Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2003

Spalte:

471–484

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Jüngel, Eberhard

Titel/Untertitel:

Besinnung auf 50 Jahre theologische Existenz*

Freuet Euch - war meine Antwort, als ich (anno 1959) im Ersten Theologischen Examen von der das Fach Bibelkunde prüfenden Pastorin Ingeborg Becker in wohlwollend freundlichem Ton gefragt worden war, was denn wohl im Brief des Apostels Paulus an die Philipper stünde. Ich habe eine Weile nachgedacht und dann strahlend geantwortet: "Freuet Euch, Frau Pastorin!" "Richtig, Herr Kandidat", antwortete die preußische Offizierstochter, um in einem merklich strenger werdenden Ton fortzufahren: "Es wird aber wohl noch etwas mehr darin stehen." Ich dachte erneut nach und antwortete dann: "Jawohl, Frau Pastorin!" Diese, nun sehr streng: "Ja, was denn? Was steht denn noch drin im Brief des Apostels an die Philipper?" Ich, jetzt erst recht strahlend: "Und abermals sage ich: Freuet Euch!"

Ich stelle diese autobiographische Erinnerung mit Bedacht an den Anfang meiner Besinnung auf das, was theologische Existenz genannt zu werden verdient. Denn zu jeder theologischen Existenz gehört nun einmal immer auch ein sehr persönliches, ein ausgesprochen existentielles Profil. Theologische Existenz lässt sich nicht delegieren. Sie ist meine ureigene Existenz. Und so werde ich denn in dieser meiner letzten Vorlesung vor meiner Emeritierung die Sache, um die es in der Theologie geht, ausnahmsweise sehr persönlich, nämlich als von dieser Sache persönlich Betroffener zur Sprache bringen. Ich, Eberhard Jüngel, glaube; darum rede ich. Und ich, Eberhard Jüngel, versuche zu denken, was ich glaube; davon rede ich. Und dabei rede ich notwendigerweise auch von mir selbst.

Ich werde bei meiner Besinnung so vorgehen, dass ich einige mir wichtig gewordene theologische Grundentscheidungen in Erinnerung rufe, dabei meiner Lehrer gedenke und immer auch ein bisschen von dem äußeren Verlauf meiner theologischen Existenz erzähle: nicht linear chronologisch, sondern zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her gehend. Und das kann eben nicht geschehen, ohne dass ich von der Freude erzähle, die nun einmal einer der Grundzüge meiner theologischen Existenz ist. Dass zu solcher Freude eine gewisse Leidenschaft gehört - nicht unbedingt eine tobende und brüllende, wohl aber eine verhaltene intensive Leidenschaft -, das versteht sich für einen Theologen von selbst. Man kann nur leidenschaftlich Theologie treiben oder gar nicht. Der leidenschaftslose Geselle, der - wie Kierkegaard spottete - beim Denken seine eigene Existenz wie einen Stock oder Regenschirm irgendwo abstellt, der soll uns gestohlen bleiben.

Im Folgenden geht es um die leidenschaftliche Freude an Gott, um die leidenschaftliche Freude an der Wahrheit und - ja auch um die leidenschaftliche Freude am Leben. Von der Freude an Gott soll am Anfang relativ knapp die Rede sein. Die Freude an der Wahrheit braucht erheblich mehr Zeit, während die Freude am Leben wie dieses selbst eher kurz ist.

I. Freude an Gott

Freude an Gott - kann es überhaupt eine theologische Existenz geben, die davon nicht bestimmt ist? Ein Theologe, der sich seines Gottes nicht zu freuen vermag - ist er überhaupt denkbar? Ist der freudlose Theologe nicht vielmehr ein lustloser Repräsentant tötender Buchstaben: eine von jenen trostlosen Gestalten, denen der Hohn Friedrich Nietzsches zu Recht galt? Und über den, wenn er sich von seiner angeblich theologischen Existenz verabschieden würde, Freude unter den Engeln im Himmel herrschen würde? Nur ein böser Engel, nur einer aus der Schar Luzifers kann Vergnügen an freudlosen Theologen haben.

