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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

355–370

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Deuser, Hermann

Titel/Untertitel:

Inkarnation und Repräsentation
Wie Gott und Mensch zusammengehören*

I. Das schwierige Gottesverhältnis der Moderne

Über den Frankfurter "kirchlichen Protestantismus" seiner Kinderzeit berichtet Goethe später in Dichtung und Wahrheit: Was "man uns überlieferte", war "eigentlich nur eine Art von trockner Moral: an einen geistreichen Vortrag ward nicht gedacht, und die Lehre konnte weder der Seele noch dem Herzen zusagen. Deswegen ergaben sich gar mancherlei Absonderungen von der gesetzlichen Kirche. Es entstanden die Separatisten, Pietisten, Herrenhuter, die Stillen im Lande und wie man sie sonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber Alle bloß die Absicht hatten, sich der Gottheit, besonders durch Christum, mehr zu nähern, als es ihnen unter der Form der öffentlichen Religion möglich zu sein schien."1 Dieser nüchtern-kritischen Beschreibung folgt die vielsagende Abschlußszene des ersten Buches von Dichtung und Wahrheit, in der das Kind Johann Wolfgang seine Gottesverehrung, die konsequent weder moralisch noch pietistisch ausfällt, in antike Kultform und rituelle Praxis umsetzt: Dem "großen Gotte der Natur, dem Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden"2 wird ein prachtvoller Altar gebaut und mit Hilfe einer Räucherkerze und bei aufgehender Sonne ein feierliches Opfer dargebracht. Daß aber diese priesterliche Übung in der Peinlichkeit von Brandspuren auf den zweckentfremdeten elterlichen Möbeln ihr Ende findet, zeigt zuletzt, daß auch das religiös-natürliche Urverhältnis nicht mehr im Handstreich zurückerobert werden kann.

Die Religiosität der Moderne, zumal die protestantisch geprägte, gerät in dieser Situation leicht in den Zwiespalt zwischen säkularer Moralität und partikularer Frömmigkeit, und die öffentliche Gott-Rede, gar die der Präsenz Gottes in Jesus Christus, wie es Kirche, Theologie und christliche Religionsphilosophie im Abendland seit zweitausend Jahren (bei allen kritischen Variationen im einzelnen) vertreten haben, erscheint dann unmodern, befremdlich und peripher - und muß in modernistische oder anachronistische Ersatzformen flüchten. Goethes Kindheitserinnerungen aus dem Frankfurt der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bleiben dafür beispielhaft, bild- und aussagekräftig.

Das damit abgesteckte Spannungsfeld aber exponiert zugleich die eigentliche religionsphilosophische wie theologische Herausforderung bis in unsere Gegenwart. Wenn die natürliche Selbstverständlichkeit des Gottesverhältnisses isoliert erscheint gegenüber menschlichen Gefühlslagen und abrückt von den gesellschaftlichen Handlungsimpulsen, dann stimmt etwas nicht im Haushalt unserer Orientierungsbalancen, Theoriebildungen und Verantwortlichkeiten; anders gesagt: Glaube, Denken und Handeln müßten produktiv koordiniert zusammenstimmen - und an diesem Projekt krankt bislang die Moderne.

Hier nun Abhilfe ausgerechnet mit einem programmatischen Vorschlag zu einem der ältesten theologischen Grundprobleme überhaupt schaffen zu wollen, nämlich dem christologischen Dogma der Inkarnation, mag auf den ersten Blick als wenig aussichtsreicher Rückfall hinter die Goethe-Zeit oder als der von vornherein zum Scheitern verurteilte Versuch des Austreibens des Teufels mit dem Beelzebub erscheinen. Dazu kann ich einstweilen nur zu bedenken geben, daß es sich erstens möglicherweise um ein nicht immer angemessen und gerade in der Öffentlichkeit nicht immer verständlich präsentiertes Grundproblem der Theologie handelt, das dadurch in der Neuzeit gerade zum Zerfallen der genannten Sphären von Glaube, Denken und Handeln beigetragen hat; und daß es zweitens religionsphilosophisch respektable Gründe sind, die mich dazu führen, die mögliche Integration der berechtigten Ansprüche von Glaube, Denken und Handeln gerade in diesem Punkt unter Beweis zu stellen.

II. Die Sprengkraft der Inkarnationslehre

1. Jede Religion behauptet und beschreibt auf ihre Weise den Zusammenhang zwischen dem Göttlichen, dem Weltlichen und dem Menschlichen. Konzentrieren wir uns hier allein auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, so muß - zunächst abstrakt und allgemein betrachtet - gesagt werden: Gäbe es gar keinen Zusammenhang zwischen beiden Größen, wäre die Fragestellung irrelevant. Gibt es aber einen irgendwie gearteten Zusammenhang, ist das Wie entscheidend, sofern zwischen Gott und Mensch nach ebenso allgemeiner Tradition und Vorstellung gerade kein Gleich um Gleich des Verhältnisses gelten kann.

In zweiter Konzentration nun allein auf das Christentum fällt sofort auf, daß hier sowohl ein allgemeiner Zusammenhang zwischen Gott und seinen Geschöpfen, besonders den Menschen, vorausgesetzt wird - biblisch am knappsten gefaßt in Gen 1, 26a: "Laßt uns Menschen machen als unser Abbild"; als auch eine besondere Einheit zwischen Gott und Mensch gilt, nämlich in der Mensch- bzw. Fleischwerdung des Wortes Gottes in Jesus, dem Licht der Welt (Joh 1,9) - biblisch am knappsten gefaßt in Joh 1,14a: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt". Genau dieser letztere Zusammenhang wird seit dem 2. Jh. in der christlichen Theologie als Inkarnation bezeichnet,3 eine begriffliche Neubildung, die religionswissenschaftlich und bis in die Umgangssprache Schule gemacht hat. Die vollständige "Verkörperung" und "Konkretion" von etwas gilt uns seither als dessen "Inkarnation".

Was nun ist an dieser Lehre des Einswerdens von Gott und Mensch, die unter Bezug auf Joh. 1,14 den Gesamtsinn des Neuen Testaments zum Ausdruck bringen will, so problematisch? Von einer für das ursprüngliche Christentum charakteristischen Sprengkraft muß deshalb gesprochen werden, weil bei vorausgesetzter Nichtweltlichkeit des Schöpfergottes dessen Identifikation nun ausgerechnet in sterblicher Menschlichkeit, im "Fleisch", wie es biblisch heißt, das Äußerste von religiöser Vorstellungsfähigkeit verlangt: Es soll in einem bestimmten Menschen das Göttliche rückhaltlos präsent sein, und genau diese Zusammensetzung der Extreme macht offensichtlich zugleich die philosophische Innovationskraft und das wahrhaft Tröstliche des Christentums aus. Wenn nämlich Gott in diesem Menschen Jesus wirklich ganz nahe ist, dann ist alles noch so Menschliche eben in einem göttlichen Zusammenhang geborgen. Das menschliche Leiden an der Differenz und Endlichkeit, das Leiden an der Ausgesetztheit des Menschen hat damit einen Ort - und im jüdisch-antiken Umfeld eine Zeit - gefunden, worin die allermenschlichste Erfahrung nicht idyllisch übermalt werden muß, sondern in ihrem schöpferischen Überlebenskontext vor aller Augen gestellt ist: in der Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch in der neutestamentlichen Nähe Gottes. Was in diesem wahrhaft ur-christlichen und hier nur zurückhaltend sachlich formulierten Befund alles impliziert ist, haben in christlicher Traditionsbildung seit 2000 Jahren Glaube, Denken und Handeln - sicherlich wiederum in Gelingen und Scheitern - zum Ausdruck gebracht.

So klar und unumstößlich nun dieser biblische Ausgangspunkt erscheint: Inkarnation als die intime Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch in Jesus Christus - so heftig umstritten war in der Zeit der Alten Kirche und dann wieder in der westeuropäischen Neuzeit die Inkarnationslehre.4 Denn letztere mußte von Beginn an versuchen, eine bestimmte begriffliche Vorstellung von dem zu erzielen, was mit diesem spezifischen Wie der Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch im neutestamentlichen Sinne gemeint war. Genau dies geschah in der Alten Kirche in einer philosophisch wie the ologisch bewundernswerten Arbeit über Generationen hinweg, und die damit ausgesprochene fachliche Bewunderung gilt auch dann, wenn uns heute die menschlichen, politischen und kirchengemeinschaftlichen Begleitumstände dieser Arbeit alles andere als vorbildlich oder empfehlenswert erscheinen.

