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Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

500–503

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

1) Jacobs, Mignon R. 2) Wagenaar, Jan A.

Titel/Untertitel:

1) The Conceptual Coherence of the Book of Micah.

2) Judgement and Salvation. The Composition and Redaction of Micah 2-5.

Verlag:

1) Sheffield: Sheffield Academic Press 2001. 283 S. m. 4 Tab. gr.8 = Journal for the Study of the Old Testament, Supplement Series, 322. Geb. £ 50,00. ISBN 1-84127-176-4.

2) London-Boston-Köln: Brill 2001. VIII, 361 S. gr.8 = Supplements to Vetus Testamentum, 85. Lw. ¬ 100,00. ISBN 90-04-11936-1.

Rezensent:

Rainer Kessler

Gegensätzlicher können die Zugangsweisen zu ein und demselben biblischen Buch kaum sein, als in den beiden Dissertationen zu Micha, die nun gleichzeitig auf Englisch erschienen sind. Trotzdem zeigt sich, dass beider Ansätze nicht exklusiv gelesen werden sollten, sondern komplementär. Während W., wie der Untertitel seines Buches sagt, die Kompositions- und Redaktionsgeschichte von Mi 2-5 (in Wahrheit doch des ganzen Micha) bis zur Endgestalt nachzeichnet, setzt J. beim Endtext an und findet dessen konzeptionelle Kohärenz in "judgement" und "hope" - "the fact of the matter is that it is both" (222). Damit aber sind wir bis auf die Wortwahl beim Haupttitel von W. Der Kreis hat sich geschlossen. Doch gehen wir der Reihe nach vor!

Eigentlich will W. das Geschäft von J. - deren Buch er nicht kennen konnte - bewusst nicht betreiben. Im ersten Kapitel nämlich stellt er drei Modelle vor, mit denen herkömmlich der für Micha auffällige Wechsel zwischen Heils- und Gerichtsworten erklärt wird. Das erste nennt er Kompositionsmodell (6); dessen Vertreter gehen davon aus, dass die Endgestalt des Michabuches auf absichtsvoller Komposition beruht - und das sind just die, auf die sich J. bei ihrem Ansatz stützen wird. Das zweite ist das von van der Woude propagierte Dialogmodell (16) - die Heilsworte seien Zitate der Gegner Michas. Beide Modelle lehnt W. ab. Er entscheidet sich für das redaktionsgeschichtliche Modell: "the alternation between the oracles of doom and the oracles of hope in the Book of Micah is the result of a long literary history" (27). Und diese nachzuzeichnen, ist die Aufgabe der Arbeit.

Zunächst muss W. freilich begründen, warum er sich auf Mi 2-5 beschränkt. Für die Abtrennung von Kap. 6-7 kann er "a different provenance of the second part of the book" als Argument anführen (53). Warum er Kap. 1 abtrennt, bleibt dagegen unklar, da er das Kapitel als Teil der Redaktionsgeschichte von Mi 1-5 versteht und in seinem survey, der das Buch abschließt (326 f.), die Einzelschichten von Mi 1 auch aufführt.

Was dann zunächst folgt, ist eine 141 Seiten lange detaillierte sprachliche und inhaltliche Exegese von Mi 2-5. Wenn W. sein Buch in den Acknowledgements mit dem Satz beginnt: "This book is not a commentary!", dann kann er diesen Teil kaum gemeint haben. Der Rez. hatte im HThKAT genau zwei Seiten mehr für die vollständige Kommentierung dieser Kapitel.

Zur eigentlichen Rekonstruktion der Redaktionsgeschichte von Mi 2-5 kommt W. erst auf S. 202. Die vorangegangenen sprachlichen Beobachtungen fließen dabei nur spärlich in die Analyse ein. Diese ist vielmehr davon geprägt, dass jeder Abschnitt zunächst formgeschichtlich betrachtet und dann literarkritisch auf seine möglichen Schichtungen hin analysiert wird. Eine Diskussion im Einzelnen ist hier natürlich nicht möglich, aber auch nicht nötig. Wichtig ist das Ergebnis. W. identifiziert fünf sukzessive Schichten bis zur Endgestalt. Der älteste Bestand liegt in Mi 2-3* vor. Er stammt von Schülern Michas aus spätvorexilischer Zeit. Im Wortlaut ist er kaum noch sicher identifizierbar, da er in der nächsten Überlieferungsstufe teilweise umformuliert wird. Diese stammt von "Circles around Jeremiah" (327) aus frühexilischer Zeit. Außer Zusätzen in Kap. 2-3* kommen jetzt 1,1aa.3-5a.8-16 sowie 4,9-10+14; 5,9-13 hinzu. Die dritte Stufe ist spätexilisch und von Ezechiel beeinflusst. Von ihr stammen 2,12; 3,8*; 4,6-7a.8; 5,1-4a. Die vierte frühnachexilische Stufe führt W. auf "Isaianic circles" (327) zurück (1,2; 2,13; 4,1-5.7b.11-13; 5,6-7+8.14). Die letzte Stufe ist spätnachexilisch und besteht außer aus einigen Zusätzen in Kap.1 in der Anfügung von Mi 6-7.

