, lässt, darin ist der Vfn. zuzustimmen, historisch doch wohl den Schluss zu, dass die Predigt auch historisch einen wichtigen Teil des frühen synagogalen Gottesdienstes bildete. In Bezug auf die viel diskutierte Frage fester synagogaler Lesezyklen ist aber nach der Auffassung der Vfn. aus Philo nichts zu gewinnen.

Das dritte Kapitel behandelt zunächst ausführlich Verwendung und Konnotationen des Lexems euche im Werk Philos und geht danach auf Psalmen, Hymnen und Lob Gottes sowie auf die mit dem Terminus eucharistia und stammverwandten Lexemen verbundenen Vorstellungen ein. Wie auch sonst in der griechischen Sprache der Zeit ist euche ein semantisch breiter Begriff, der "Wunsch", "Bitte", "Gebet", "Segen" und "Eid" meinen kann. Die Definition von Gebet, die Philo in Agr 99 gibt ("a request for good things", 111), entspricht pagan-griechischen Vorstellungen. Die Verbindung von Gebet und Opfer erfährt, gerade in Bezug auf den Tempelkult, eine besondere Betonung, ohne dass jedoch Näheres über den Wortlaut der liturgischen Gebete seiner Zeit zu erfahren wäre. Der wichtige Abschnitt über den Gebrauch des biblischen Psalters bei Philo, der auf Leisegangs Liste der sicher identifizierbaren Psalm-Zitate basiert, stellt insofern einen Exkurs dar, als die Psalmen bei Philo als heilige Schrift Gegenstand der Auslegung sind.

Das Vorgehen der Vfn. in diesem Abschnitt scheint mir methodisch insofern etwas fraglich, als sie die schwierige Frage der Textgestalt zwar punktuell (152 Anm. 37) an die Septuaginta-Überlieferung stellt, aber nicht an diejenige des philonischen Textes selbst. Das Urteil: "On the whole, it cannot be determined whether Philo quoted the psalms from memory or used a written text" (153) bedürfte besserer Fundierung und steht m. E. zudem in erheblicher Spannung zur dargestellten Auffassung des Psalters als heiliger Schrift bei Philo.

Zur liturgischen Praxis zurück führt die Darstellung von Philos Auffassung von Psalmen- und Hymnengesang. Philo könne durchaus als Zeuge für die liturgische Psalmenrezitation auch außerhalb des Tempelgottesdienstes gelten.

Unter Rückgriff auf die ältere ausführliche Arbeit von Jean Laporte wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels die fundamentale Bedeutung des Terminus eucharistia für Philos Verständnis von "worship" entfaltet. Der Begriff, der erst in den apokryphen Schriften der Septuaginta begegnet, ist neben dem Lob grundlegender Ausdruck des Gottesverhältnisses des Individuums wie der Gemeinschaft. eucharistia konkretisiert sich in Gebet, Gelübde, Hymnus, Fest und Opfer.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit weiteren für Philo wichtigen Aspekten der jüdischen Gottesverehrung: der Tempelsteuer, den Opfern und den Reinigungsriten.

Störend wirkt wieder die terminologisch begründete Beschränkung: "As Temple worship covers a very broad field, only those terms which Philo connects with latreia are studied here" (191). Wie die Vfn. selbst andeutet, bleiben damit vor allem zahlreiche den priesterlichen Tempeldienst betreffende Aussagen unberücksichtigt. Dies schwächt unnötig die Überzeugungskraft der These der Vfn., dass die Perspektive Philos - etwa entgegen der Information von der priesterlichen Herkunft Philos bei Hieronymus, Vir. ill. 11 - nicht-priesterlich ist (229 Anm. 38).

Erstlingsgaben, Zehnte und Tempelsteuern sind für Philo wesentliche Aspekte des jüdischen Gottesdienstes, welche die Bedeutung des Jerusalemer Tempels herausstellen. Dem Problem, dass die Erstlingsgaben nicht von den Juden der Diaspora zu leisten waren, begegnet der Philosoph durch eine "symbolische" Interpretation: "as offerings of the soul" (213). Eine solche Interpretation ist, wie die Vfn. zu Recht herausstellt, als spezifische Bewältigung der Diasporasituation zu verstehen. Die Bedeutung des Jerusalemer Tempels tritt besonders in der Behandlung des Themas Opfer durch Philo zu Tage: Opfer ist ganz wesentlich Opfer im Tempel; und die pagane Haltung zum Judentum wird in der Legatio ad Gaium anhand ihrer Stellung zum Tempel exemplifiziert. Der tatsächliche Kult wird von Philo keinesfalls abgewertet oder gar für irrelevant erklärt. Doch unternimmt der Autor zugleich eine Deutung von seinen philosophisch-religiösen Voraussetzungen aus, die die Vfn. weiterhin von einer "spiritual interpretation" (255) sprechen lassen.

Das Problem von Reinheit und Reinigungshandlungen nimmt einen wichtigen Platz in Philos Denken ein. Dabei ist die Verbindung von moralischer und kultischer Reinheit, wie die Vfn. im Anschluss an Jonathan Klawans zu Recht betont, keinesfalls ein Spezifikum unseres Autors, sondern im Judentum seiner Zeit wie in der paganen Umwelt belegt. Mit dem Lexem perirranterion übernimmt Philo einen Begriff griechischer Kultpraxis und überträgt ihn auf den jüdischen Tempel. Ob dies nur eine interpretatio graeca ist oder darüber hinaus Indiz für Besprengungsriten in der jüdischen Diaspora, muss offen bleiben.

Im abschließenden fünften Kapitel fasst die Vfn. die Ergebnisse ihrer detail- und kenntnisreichen Untersuchungen zusammen. Im philonischen Verständnis von "worship" verbindet sich die äußere, rituelle Handlung mit der inneren Bewegung. Beide leiten sich aus der Anweisung des Mose und seiner Einsicht in das Wirken des göttlichen Logos her. Wiewohl der Tempel für Philo von zentraler Bedeutung ist, leistet seine Interpretation insofern eine Bewältigung der Diasporasituation, als sie jedem Juden, ob im Land Israel oder in der Diaspora, die Möglichkeit zur rechten und vollgültigen Gottesverehrung aufweist.

Das kritische Referat der vorgelegten Untersuchung kann nur einige der von der Vfn. angesprochenen Aspekte des komplexen Themas herausheben. Trotz gelegentlicher Einwände, die auch das Methodische berühren, liegt mit dem angezeigten Band eine im besten Sinne Grund legende Arbeit vor, auf die jeder, der über Philo von Alexandrien, Fragen von Theorie und Praxis des jüdischen Gottesdienstes zur Zeit des Zweiten Tempels oder allgemein zur Inkulturation des Judentums in den Hellenismus arbeitet, dankbar zurückgreifen wird.

Dem Band sind ausführliche Register zu Stellen, modernen Autoren, griechischen Wörtern sowie Sachen und Personen beigegeben. Abgesehen von den bereits angemeldeten Desideraten vermisse ich im Literaturverzeichnis schmerzlich die große, für das Verständnis der Werke Philos doch fundamentale Untersuchung von Jacques Cazeaux, La trame et la chaîne, 2 Bände (ALGHJ 15 und 20), Leiden u. a. 1983 und 1989. Manche der Studien Nikiprowetzkys zu Philo (u. a. die von der Vfn. benutzte Arbeit zu den "suppliants") liegen schon länger in einem Sammelband vor: Valentin Nikiprowetzky, Études philoniennes (Patrimoines. Judaisme), Paris 1996.