Gravierend für die neuen christlichen Begriffsbildungen war vor allem, daß sie - auf biblischer Basis - sich wie selbstverständlich der antiken Denkmittel und philosophischen Traditionen bedienten; zwar auch frei damit umgingen, doch aber bei der letztlich nicht auflösbaren Vorstellung von Substantialität ihren Ausgang nahmen. Diese war wie ein gegenständlich zugrundeliegendes Wesen oder eine präzise bestimmbare Natur des Göttlichen bzw. des Menschlichen gefaßt, und gerade diese begriffliche Grundentscheidung, so können wir heute wiederum im Rückblick sagen, paßte nicht recht zur gestellten Aufgabe: ein Göttliches und Menschliches zugleich und in einer Person zum Ausdruck zu bringen. Denn eine Einheit aus zwei qualitativ verschiedenen Elementen ist entweder keine wirkliche Einheit oder die Elemente verlieren ihre Selbständigkeit.



Zu den Charakteristika der damit begrifflich hervorgetretenen Sprengkraft der Inkarnationslehre gehört auch, daß ihre Autoren, Theologen und Konzilsteilnehmer, Politiker und Kirchenmitstreiter, sich dieser Denkproblematik durchaus bewußt waren. Sie riskierten die Aporie, Göttliches und Menschliches in vorliegender Einheit zu behaupten, was nach der jeweils vorgegebenen Standardbegrifflichkeit gar nicht ohne weiteres nachvollzogen werden konnte. Die eigentliche Sprengkraft bezüglich der Theoriebildung besteht also darin, im Wissen um die begriffliche Begrenztheit doch mit denselben Begriffen so umzugehen, daß noch ihr Ungenügen zum Ausdruck des neu zu Denkenden herangezogen wird. Wählen wir als Beispiel eine späte Formulierung: die der Synode von Frankfurt am Main im Jahre 794 - also fast 1000 Jahre vor Goethes Frankfurter Zeit-, wo es kurz und spitz heißt: "so daß eine Person ist, Gott und Mensch, nicht gotterfüllter [deificus] Mensch und vermenschlichter [humanatus] Gott, sondern Gott Mensch und Mensch Gott: wegen der Einheit der Person ein Sohn Gottes und derselbe Sohn des Menschen, vollkommener [perfectus] Gott, vollkommener Mensch."5 Damit wollten die fränkischen Theologen (zur Zeit und auf Initiative Karls des Großen) eben dasselbe sagen, was seit dem Konzil von Chalkedon (451) durch die vierfache Abgrenzung gefaßt und gesichert war: Christus, eine Person "in zwei Naturen, unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar".6 D. h. das Göttliche und das Menschliche sollten einerseits nicht ineinander übergehen, also jeweils unterscheidbar bleiben, und andererseits auch nicht isoliert zueinander stehen, so wie einzelne Teile etwas zusammensetzen.

Nun ließe sich an dieser Stelle die spannende Geschichte nacherzählen, wie jahrhundertelang versucht wurde, diese Grenzbestimmungen so aufzufangen, daß eben das gesuchte Wie der Zusammengehörigkeit trotzdem noch verständlich bleibt; um mit der Frankfurter Synode zu sprechen: wie "vollkommener Gott" zugleich "vollkommener Mensch" sein soll, ohne daß im irdischen Leben Jesu von Geburt bis Tod davon etwas zurückgenommen und ohne daß in der Gottheit des Sohnes davon etwas relativiert werden muß. Doch diese Geschichtsschreibung überlasse ich, höflich und erleichtert zugleich, den Lehrbüchern der Dogmengeschichte und will mich im folgenden wieder der modernen Situation zuwenden. Denn hier wurden die Einwände gegen die Vorstellbarkeit von göttlicher und menschlicher Substantialität bei zugleich geforderter Personeinheit massiv verstärkt. Sobald nämlich aufgrund historischer Forschung von einer konsequenten Wahrnehmung des wirklichen Menschen Jesus von Nazareth nun in ganz anderer und undogmatischer Weise neu die Rede sein mußte, war die Problemlage in der Frage nach einer gott-menschlichen Person noch einmal potenziert. Die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch schien in ein Entweder/Oder zu zerfallen. Schwer nachzuvollziehen - und deshalb in riskante Begriffe an der Grenze des Denkmöglichen zu fassen - war jetzt nicht mehr nur der theologische Zusammenhang von menschlichem Leiden und göttlicher Souveränität, sondern vor allem der methodische Zusammenhang von historischer Forschung und theologischer Bedeutung - bezogen auf ein und dasselbe Ereignis: Jesus Christus.

2. Das moderne Problem der Inkarnationslehre besteht folglich darin, ohne den Substanzbegriff der mittelalterlichen Philosophie und auf der Basis des Geschichtsbewußtseins der Neuzeit doch die für das Christentum alles entscheidende Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch zu erfassen. Wie aber sollen wir - wenn zwar eine bestimmbare historische Existenz des Jesus von Nazareth unbestritten vorausgesetzt werden kann, nicht mehr aber die "Existenz" eines philosophisch wie religiös selbstverständlichen Gottes - überhaupt noch jenen Zusammenhang etablieren können? In der Bildsprache der Inkarnationstheologie gesagt: Wie kann das Herabkommen des Logos Gottes und dessen Aufnahme des irdischen Menschen Jesus in die Einheit mit Gott überhaupt noch zum Ausdruck gebracht werden, wenn die weltbildlichen und theoretischen Voraussetzungen, die zu dieser Bildhaftigkeit geführt haben, nicht mehr zur Verfügung stehen? Und ist nicht auf der Basis historischer Wissenschaft die Blickrichtung der klassischen Inkarnationstheologie - die "von oben" her, von Gottes Aktivität her dachte - gänzlich "auf den Kopf gestellt"7? Und wie soll aus dieser, uns inzwischen ganz und gar selbstverständlichen, nämlich der geschichtlichen Perspektive des Lebens und Sterbens Jesu - "von unten" her gesehen - je seine Göttlichkeit anders als bloße Behauptung oder freistehende Deutung8 eines im übrigen weltgeschichtlich abgrenzbaren, aber doch nicht zwingend inkarnatorisch zu verstehenden Geschehens jemals wieder gezeigt werden können?

Was heutzutage auf diesem Feld christlicher Verständigung über die eigenen Grundlagen faktisch vor sich geht, möchte ich exemplarisch durch zwei Dokumente illustrieren, die zum Osterfest dieses Jahres in zwei - auf ihre Weise sicher repräsentativen - Presseorganen und geschrieben von protestantischen Theologen erschienen sind. Im Gießener Anzeiger9 findet sich zusammen mit einem mittelalterlichen Osterbild und unter der Überschrift "30jähriger Wanderprediger gekreuzigt und auferstanden" die für die neuzeitliche Perspektive "von unten" typische Darstellung der Menschlichkeit und Geschichtlichkeit Jesu, dessen Auferstehung - das Rätselbild historischer Forschung - nur in berichtender Distanz und im Verweis auf die Kontexte biblischer Geschichten zum Zuge gebracht werden kann. Der Schlußsatz des Beitrags summiert in diesem Sinne konsequent: "Die Sache Jesu ging auch nach der Kreuzigung weiter." - In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung10 findet sich unter der Überschrift "Jesu Tod ist die Weltenwende" eine religions- und theologiegeschichtliche Bewertung des christlich behaupteten Zusammenhangs von Gott und Kreuzigung. Die Begründung für diese "göttliche" Bedeutung eines geschichtlichen Ereignisses liegt aber deutlich wiederum außerhalb des gewählten historischen Zugangs und wird am Ende durch eine spezielle Interpretation der Auferstehung angeschlossen: "Die Auferstehung von den Toten symbolisiert eine unverfügbare Würde des einzelnen über seinen Tod hinaus. Jeder Mensch transzendiert die gegebene Welt."

Es ist offensichtlich die Auferstehung, die die Grenze des historisch Zugänglichen markiert, und an derselb en Grenzziehung wird natürlich über die Inkarnation, d. h. über die Vorstellungsmöglichkeiten der Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch entschieden. In den Texten der Bibel scheint die Auferstehung wie ein Nachweis für die Göttlichkeit Jesu zu fungieren, und aus dieser Blickrichtung war die klassische Inkarnationslehre konzipiert. In der Moderne dagegen wird die Begründungsfunktion des Osterglaubens mit den Mitteln der historischen Forschung kritisch erhoben; aber als quasi gegenständlicher Nachweis und Einsatz der Inkarnation kann die Auferstehung aus denselben Gründen nicht mehr gelten. Das Göttliche für die Zusammengehörigkeit mit dem Menschlichen kann aus der rein historischen Arbeit nicht abgeleitet werden.