Wichtiger als die Identifizierung der Stufen als solche, die im Detail immer strittig bleiben wird (wobei W. selbst sich einer angenehm vorsichtigen Sprache bedient), ist die Charakterisierung der einzelnen Stufen, die W. im Schlussteil vornimmt. Die Verweise auf Jeremia, Ezechiel und Jesaja in der Beschreibung der Redaktionsstufen versteht W. dabei nicht zu eng. Ihm geht es darum, gemeinsame geistige Kontexte herauszuarbeiten. Wichtig vor allem aber ist, dass er auf jeder neuen Stufe der Fortschreibung die so entstandene Struktur herausarbeitet. Es geht ihm also nicht um das bloße Abheben von Zusätzen, sondern um die Herausarbeitung der jeweils neu entstehenden Buchgestalten als Vorstufe der Endgestalt.

Umso enttäuschender ist, dass W. die Anfügung von Mi 6-7 auf der letzten Stufe nur mehr archivalisch als den Versuch deuten kann, eine zuvor unabhängig überlieferte Einheit durch Anfügung zu bewahren. So ergibt sich für die Endgestalt: "At this stage the collection does not reveal any discernable arrangement" (325). W. versucht auch gar nicht, der Endgestalt einen Sinn abzugewinnen, denn das würde seine anfängliche Kritik des "Kompositionsmodells" in Frage stellen.

Und genau hier setzt J. ein. Sie will eben die Endgestalt, bei der W. kein sinnvolles "arrangement" erkennen kann, auf ihre Kohärenz hin befragen. Nun haben das etliche schon vor ihr getan, hauptsächlich Willis, Hagstrom und Cuffey. So sehr sie sich auf deren Arbeiten stützt, sieht sie das wesentlich Eigene ihres Ansatzes darin, dass sie nicht bloß auf literarische oder strukturelle Signale achten, sondern die jeweiligen "Konzepte" auf allen Textebenen einbeziehen will. Deshalb heißt ihr Buch nicht wie die von Hagstrom und Cuffey "The Coherence of (the Book of) Micah", sondern "The Conceptual Coherence of the Book of Micah". Ihre Methode nennt sie "concept-critical analysis" (54).

Voraussetzung ihres Ansatzes ist, dass jeder Text ein Konzept hat: "texts are inherently conceptual". Kohärenz ist überhaupt nur ein Ausfluss dieser zu Grunde liegenden Konzeptualität. Deshalb kann die Frage gar nicht sein, ob ein Text kohärent ist, sondern nur, woran seine Kohärenz erkannt werden kann: "it is the factor of discernibility that is the source of the challenges confronting this study rather than the determination of whether or not coherence exists" (49).

Wie bei W. ein Großteil des Buches aus der Argumentation besteht, wie Schichten voneinander abzuheben sind, so besteht die Hauptarbeit von J. darin, strukturgliedernde Elemente der verschiedensten Art aufzuspüren, besonders natürlich solche konzeptioneller Art. Auch hier können die Einzelheiten nicht diskutiert werden. Nur soviel: J. nimmt für den Gesamttext eine Zweiteilung in Kap. 1-5 und Kap. 6-7 vor (65), differenziert diese Teile dann aber in eine Mikrostruktur, die zehn Ebenen umfasst (76-80 in halbversweiser Auflistung). Nicht alles ist dabei nachvollziehbar. So wird etwa 2,1-5, das sich selbst schon auf der 6. strukturellen Ebene befindet (I. 1,2-5,14/B. 2,1-5,14/1. 2,1-3,12/a. 2,1-13/1) 2,1-11/a) 2,1-5) nochmals in vier weitere Ebenen untergliedert (nur als Beispiel: (2) 2,1a- 5/(a) 2,1-2/b. 2,1b-2/aa. 2,1b). Warum die auf der gleichen 6. Ebene wie 2,1-5 angesiedelten Verse 6-11 keine weitere Unterteilung finden, bleibt rätselhaft. Doch so wenig wie bei W.s Literarkritik kommt es bei J.s Strukturmerkmalen auf die Einzelheiten an.