Wäre diese Art wissenschaftlicher Historisierung der einzig mögliche Verstehenshorizont, bliebe die Inkarnation eine Behauptung im Rahmen der vielfältigen Religionsgeschichte. Sind Menschen aber mehr und auch anderes als die bloß historische Perspektive auf sich selbst, so ist ein größerer Rahmen gesteckt, der als solcher auch wissenschaftlich von Belang sein muß. Geistige wie natürliche Kreativität, sinnvolle Regelhaftigkeit und Lebensprozesse, künstlerische, ethische wie religiöse Erfahrungen, Grenzvorstellungen des Universums in seinem Anfang und seinem Ende - genau die Fragen, die in einem reduktionistischen Wissenschaftszugriff nicht authentisch zu erfassen, im Selbst- und Weltverhältnis der Menschen aber von beständiger und ausschlaggebender Bedeutung sind, signalisieren unübersehbar das Problem der Zusammengehörigkeit des Menschlichen mit dem, wodurch es begründet ist. Was die klassische Inkarnationslehre zum Ausdruck bringen wollte, bleibt damit ein fundamentales Thema im Horizont der Wissenschaften - es zu bearbeiten, unsere Herausforderung. Denn Menschlichkeit nur reduziert auf die neuzeitlich gewonnene historische Eigenperspektive zu begründen, bliebe zirkulär. Theologie und Religionsphilosophie machen auf diese fundamentale Begründungsfrage der Moderne und ihrer Wissenschaftstheorie aufmerksam. Darin besteht die Würde und Dringlichkeit theologischer Arbeit und nicht zuletzt auch die kulturelle Notwendigkeit entsprechender Forschung und Lehre an den Universitäten - auch in Frankfurt am Main.

3. Wenn ich im folgenden im Begriff der Repräsentation eine Neufassung des Anliegens der Inkarnationslehre vorschlage, so geschieht dies unter bestimmten Voraussetzungen fundamentaltheologischer Art, die hier nicht weiter diskutiert, wohl aber benannt werden sollen:

(1) Ich setze voraus, daß in einer allgemeinen Religionstheorie sich die Unumgänglichkeit der Gott-Hypothese plausibel machen läßt - wie unterschiedlich religionsgeschichtlich und kulturell gesehen deren Ausarbeitungen im einzelnen auch ausfallen. Es ist das von C. S. Peirce sogenannte "Vernachlässigte Argument für die Realität Gottes",11 das diese zwanglose Allgemeinheit des Gottesverhältnisses, ohne dabei die einzelnen religiösen Erfahrungen zu ignorieren, für die Religionsphilosophie dieses Jahrhunderts zugänglich gemacht hat.

(2) Ich setze voraus, daß auf der Basis relationaler Begriffsbildung, wie sie durch die kategoriale Semiotik entwickelt wurde, die trinitarische Gottesvorstellung angemessen nachvollziehbar und begründbar ist.12 Daß Gott in Jesus Christus repräsentiert wird, kann spätestens seit Augustin als ein Darstellungsproblem rekonstruiert werden, worin nicht mehr Substanz, sondern Relation als philosophischer Grundbegriff fungiert.

(3) Ich setze voraus, daß diese religionsphilosophischen und theologischen Überlegungen keineswegs abseitige Überzeugungen oder willkürliche Weltanschauungen zum Inhalt haben, sondern zur allen Wissenschaften gemeinsamen Bemühung um Realität und Wahrheit zu rechnen sind - so wie in methodischer Konsequenz und Offenheit der "Geist der Wissenschaft" im Rahmen einer Metaphysik der Evolution zu bestimmen ist.13

(4) Auf dieser Grundlage ist es möglich, im Übergang von der Problematik der klassischen Inkarnationslehre und vor der genaueren Bestimmung von Repräsentation zunächst wie im Gegenzug mit einer narrativen Fassung der Inkarnation einzusetzen: S. Kierkegaards Bild des Gekreuzigten in einer Kinderszene, wie er sie unvergeßlich in der Einübung im Christentum (1850) entworfen hat.14 Kierkegaard bringt uns die Situation eines Kindes nahe, dem phantasievolle Heldenbilder gezeigt werden (aus Kierkegaards Zeit: z. B. Napoleon und Wilhelm Tell!), worauf ein Kind nur mit Begeisterung und Sympathie reagieren kann. Und dann liegt dazwischen das Bild des Gekreuzigten, störend und unverständlich, und die schmerzliche Gebrochenheit dieser Heldenfigur wird die Frage des Kindes provozieren: "Wer ist das, was hat er getan?" Und dann heißt es bei Kierkegaard weiter: "Erzähle dem Kinde, daß er Liebe ist, daß er aus Liebe auf die Welt gekommen, die Gestalt eines geringen Knechts angetan, nur für das eine gelebt, die Menschen zu lieben und ihnen zu helfen, sonderlich allen, welche krank und traurig und leidend und unglücklich waren ... Erzähle es dem Kinde recht lebendig, so als hättest du selbst zuvor es nie gehört, zuvor es keinem erzählt; erzähle es, als hättest du selbst das Ganze erdacht, jedoch vergiß keinen Zug, der überliefert ist, nur magst du beim Erzählen gut und gern vergessen, daß es überliefert ist ... Welche Wirkung, meinst du, wird diese Erzählung tun auf das Kind?"

Die Szene erfüllt mehrere Funktionen zugleich: Sie ist im Bewußtsein der Erfolge historischer Forschung gerade unhistorisch-erzählend konzipiert; sie beteiligt die Betrachter und hält dies generell in ästhetischen, ethischen und religiösen Fragen für allein sachgemäß; sie setzt unmittelbar, d. h. bildlich um, daß es sich im Verhältnis des Göttlichen und des Menschlichen in Jesus Christus um einen Repräsentations- und Aneignungsvorgang in einem handelt - und darin ist dieses praktische Verstehen der Inkarnation überzeugend.

T. W. Adorno hat in seiner Habilitationsschrift, geschrieben in Frankfurt am Main zu Beginn der 30er Jahre bei Paul Tillich, diese ästhetisch-religiöse Grenzfunktion des Christusbildes als Paradoxie der Versöhnung erkannt, die jenseits der Bilder fundiert ist und doch nur im Bild zur Wirkung kommen kann; mit Adornos Interpretation gesagt: ein "irreduzibler mythischer Rest."15 Diese Einstufung bedeutet dann keinen Vorwurf, wenn unter Mythos eben die ästhetisch-religiöse Qualität verstanden wird, daß an bestimmter Stelle die Wahrheit erzählt werden muß, weil anders sich die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch nicht sagen ließe. Das ist für eine gegenwärtige Aneignung und ein zeitgemäßes Verständnis dann überzeugend, wenn die in Kierkegaards Kinderszene implizierten drei Bedingungen in Geltung stehen, unter denen die Inkarnation im Christusbild zum unwiderstehlichen Ausdruck kommt:

(1) Das Überlieferte, die Daten und Fakten der biblischen Geschichte, soll wegen der sonst überwuchernden Dominanz historischer Textzugänge im Akt der Vergegenwärtigung suspendiert werden. Nicht um die historische Forschung abzuschaffen oder fundamentalistisch zu bestreiten, sondern um ihre Begrenztheit gemessen an der Aneignung von Humanität wirksam zu demonstrieren.

(2) Deshalb auch die Aufhebung von Distanzen, wie es nur in der Unmittelbarkeit von Bildeindrücken geschehen kann; und die Ausschaltung möglichst aller vorweg schon bestehender Urteilsmuster, wie es exemplarisch bei Kindern in Szene zu se tzen ist. Nur so kommt es zu genuinen Erstwahrnehmungen.

(3) Solche Distanzlosigkeit aber vermittelt sich allein in Repräsentationsakten, z. B. in Bildern, die unmittelbar auf uns wirken. Vor aller Präzisierung im begrifflichen und historischen Sinn, den unsere Wissenschaftseinstellung gewohnheitsmäßig einprägt, darf diese Ursprünglichkeit nicht unterschlagen werden. Ohne (primäre) Repräsentation keine Wahrnehmungen - und damit auch keine Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten. Das gilt auch und fundamental für die religiöse Repräsentation.

III. Was ist eine religiöse Repräsentation?

1. Der Begriff der Repräsentation ist traditionell und wird vielfältig, oft austauschbar mit significatio gebraucht. Seine Anwendung auf Kierkgaards Christusbild war insofern vorläufig und entsprechend der alltagssprachlichen Bedeutung von Vorstellung oder Darstellung eingesetzt. Genauer und begriffsgeschichtlich betrachtet lassen sich aber zumindest drei unterschiedliche Gebrauchsfelder des Begriffs unterscheiden.16

(1) Repraesentatio, deutsch vielleicht am besten mit "Vergegenwärtigung" zu übersetzen, gewinnt für die Erkenntnistheorie des Mittelalters eine Schlüsselstellung zur Beschreibung geistiger Darstellungsvorgänge, und daran schließen die Erkenntnis- und Zeichentheorien der Neuzeit ebenso an wie die modernen psychologischen Kognitionstheorien. Wie sich Eindrücke der Außenwelt darstellen, verarbeiten lassen und damit im menschlichen Geist selbst vorkommen, ist hier die Frage, deren Beantwortung in zahlreichen Schulbildungen variiert. Immer aber geht es darum, die Zusammengehörigkeit einer ursprünglich erscheinenden Abbildung von etwas mit den entsprechenden Denkvorgängen bestimmen zu können.

(2) Im juristischen und ekklesiologischen Gebrauch des Begriffs versteht das Mittelalter unter repraesentatio ein stellvertretendes Erscheinen. Ihm kommt im Unterschied zum daraus entwickelten modernen politischen Verständnis etwa des "Repräsentativprinzips" demokratisch gewählter Vertretungen ein ontologischer und hierarchischer Sinn zu. In einem Teil erscheint wirklich und der regierenden Einheit nach das Ganze: im Kaiser der christliche Staat, im Bischof die Einheit der Kirche. In diesem Denkmuster hat Tertullian schon früh Gott den Vater in Christus repräsentiert gesehen,17 und es sind sakramentale Vorstellungen des Christusleibes, die diese Begriffsbildung bestimmen. Offen bleibt in allen Auseinandersetzungen auf diesem Feld, ob es sich bei solcher Repräsentation als stellvertretendem Erscheinen um eine Abbildung oder eine Realpräsenz handelt und wie vor allem letztere zu verstehen wäre. Zusätzlich wird über die neuzeitliche Auflösung der sakramental-hierarchischen Vorstellungsbedingungen einerseits der Aspekt der politischen Repräsentation über bestimmte Verfahren freigesetzt; andererseits
aber bleibt gerade dann die Frage gestellt, in welcher Weise und mit welcher Autorität real repräsentiert werden kann; und darin steckt schließlich die Konfessionsdifferenz, insofern das katholische Lehramt bis heute seinen Kirchenbegriff an jener mittelalterlichen Tradition orientiert18, während die protestantische Theologie Realpräsenz wohl im Wort Gottes, aber nicht in dessen menschlichen Vermittlungsgestalten und Institutionenbildungen gebunden sehen kann.

(3) Von der erkenntnistheoretischen wie der juristisch-ekklesiologischen Tradition abzuheben ist schließlich der zeitgenössische Begriff Representation bzw. des Representamens, wie er in der kategorialen Semiotik entwickelt wurde.19 Hier liegt zwar die deutliche Anknüpfung sowohl an die scholastischen Logiker wie die neuzeitlichen Zeichentheorien vor, aber das Neue besteht doch darin, daß jenseits der Alternative von naiven Abbildlehren und nominalistischem Konstruktivismus eine realistische Zeichenstruktur von universaler Bedeutung eingeführt wurde. Sie ist in der Realität selbst fundiert und für Denk- wie Abbildungsprozesse gleichermaßen anwendbar. Die Welt selbst erscheint uns nicht anders als in Repräsentationsakten, worin eines - interpretierend aufgenommen - sich auf anderes bezieht.20

2. Im Anschluß an die drei genannten Gebrauchsfelder des Begriffs Repräsentation nun betont von einer religiösen Repräsentation zu sprechen, erscheint mir religionsphilosophisch gesehen auf der Basis kategorialer Semiotik legitim und notwendig. Denn sie konnte zeigen, daß und wie prinzipiell in allen Zeichenprozessen (erstens) eine ursprüngliche Kreativität mit (zweitens) deren präzisierendem Gegenstandsbezug und (drittens) dem verstehenden geistigen Akt dieser Beziehung verbunden gedacht werden müssen. Wenn demgemäß alle Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Denkprozesse in dieser Zeichen- bzw. Repräsentationsstruktur vorliegen, so ist ontologisch gesehen immer auch die Bezugnahme auf einen qualitativ vorgeordneten und im Zeichenprozeß zur Darstellung kommenden kreativen Grund anzunehmen. Dieser muß nicht immer
thematisiert sein, er kann aber jederzeit thematisiert werden. Ästhetik, Ethik und Religion sind wiederum die ausgezeichneten Erfahrungsbereiche, in denen dieser kreative Grundbezug notwendigerweise zum Thema wird; Metaphysik, Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie sind die daran anschließenden wissenschaftlichen Disziplinen, in denen diese Grund- und Grenzbestimmung,21 die sonst wissenschaftlich wie alltagsweltlich als irgendwie gegeben vorausgesetzt wird, ausdrücklich und zum schwierigen Gegenstand methodischer Bearbeitung gemacht wird. Auf drei genauere Merkmale soll in diesem Zusammenhang noch hingewiesen werden:

(1) Die Tatsache des kreativen Grundbezugs in allen Repräsentationsakten nachzuweisen ist deshalb schwierig, weil sie im Vorgang des Nachweisens selbst wiederum zur Anwendung kommen muß. Diesem Problem dadurch auszuweichen, daß sich Wissenschaft separat von diesen Grenz- und Grundlegungsfragen einrichtet, ist immer nur eine kurzfristige Lösung, die aufs Ganze gesehen auf Reduktionismus bzw. Szientismus hinausläuft. Daß in Bezeichnungsvorgängen jeweils Qualitäten zugrundeliegen, deren ursprünglicher Wert gerade in ihrem noch unbestimmten Zur-Verfügung-Stehen liegt, das allerdings läßt sich zeigen. Die Abstraktionsfähigkeit des Denkens ist es schließlich, die das theoretische Herauspräparieren solcher kreativen Grundqualitäten möglich macht. Durch diese Betrachtung werden jene Qualitäten weder beschädigt noch ersetzt, sondern ihre Zugänglichkeit wird thematisiert, die Empfänglichkeit für die Frage nach ihnen wird eingeübt. Die religiöse Erfahrung "wußte" auf ihre Weise davon und hatte im praktischen Common Sense oder Instinkt längst einen Vorrang.

(2) Damit ist auch gesagt, daß die Thematisierung des Grundbezugs immer nur in bestimmter Vergegenständlichung vorgenommen werden kann. Daß dies auch für die religiöse Erfahrung gilt, ist nicht ohne weiteres selbstverständlich, solange Glaube oder Offenbarung als mystische Unmittelbarkeiten verstanden werden, die sich jedes Zusammenhangs entziehen. Im Rahmen kategorialer Semiotik läßt sich dies Problem deshalb aufheben, weil die vorausgehende Unmittelbarkeit des qualitativen Grundbezuges gerade im Repräsentationsakt selbst zum Ausdruck kommt, ohne daß dieser deshalb ersetzbar wäre oder jene Unmittelbarkeit bestritten werden müßte. Daß repräsentiert wird, bedeutet nicht, daß es außer kognitiv zu beschreibenden Vorgängen nich ts anderes gäbe. Daß dieses Andere aber immer nur über Repräsentationen zugänglich wird, also dargestellt werden muß bzw. sich selbst darstellt, ist ebenso richtig. Die Religionen wie das Christentum bestehen in diesem Sinne aus Geschichten von Darstellungen des Göttlichen.

(3) Der gegenständliche Bezug impliziert bereits, daß nicht nur etwas dargestellt, sondern im selben Akt auch als solches verstanden wird. Zur vollständigen Repräsentation gehört unaufgebbar dieses dritte Element geistiger Rezeption wie Konstruktivität zugleich. Deshalb macht es Sinn, von Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Denkprozessen oder von Verkettungen von Repräsentationen zu sprechen, in denen die Realität von zugrundeliegender Qualität und Gegenständlichkeit sich ausbildet, beschreibbar, kontrollierbar und handlungsleitend wird. Die religiöse Erfahrung hat wesentlichen Anteil an dieser Prozessualität; und umgekehrt: Ohne Beachtung des spezischen Grundbezugs, wie er in der religiösen Repräsentation zum Austrag kommt, ist Realität nur ungenügend bestimmt.