Wichtig ist, dass es ihr gelingt, eine dichte Beschreibung der Kohärenzen von den kleinsten Einheiten über größere Blöcke bis zum Ganzen des Buches zu geben. Dabei werden durchaus dichte und weniger dichte Kohärenzen unterschieden, auch Widersprüche und Brüche notiert - also das, woran jede Literarkritik ansetzt. Aber sie werden eben nicht diachron aufgelöst, sondern als Teil eines umfassenderen Konzepts zu verstehen gesucht.

Allerdings wird, je höher die Ebene, das vermutete Konzept umso allgemeiner. Wenn J. schreibt: "The conceptuality of chs. 1-5 is Israel's fate in light of Israel's sin and Yahweh's response to the sin" (74), dann wird man fragen dürfen, ob dies nicht auf zahlreiche prophetische Textkomplexe und sogar ganze Bücher zutreffen würde. Nach einer Diskussion der von ihr für zentral erachteten Konzepte Gerechtigkeit, Sünde, Gericht und Hoffnung kommt sie zu dem schon zitierten Schluss: "What then constitutes the conceptuality of the book of Micah? Is it judgment or hope? The fact of the matter is that it is both" (222). Das würde vermutlich sogar W. zugeben. Dagegen spielt das für Micha zentrale Thema der Völker in diesen Beschreibungen keine Rolle, es wird gelegentlich allenfalls dem Thema Gerechtigkeit subsumiert.

Diese letztlich nichts sagende Allgemeinheit kommt deshalb auf, weil J. sich auch für die Endgestalt des Buches weigert, diachrone Überlegungen zu diskutieren. J. berücksichtigt durchaus, dass Auffälligkeiten in der Kohärenz ihre Ursache in der Enstehungsgeschichte des Textes haben können. Zu 2,12 f. etwa schreibt sie, die Stellung der Verse im Kontext "can be most plausibly understood as a redactional addition" (117). Sie benennt sogar genau die Aufgabe, die W. durchführt: "At the various stages of its history, the composition may exhibit a different conceptuality due to its adaptation to its historical context and the resignification of the text toward that adaptation" (97). Aber während W. sich weigert, diesen Weg bis zur Frage nach der Sinnhaftigkeit der Endgestalt weiterzugehen, weigert J. sich, von der Endgestalt auch nur eine Stufe zurückzufragen: "The present study is not aimed at identifying the conceptuality of the text at the various stages of its composition history. Its aim is the conceptual coherence of the final form" (97). Durch den Verzicht auf die diachrone Frage zumindest auf der letzten Stufe kann J. nicht mehr unterscheiden zwischen dem Material, das die Gestalter des Endtexts vorgefunden haben, und dem, wie sie es verarbeitet - also umgestellt, redigiert, kommentiert - haben. Durch den Verzicht auf diachrone Fragen fällt es ihr auch leicht, von der Einbettung in verwandte Konzepte - wie das W. mit den Prophetennamen Jeremia, Ezechiel und Jesaja tut - abzusehen. So kommt sie dazu, möglichst allgemeine und kontextlose Topoi zu gebrauchen, um die konzeptuelle Kohärenz des Textes zu beschreiben. Letztlich entschwindet ihr in diesen Formulierungen der konkrete Michatext unter den Händen.

So ist die Fachwelt nun um zwei Werke bereichert, die eine Fülle fruchtbarer Beobachtungen zusammentragen, das eine zu literarkritischen und konzeptionellen Fragen der einzelnen Redaktionsstufen, das andere zu strukturellen Fragen und zur Konzeptualität der Endgestalt. Beide aber weichen vor dem jeweils letzten Schritt zurück, der eine vor der Endgestalt, die andere vor der Entstehungsgeschichte. Die oft wiederholte Behauptung, dass diachrone und synchrone Betrachtungsweise kein Gegensatz seien, sondern sich ergänzten, ist auch in diesen beiden wichtigen Büchern noch nicht zu Ende gedacht.