3. Fazit: Die religiöse Repräsentation konfrontiert mit den Grenzbestimmungen, den Existenzfragen nach Anfang und
Ende des Universums, Leben und Tod der (menschlichen) Natur, Sinn und Vernichtung der (evolutionären) Geschichte - und hält diese präsent. Sie will diese Grenzbestimmungen möglichst angemessen zum Ausdruck bringen, und das geschieht im Rahmen der Religionen und persönlicher Religiosität in liturgischen Formen, Kulten, Festen, Erzählungen, Vergegenwärtigungen des kreativen Grundes; christlich gesprochen in der - dreifachen - Repräsentation des Schöpfergottes, seiner erneuerten menschlichen Nähe in Jesus Christus und seiner Präsenz im verstehenden Glauben, Denken und Handeln.

Insofern gleicht die religiöse Repräsentation strukturell gesehen allen zeichentheoretisch gefaßten Repräsentationen, zu ihrem Verständnis bedarf es keiner weltanschaulichen Sonderpositionen. Das Spezifikum der religiösen Repräsentation liegt allein darin, daß sie die sonst implizite oder unthematische Frage nach dem Grund aller Wirklichkeit explizit und thematisch macht. Dies geschieht selbstverständlich auf unterschiedlichste Weisen, wie es der Neuzeit in der permanenten Verzweigung von Künsten, Philosophien und Religionen bis in den Pluralismus der Gegenwart unwiderstehlich bewußt geworden ist. Dann geht es allerdings um inhaltliche Vergleiche und die Konkurrenz der tragfähigeren Antworten, d. h. um die durchaus falliblen Versuche der angemesseneren religiösen Repräsentation. Aber daß es sie gibt und wie sie strukturiert sein sollte, darüber kann eigentlich kein Zweifel mehr aufkommen.22

Ich konzentriere mich im folgenden wiederum auf das für die christliche Theologie entscheidende Grunddatum der religiösen Repräsentation im Christusbild.

IV. Die christologische Repräsentation

Das Spezifikum des Christentums liegt darin, daß es eine besonders radikale Repräsentation des Göttlichen zugrundelegt: die Menschlichkeit Gottes. Und dies nicht als Programm und Auftrag, sondern - wie in der Inkarnationslehre gezeigt - als geschichtlich-konkret vorliegende Einheit in der Verschiedenheit von Gott und Mensch. In Anwendung des zur religiösen Repräsentation Gesagten kann jetzt die besondere Stellung von Jesus Christus als Repräsentation Gottes in den folgenden fünf Aspekten konkretisiert werden.

1. Repräsentation ist keine Identifikation. Das (unlösbare) Problem, zwei qualitativ verschiedene Naturen in einer Person, der trotzdem eine eigene Identität zukommen muß, identisch23 und unterschieden zugleich zu denken, stellt sich nicht mehr.
Selbstverständlich war an eine Identität von sämtlichen Eigenschaften zwischen Gott und Jesus auch nie gedacht. Denn z. B. körperliche Züge, Gesicht, Hände usw. und die Vielzahl kotigenter Lebensbedingungen des Jesus von Nazareth bleiben die besonderen Eigenschaften eines bestimmten Menschen, ohne daß dem irgendeine Beachtung geschenkt worden wäre, wenn kurzgefaßt von "Gott in Jesus Christus" (vgl. 2Kor 5,19) gesprochen wurde. Die christologische Repräsentation bringt eine ganz bestimmte Darstellung vor Augen, deren Vollständigkeit und Alternativenlosigkeit in einem wesentlichen Punkt liegt: Der den Menschen sonst verborgene Schöpfergott ist im Gesamtkomplex der Jesus-Geschichte nahe (Mk 1,15).

So gesehen wird in der Repräsentation ein nicht mehr zu übertreffendes Darstellungsverhältnis zum Ausdruck gebracht, das zugleich die Einheit in der Darstellung, aber auch die Unterscheidung von Gott und Mensch aufgrund der Verhältnisaussage festhalten kann. Die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch als Repräsentation in Jesus Christus zu denken, verhindert damit auch die verkrampften Versuche, (biblizistisch, fundamentalistisch) gleichsam magische Identitäten verlangen zu wollen. Daß die Denkmöglichkeiten der klassischen Inkarnationslehre dies nicht abdeckten, ist schon aufgrund ihrer sperrigen Begrifflichkeit eigentlich selbstverständlich. Doch in der neuzeitlichen Krise, christologisch sich das vorstellen zu wollen, was man meinte fordern zu müssen, sind gerade in diesem Punkt eher Ungereimtheiten aufgetreten. Im Blick auf die öffentliche Anerkennung christlicher Grundwahrheiten führte dies zu Vorstellungs- und Denkblockaden und damit zwangsläufig zu Distanzierungen gegenüber der eigenen religiösen Tradition. Theologische Initiativen dieses Jahrhunderts zeigen allerdings auch, daß nicht abseitige metaphysische Museen betreten werden müssen, bevor die lebensnahe Menschlichkeit Jesu als Repräsentation Gottes verstanden werden kann. Die Geschichte Jesu und die darin repräsentierte Nähe Gottes ist sehr viel naturalistischer zu lesen und nachzuvollziehen, als bestimmte und nur vorgeblich "christliche" Denksysteme uns glauben ließen.24

2. Repräsentation läßt Unmittelbarkeit und geschichtliche Vermittlung zusammendenken. Die kreative Grundqualität, wie sie im Schöpfergott vorausgesetzt wird, ist als solche nichts schon Bestimmtes25 - und von einem solchen Bestimmten wäre niemals mehr eine Unmittelbarkeit zu behaupten; sondern sie geht in dieser kreativen Kraft in die Darstellung Gottes in Jesus ein. Insofern ist in ihrer repräsentativen Vermittlung die göttliche Schöpferkraft neu präsent und gegenständlich. In dieser Perspektive sind sowohl die Berichte der Evangelien konzipiert wie auch die Glaubensaussagen im Briefcorpus des Neuen Testaments: Die geschichtliche Vermittlung enthält in sich die Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses, die ansonsten gerade darin bestehen müßte, nicht darstellbar zu sein.

Für die Christologie bedeutet dies, daß ihre Kontextualität von Beginn an zu ihr selbst gehört. Die kreative Grundqualität
kann gar nicht anders als in geschichtlichen Kontexten repräsentiert werden, sie hatte und sie hat auch heute ihren "Sitz im Leben".26 Daß es in, mit und unter den Kontexten um Gott geht, das ist der besondere Fall der religiösen bzw. der christologischen Repräsentation.

3. Repräsentation vermittelt zwischen Offenbarung und Interpretation. Muß das Ergriffensein von göttlicher Kreativität als ein menschlich nicht ableitbares Geschehen verstanden werden - und dafür stehen traditionell die Begriffe Offenbarung und Gnade -, so steht dies nur bei oberflächlicher Betrachtung in Widerspruch zur Tatsache der unumgänglichen Interp retation dieses göttlichen Geschehensvorrangs durch menschliche Ausdruckgabe desselben Ereignisses. Auch hier regelt sich das Verhältnis von kreativer Unbestimmtheit und rezeptiver Bestimmtheit über die Repräsentation Gottes in Jesus Christus.

Die sog. Hoheitstitel oder Prädikationen Jesu als "Sohn Gottes", "Messias", "Menschensohn" usw. bringen in ihren jeweiligen religiösen Kontexten diesen Zusammenhang repräsentativ zum Ausdruck. Dann wird es auch überflüssig, das Verhältnis menschlichen Erkennens zur göttlichen Wirklichkeit in der Figur einer Analogie beschreiben zu müssen. Göttliches und Menschliches sind nicht analog, sondern vermittelt in der Produktivität und Prozessualität eines realen Zeichenereignisses - genau so, wie es in der Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch in Jesus Christus repräsentiert ist. So ist die christologische Grundaussage in der Passionsgeschichte bei Markus zu verstehen: "Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn" (Mk 15,39b).

Fallen Offenbarung und Interpretation in dieser Weise nicht mehr methodisch auseinander, so ist es auch unnötig, zur Wahrung des Eigenrechts göttlicher Offenbarung von ihrer Unbegreiflichkeit zu sprechen.27 Solche Radikalformeln bleiben extrem mißverständlich, weil Unbegreifliches eben nicht verstanden werden kann. Die christologische Repräsentation aber will verstanden werden, so daß Glaube, Denken und Handeln sich darauf wirklich beziehen können.

4. Repräsentation bedeutet immer Verhältnisbestimmung. Es ist die Figur des Gleichnisses, die damit einsetzbar wird. Das "Reich Gottes", die Gleichnisse Jesu zeigen es, ist immer "so wie...". In dieser Relation kommt die schöpferische Liebe Gottes in bestimmten Situationen, Vergleichen, Erzählungen, dramatischen Pointen usw. zum Ausdruck: im Senfkorn, in der wachsenden Saat, im Fest mit dem verlorenen Sohn oder im barmherzigen Samaritaner. Und die besondere Leistung des frühen Christentums besteht offensichtlich darin, diese Gleichnisstruktur gerade bezogen auf Jesu Tod und im Namen des Osterglaubens auf den Gesamtkomplex des Lebens Jesu übertragen zu haben: Er steht anstelle Gottes, deshalb auch seine wirksame Präsenz über den Tod hinaus. Dann erst kann vollständig gültig sein: So wie Jesus Christus, so ist Gott.

Für die modernen Christologien entsteht an diesem Punkt die kritische Frage nach dem Realitätsstatus der Auferstehung. Wenn im Rahmen der historischen Perspektive von Jesu Leben und dessen Zeugnis ausgegangen werden muß, so ist die Proklamation seiner Auferstehung nicht mehr in derselben Weise empirischer Gegenstand wie alle anderen Daten, die zur kritischen Prüfung anstehen. Unser Bild des "historischen Jesus" endet notwendig mit seinem Tod und dem Osterzeugnis der ersten Gemeinde, wie es uns überliefert ist.28 Ein bloßes "Faktum" der Auferstehung auf derselben historischen Ebene und in irgendeinem empirisch-materialen Sinn kann es nicht geben, weil darin Gott in seiner welttranszendierenden Kreativität zugleich unmittelbar und doch zum raumzeitlich gebundenen Objekt gemacht würde. Das darstellungslos Ursprüngliche wäre unvermittelt gegenständlich. - Haben dies die neutestamentlichen Zeugnisse sagen wollen?

Nein, sondern sie sind mit den Erzählungen von Erscheinungen des Auferstandenen dabei geblieben, eine Verhältnisbestimmung ins Bild zu setzen, nämlich die, daß die Nähe Gottes auch nach dem Tod Jesu - und gerade aufgrund dieses Todes - in Kraft bleibt; und zwar in der Kraft des Geistes, in dem Jesus lebte und der der schöpferische Geist Gottes ist.29 Die Ostererscheinungen zeigen Jesus so, wie Gott nahe ist; sie repräsentieren - sie vergegenwärtigen jetzt, da sie erinnert werden - die tröstliche, beständige und zukunftsträchtige Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch in Christus nach Jesu Tod.

5. Repräsentation steht jenseits der Alternative von bloßem Abbild oder Realpräsenz. Daß ein Urbild in gewissem Sinne mehr ist als sein Abbild, nämlich das Original, ist unter emprischen Bedingungen richtig; daß dann die existierende Präsenz mehr wäre als eine bloß zeichenhafte, ist - unter denselben Bedingungen gedacht - ebenfalls verständlich. Dieses Vorstellungsmuster aber ist vorsemiotisch und ungenügend, wenn es um die Darstellung des Göttlichen geht, von dem wir weder ein Original noch eine immer identische Tatsächlichkeit zur Verfügung haben. Die religiöse - und erst recht die christliche- Repräsentation ist aus guten semiotischen Gründen gar nicht anders denkbar, als daß über Zeichen das Göttliche wirklich ist. Natürlich nicht in jeder beliebigen Zeichenvermittlung und im Christentum eben wegen der Radikalität der christologischen Repräsentation in ganz bestimmter und geschichtlich in Judentum und Antike verankerter, unwiderruflicher Einmaligkeit. Der semiotische Zusammenhang von göttlicher Kreativität, Nähe der Liebe Gottes in den Gleichnissen Jesu und in der verstehenden Aneignung des Gleichnisses, das Jesus selbst ist30 - diese strukturelle wie inhaltliche Trinität ist eine vollständige Repräsentation.

Für die Ausgangsfrage nach der Inkarnationslehre bedeutet dies, daß sie in ihrer traditionellen Fassung nicht nur aufgrund heute nicht mehr übertragbarer Denkmittel ungenügend erscheint, sondern schon deshalb, weil sie den notwendigerweise dreistelligen Repräsentationsakt auf die Gottheit-Menschheit-Zusammensetzung fixiert31 - jedenfalls dann, wenn man die lehrhaften Formulierungen aus dem religiösen Kontext der christlichen Kirche zu jenen Zeiten herausgelöst betrachtet. Die dreistellige Repräsentation32 dagegen läßt die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch im Akt der Aneignung eben desselben Verhältnisses denken, so wie Gott im Gleichnis des Festes mit dem verlorenen und wiedergewonnenen Sohn - von Jesus selbst erzählt und in dieser Repräsentation heute verstanden wird.

Auf der Basis der fünf genannten Merkmale christologischer Repräsentation läßt sich also zeigen, wie die Aussagen der klassischen Inkarnationslehre zwar in ihrem Anliegen, nicht aber in ihren Denkmitteln aufgenommen werden können. Dann ist auch nachgewiesen, daß jedenfalls in diesem Punkt - dem klassischen "Geheimnis" der Christologie - Glaube, Denken und Handeln nicht auseinanderfallen müssen, so als wäre die Intersubjektivität von Handlungsgründen zu trennen von der Rationalität des Denkens - und beides wiederum von der kreativen Gewißheit des Glaubens. In den Akten von religiöser Repräsentation ganz allgemein wie in der christologischen Repräsentation in der genannten spezifischen Weise liegt immer schon ein differenzierter Zusammenklang von ursprünglicher Kreativität, gegenständlich zu denkender Darstellung und interpretierendem Verstehen im Blick auf Handlungskontexte vor. - Die christologische Repräsentation weiß dabei zuletzt, daß sie das, was sie weiß, nicht aus sich selbst weiß; daß Repräsentation entscheidend im Loslassen von Vermittlungen besteht: Bilder, als wären sie nicht. Diese durchaus mystische Konstellation - im Sinne Meister Eckharts33, Taulers, Luthers und des von Luther (1516/ 18) edierten "Frankfurters",34 des anonymen Autors der "Theologia Deutsch" - soll deshalb das letzte Wort haben. Im 5. Kapitel dieses Frankfurter Textes aus dem 14./15. Jh. heißt es über die christologische Repräsentation der Repräsentation: "Siehe, also soll man aller Dinge los u nd ledig werden, das ist: des Anmaßens. Wenn man denn der Dinge los wird, so ist das die beste, vollkommenste, lauterste und edelste Erkenntnis, die im Menschen jemals sein kann, und auch das alleredelste und lauterste Lieben, Wollen und Begehren: denn dies gehört dann alles Gott allein."

Summary

Public acknowlegement of Christian theology has been burdened in modern times by the problematic teaching of Christ’s ’two natures’. This teaching has its orgins in the early Church’ dogma of the Incarnation whose philosophical and biblical-historical assumptions have been examined critically by modern theology. And yet one may ask, how can the justifiable concern of Incarnation doctrine, that is to grasp conceptually both the unity and the difference between God and Man united in Jesus Christ, be developed further? It seems as if we must follow the pretty useless alternative of God’s action as myth on the one hand and the historical understanding of Christ on the other. Already Kierkegaard’s Christology, which assumed both a narrative and existentialist picture of Christ, tried to withdraw from this alternative, and it is the figurative representation of God in Christ which is thus discovered in both its religious and fundamental theological function. Using the ’categorical semiotics’ inspired by C.S. Peirce and a relevant religious philosophy, the effectiveness of a threefold act of representation can be systematized so that its structural unity can be clarified in academic thought and in everyday and religious inquiries. The qualitative (creative) basic reference, the objective representation and the spiritual appropriation or interpretation, consist of the three irreducible building elements in the actions of representation. The Trinity is thus recognized as the basis of Christology; God’s Creation represents itself in Christ thus: either as parables which experience the Kingdom of God in Him, or is present in the spiritual community. ’Christological representation’ as teaching and personal appropriation is the essence of creative productivity and the continuous dynamic process of the sign-as-event whereby God is experienced and thought about in Christian tradition.

Fussnoten:

* Antrittsvorlesung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main vom 25. Juni 1998.

1) J. W. Goethe: Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung, in: Goethe Sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe in fünfzehn Bänden. Einl. von K. Goedeke. 9. Bd. Stuttgart 1881, 30.

2) A. a. O. 30 u. vgl. 31 f.

3) Vgl. G. Lanczkowski u. Red., Art. Inkarnation, in: HWP 4, 1976, 368-382), hier: 368 f. (griech. sarkosis. lat. incarnatio; entsprechende griech. Wortbildungen bei Ignatius von Antiochien u. Justin, die Substantivbildung bei Irenäus Ende des 2. Jh.s); R. D. Williams/E. Fahlbusch, Art. Inkarnation, in: EKL 2, 1989, 671-682; zur kritischen Auseinandersetzung mit der klassischen Inkarnationschristologie vgl. J. Macquarrie, Art. Jesus Christus VII, in: TRE 17, 1988, 42-64.

4) Zu dieser Differenz zwischen der Inkarnation selbst und ihrer lehrhaften Verarbeitung vgl. I. U. Dalferth: Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, hier bes. Kap. 1.

Ich verdanke diesem Buch und seinen analytischen Klärungen entscheidende Hilfen für mein Verständnis der Christologie, wie sie im folgenden skizziert werden soll. In Kritik oder Verteidigung der Inkarnation kommt es schnell zu einem Problemknäuel, worin ungeklärte Positionen aus christlicher Tradition, kritischer Aufklärung, historischer Bearbeitung der Quellen, moderner Religionsphilosophie und Religionswissenschaft auf Gedeih und Verderb zusammenhängen. Dalferth zeigt exemplarisch (a. a. O. Kap. 1) am englischen Streit um Mythos und Inkarnation, was dabei auf dem Spiel steht.

5) DH 613; vgl. E. Mühlenberg, in: HDThG 1, 1989, 514 ff., 520.

6) DH 302.

7) J. Macquarrie, a. a. O. 54.

8) Vgl. J. Hick: An Interpretation of Religion, London 1989, 157: "Thus the Christian response to Jesus was and is an uncompelled interpretation, experiencing an ambiguous figure in a distinctive way as mediating the transforming presence of God."

9) M. K. Reinel, in: Gießener Anzeiger, 11.4.1998, 11

10) F. W. Graf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.4.1998, 3.

11) Vgl. C. S. Peirce: Religionsphilosophische Schriften, hrsg. von H. Deuser, Hamburg 1995 (PhB 478), Text-Nr. III.6.

12) Vgl. H. Deuser: Trinität und Relation, in: MJTh X (1998), 95-128.

13) Vgl. C. S. Peirce, a. a. O. 208 u. die Einleitung zu diesem Band, XXIX ff.

14) S. Kierkegaard: Einübung im Christentum, Ges. Werke, 26. Abt., hrsg. von E. Hirsch, Düsseldorf/Köln 1962, 167-169. - Daß Kierkegaard tatsächlich auch den Begriff der Repräsentation bewußt einsetzt und ihm zeitkritisch einen bestimmten christologischen Sinn gibt, zeigt seine Schrift Eine literarische Anzeige (1846), Ges. Werke 17. Abt., hrsg. von E. Hirsch, Düsseldorf 1954, 90. Ich verdanke diesen Hinweis Ulrich Lincoln.

15) T. W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Mit zwei Beilagen, Frankfurt am Main 1966, 237 f.

16) Vgl. E. Scheerer/S. Meier-Oeser/B. Haller/O. R. Scholz/K. Behnke, Art. Repräsentation, in: HWP 8, 1992, 790-853; E. Fahlbusch, Art. Repräsentation, in: EKL 3, 1992, 1631-1633.

17) Vgl. HWP, a. a. O. 813. - Tertullian: Adv. Marcionem I, 14,3, in: CChr.SL I/I, 455,22: "nec panem, quo ipsum corpus suum repraesentat".

18) Kritisch dazu bereits W. v. Ockham, der die volle Repräsentation des Christentums auf die ecclesia invisibilis bezieht und nicht auf ihre weltlichen Darstellungsformen, Ämter und Institutionen. Vgl. W. von Ockham: Dialogus de potestate papae et imperatoris (1328), Nachdr. der Ausg. von 1614, Torini 1959, 824 (Dialogis III, tr. 1, lib. 3, c. IX): "Respondetur, quod sola Ecclesia universalis illam congregationem perfectissime repraesentat." - Daß über die damit verbundene "enorme Verschärfung der Differenz zwischen repräsentiertem Sinn und repräsentierender Wirklichkeit" (B. Haller, in: HWP, a. a. O., 815) eine produktive Ungewißheit entsteht, dürfte für die neuzeitliche Selbstvergewisserung des Subjekts ein entscheidender Impuls gewesen sein. Vgl. zu Ockham bei M. A. Schmidt, in: HDThG 1, 1989, 714 ff.; J. Miethke: Repräsentation und Delegation in den politischen Schriften Wilhelms von Ockham, in: A. Zimmermann [Hrsg.]: Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild, Berlin/New York 1971, 163-185.

19) Vgl. O. R. Scholz, in: HWP, a. a. O., 829 f. - Als inzwischen schon klassischen Beleg zitiert Scholz aus J. M. Baldwins Dictionary of Philosophy and Psychology (1901) die dort von Peirce gegebene Definition des Wortes "represent". Sie lautet vollständig: "To stand for, that is, to be in such a relation to another that for certain purposes it is treated by some mind as if it were that other. Thus a spokesman, deputy, attorney, agent, vicar, diagram, symptom, counter, description, concept, premise, testimony, all represent something else, in their several ways, to minds who consider them in that way. See SIGN. When it is desired to distinguish between that which represents and the act or relation of representing, the former may be termed the ’representamen’, the latter the ’representation’."

20) Zu den entsprechenden Positionen im Neukantianismus (P. Natorp) vgl. O. R. Scholz, a. a. O., 828; zu E. Cassirer vgl. M. Moxter: Kultur als Lebenswelt, HabSchr. Frankfurt am Main 1997/98, Kap. 2.

21) Zur allgemeinen Bestimmung der religiösen Repräsentation bezüglich "boundary conditions contrasting the finite and the infinite" vgl. R. C. Neville: The Truth of Broken Symbols, Albany (SUNY Press) 1996, 47.

22) C. S. Peirce: Religionsphilosophische Schriften (s. o. Anm. 11), 245: "Was Gott betrifft, öffne Deine Augen - und Dein Herz, das ebenso ein Organ der Wahrnehmung ist -, und Du siehst ihn."

23) Zum Problem von Identitätsaussagen in der Christologie vgl. I. U. Dalferth (s. o. Anm. 4), 14 ff. - Daß selbst die numerische Identität in einer Kontinuität, d. h. in einem Zusammenhang gestiftet wird, zeigt Peirce im Blick auf den Begriff der Repräsentation, vgl. C. S. Peirce: Semiotische Schriften, Bd. 3, hrsg. von C. Kloesel/H. Pape, Frankfurt am Main 1993, 203. In diesem wissenschaftstheoretischen Kontext von evolutionärer ebenso wie metaphysischer Kontinuität hat Repräsentation durchaus auch einen lebensweltlichen, naturalen und sprachlichen Sinn - und stellt keineswegs notwendigerweise (wie von C. Taylor in seinem Kontext zu recht kritisiert, vgl. seine Kritik an G. H. Mead, in: C. Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1996, 71 f. u. Anm. 12) eine modernitätstypische szientistische Abstraktion dar. Vgl. zu Taylors Kritik der objektivistischen "Repräsentation" bei T. Kreuzer: Kontexte des Selbst. Theologische Perspektiven der hermeneutischen Anthropologie Charles Taylors, Diss. Frankfurt am Main 1998 (Kap. II.2.1.1.).

24) Diese Zusammenhänge erörtert im Gegenüber von "naturalistischem" Denken der Gegenwart und klassisch theistischem Denken der christlichen Tradition C. D. Hardwick: Events of Grace. Naturalism, existentialism, and theology, Cambridge University Press 1996. Es sind vor allem die Christologien von R. Bultmann und S. M. Ogden, die für eine Wende stehen, z. B. Ogdens Satz: Die Frage nach Gott wird beantwortet "by explicitly identifying someone or something that decisively represents God" (zit. nach Hardwick, a. a. O. 217).

25) Zur Theologie der creatio ex nihilo und zur Ontologie von Unbestimmtheit und Bestimmtheit vgl. R. C. Neville: God the Creator. On the Transcendence and Presence of God, Albany (SUNY Press) 1992; und dazu H. Deuser: Neville’s Theology of Creation, Covenant, and Trinity, in: AJTP 18, 1997, 215-237.

26) Vgl. J. Moltmann: Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989, 59 ff.; H. Kessler: Partikularität und Universalität Jesu Christi. Zur Hermeneutik und Kriteriologie kontextueller Christologie, in: R. Schwager [Hrsg.], Relativierung der Wahrheit? Kontextuelle Christologie auf dem Prüfstand, Freiburg 1998 (QD 170), 106-155.

27) Vgl. K. Barth: Kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 1960, 45: "Das Wie dessen, von dem uns die Wirklichkeit Jesus Christus sagt, daß es so ist, ist uns unbegreiflich ... Wir können aber auch hier verstehen: eben dieses Unbegreifliche mußte Ereignis werden, damit Gottes Offenbarung möglich sei." - Daß Barths Theologie und besonders seine Versöhnungs- und Sakramentenlehre von vermittelnden Zeichen, Repräsentationen usw. immer mehr abrücken, zeigt M. Vetter: Zeichen deuten auf Gott. Der zeichentheoretische Beitrag von Charles S. Peirce zur Theologie der Sakramente, Diss. Frankfurt am Main 1998, 10.

28) Beispielhaft für den Forschungsstand und die Grenzziehung unter diesen Bedingungen historischer Arbeit ist G. Theissen/A. Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 2. Aufl. 1997; vgl. a. a. O. 439: "Die Geschichte vom leeren Grab kann nur von dem (auf Erscheinungen basierenden) Osterglauben her erhellt werden, nicht umgekehrt der Osterglaube vom leeren Grab her ... Die Auferstehung des am Kreuz hingerichteten Jesus, die das NT einstimmig behauptet, widerspricht dem modernen Weltbild." - A. a. O. 495: "Nach seinem Tod erschien er zunächst entweder Petrus oder Maria Magdalena, dann mehreren Jüngern zusammen. Sie kamen zu der Überzeugung, daß er lebendig war."

29) In diesem Sinne müssen J. Moltmanns Ausführungen zur "Auferstehung Christi", vgl. a. a. O., 235 ff., mit denen zur "Geist-Christologie" zusammen gelesen werden, a. a. O., 92 ff. - Wenn auf der Basis historischer Forschung doch vom "Faktum der Auferstehung Jesu" und ihrem "Anspruch auf Historizität" gesprochen werden soll (vgl. W. Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991, 386 u. 402), dann bleibt dies historisch wie theologisch äußerst mißverständlich. Daß es dabei sehr grundsätzlich um die Frage der Auffassung von Realität geht, mit Pannenbergs Worten: um das "Wirklichkeitsverständnis, das durchaus im Flusse ist" (a. a. O., 405), ist selbstverständlich. Gottes ursprüngliche Kreativität ebenso wie geistiges Leben über den biologischen Tod hinaus sind zu einem Gesamtbegriff von Realität zu rechnen, der den szientistischen Einschränkungen dessen, was als wirklich gelten darf, überlegen ist. Das bedeutet aber gerade, das zwischen jener Realität und dieser empirischen Faktizität ein Unterschied gemacht werden muß. Theologie im Zeitalter der Wissenschaften sollte es zu Verwechslungen oder falschen Ansprüchen in diesem Punkt nicht mehr kommen lassen. Im Sinne der christologischen Repräsentation kann - an der historisch-kritischen Grenze - z. B. so formuliert werden: "Der Auferstandene wird auf Erden notwendig als Erscheinung wahrgenommen, weil er einer Wirklichkeit angehört und seine Wirklichkeit stiftet, die reicher und komplexer ist als die natürlich-irdische Wirklichkeit" (M. Welker: Auferstehung, in: Glaube und Lernen 9, 1994, 39-49; 43).

30) Vgl. (im Denkzusammenhang der Hermeneutik des "Sprachereignisses") E. Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen, 2. Aufl. 1977, 394.

31) Vgl. I. U. Dalferths präzise Ableitung und Kritik der Zwei-Naturen-Christologie und der Communicatio-idiomatum-Lehre, a. a. O., 143-152. Das trinitarisch ausgelegte "Heilshandeln Gottes" gilt dann gegenüber der zweistelligen "Repräsentationssemantik" (152) als Problemlösung. - Es bleiben aber noch zwei Schwierigkeiten: 1) Wird das Heilshandeln Gottes (aus exegetischen wie aus dogmatisch-trinitarischen Gründen) im auferweckten Jesus Christus fundiert (vgl. 24), so handelt es sich um eine "eschatologische Gewißheit" (25), deren Realitätsstatus wiederum mit dem Heilshandeln Gottes in Jesus Christus steht und fällt. Hier ist die Auferstehung nicht historisierender Beweis (s. o. Anm. 29), kein "Mirakel" (80 u. Anm. 85), aber eben von sachlich ausschlaggebendem Gewicht, weil Gott sich in Jesus "unwiderruflich als Gott für uns identifiziert" (77). Wie kommt es zu diesem Identifikationsakt bzw. zu seiner Erkenntnis? Historisch bleibt es bei Zeugnissen, worin aber besteht deren Überzeugungskraft? Und ist diese dann nicht doch wieder dem irgendwie historisch zu denkenden Ereignis der Auferstehung angelastet? 2) Soll diese Schwierigkeit vermieden werden, wäre ein Weg der, über eine allgemeine Metaphysik, Religionstheorie oder semiotische Theorie der Repräsentation die im christlichen Auferstehungsglauben implizierte Trinität des Ereignisses aufzuklären. Dieser Weg soll aber zugunsten des Vorrangs des "konkrete[n] Handeln[s] Gottes" (23 Anm. 65; vgl. 149, Anm. 126) nicht versucht werden, weil offenbar ein sachlicher Bruch zwischen allgemeiner Theorie und Konkretheit des eschatologischen Geschehens unterstellt wird. Ist das aber zwingend? Ist nicht die Frage nach dem, was sich den ersten Christen "erschloß" (25 Anm. 68) genau dieselbe - nur in unterschiedlicher Perspektive aufgenommen -, ob sie strukturell die Bedingungen eines solchen Ereignisses (christologische Repräsentation) angibt oder ob sie aus der Konkretheit der Situation heraus extrapolieren muß? In der zweiten Perspektive läßt sich zeigen, daß das "Auferweckungsbekenntnis" gegenüber der späteren Inkarnatio nslehre sachlichen Vorrang hat (vgl. 30 f.), in der ersten Perspektive wird die Stellung dieses Bekenntnisses selbst in seiner Genese plazierbar und religiös wie christlich verständlich - und damit geöffnet für den jeweils existentiellen Erfahrungszusammenhang.

32) In seiner Kritik an der Inkarnationslehre betont auch P. Tillich: Christus "repräsentiert das wesenhafte Menschsein; und damit repräsentiert er Gott." Vgl. P. Tillich: Systematische Theologie, Bd. II, Stuttgart, 3. Aufl. 1958, 103. - Daß Tillich damit durchaus aber keine zeichentheoretische Begrifflichkeit einführen will und daß deshalb sein Symbolbegriff problematisch bleibt, zeigen M. Moxter, a. a. O., Kap. 1; M. Vetter, a. a. O., 11.

33) Vgl. N. Largier im Kommentar zu Meister Eckharts Predigten zum Thema der "Repräsentation" unter Selbstaufgabe von "Reflexion" und "Erkenntnisbildern", in: Meister Eckhart. Werke I, hrsg. von N. Largier, Frankfurt am Main 1993, 901 f., 754 ff.; vgl. auch A. M. Haas: Meister Eckharts mystische Bildlehre, in: A. Zimmermann: Der Begriff der Repraesentatio (s. o. Anm. 18), 113-138. - Diese Konstellation gilt entsprechend für Tauler (vgl. F. Vetter [Hrsg.]: Die Predigten Taulers, Berlin 1910; z. B. in Predigt 57, S. 273; vgl. denselben Text in modernem Deutsch bei G. Hofmann [Hrsg.]: Johannes Tauler. Predigten, Freiburg 1961, 375) und die Theologia Deutsch.

34) Vgl. zu Luthers Editionen bei M. Brecht: Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483-1521, Stuttgart 1981, 141. - Im folgenden zit. nach: Der Frankfurter. Eine Deutsche Theologie, hrsg. von J. Bernhart, Leipzig 1920, 99; vgl. die kritische Edition desselben Textes: Der Franckforter. (Theologia Deutsch), hrsg. von W. v. Hinten, München 1982, 75 f.