Gewiss, es gibt auch für die Glaubenden und für die die Wahrheit des Glaubens denkend verantwortenden Theologen immer wieder Situationen, in denen Trauer und Klage an der Zeit ist. Und dass theologische Existenz immer auch angefochtene Existenz ist, das muss man sich nicht erst von anderen sagen lassen, das weiß ein einigermaßen sensibler Theologe aus ureigener Erfahrung. Doch was macht ihn denn allererst sensibel? Von wem wird er denn inmitten bedrückender und mitunter sogar verzweifelt aussichtsloser Situationen, von wem wird er denn angefochten? Von wem, wenn nicht von Gott selbst? Und zwar von eben dem Gott, der im Evangelium, der - wie Luther zutreffend präzisiert - in dem lieben Evangelium große Freude verheißen hat, eschatologische Freude über den wie ein Kind, nein: als ein Kind zur Welt gekommenen Gott und über das in seiner Person sich uns erschließende Reich der Freiheit? Chara megale verheißt das Evangelium (Lk 2,10), große Freude, die allem Volk widerfahren soll: allem Volk und so gewiss auch jeder Frau und jedem Mann, jedem Greis und jedem Kind und nicht weniger allen denen, die, wie die alten Griechen zu sagen pflegten, in ihrer akme , in ihrer herrlichen Blüte stehen. Ja selbst uns staubtrockenen, mehr oder weniger gelehrten Universitätsprofessoren gilt die im Evangelium proklamierte Freude.

Freude woran und worüber? Auf jeden Fall über das, was mir gut tut. Und was tut mir gut? Gewiss vielerlei. Doch nichts tut mir so gut wie das Zusammensein mit Gott. Ein alttestamentlicher Frommer hat es etwas sehr steil so ausgedrückt: "Wenn ich nur Dich habe, frage ich nichts nach Himmel und Erde" (Ps 73,25). Auch wenn man zu derart steilen Aussagen nicht ohne weiteres fähig zu sein meint: Menschliche Freude erreicht ihren Zenit, wenn sie sich als Freude an Gott ereignet.

Wer sich Gottes nicht zu freuen, wer ihn nur zu fürchten vermag, der kann auch nicht ernsthaft angefochten werden. Und dessen Trauer, dessen Klagen und Tränen sind zwar ernst zu nehmende Lebensäußerungen, aber sie gehören nicht zu den bitterernsten Kennzeichen theologischer Existenz. Im theologischen Sinne bitterernst kann es nur da werden, wo die eschatologische Freude über das uns im Evangelium verbürgte kommende Reich der Freiheit, in dem wir Gott unmittelbar, von Angesicht zu Angesicht begegnen werden, sich in ihr Gegenteil zu verkehren droht. Theodizee ist ein wirklich ernst zu nehmendes Wort, die Theodizeefrage ist eine bitterernste Frage nur für den, der durch sie seine Freude an Gott existentiell in Frage gestellt sieht. Pointiert und hart formuliert: Wer sich Gottes freute und ihn dann verflucht, der weiß wenigstens, wen er verflucht.

Kurzum: Wenn wir uns Gottes in keiner Weise zu freuen vermögen, dann sind auch unsere Schreie de profundis, dann sind auch unsere Klagen und Anklagen bei Gott am falschen Ort. Und umgekehrt, wer sich Gottes - und sei es denn in tormentis - zu freuen vermag, wer von ganzem Herzen Ja zu Gott zu sagen vermag, der darf dessen gewiss sein, dass auch sein in Klagen und Anklagen sich artikulierendes Nein nicht nur Gottes Ohr, sondern auch Gottes Herz erreicht. Und dieses Herz, das behauptet das liebe Evangelium, dieses Herz schlägt für uns, und zwar m'wlm 'd 'wlm.

Deshalb muss man das Gesetz, wenn und sofern es mit dem Evangelium nicht konform geht, vom Evangelium penetrant unterscheiden. Und deshalb ist in der Tat "die höchste kunst jnn der Christenheit, die wir wissen sollen", die gründliche Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.1 Denn was das Gesetz statuiert, das vergeht. Was aber das Evangelium proklamiert, das bleibt.

II. Freude an der Wahrheit

In diesem zweiten Teil meiner Besinnung muss ich ausführlicher werden. Bereits die initia meiner eigenen theologischen Existenz waren von der Freude an der Wahrheit bestimmt. Ich wuchs - nach einer Kindheit im so genannten tausendjährigen Reich - im so genannten real existierenden Sozialismus auf. Von amerikanischen Truppen erobert und befreit - jawohl auch befreit; daran zu erinnern besteht heutzutage durchaus Veranlassung! -, von den der US-Army folgenden Engländern korrekt verwaltet und von der schließlich als definitive Besatzungsmacht einmarschierenden "ruhmreichen Roten Armee" der jungen Freiheit alsbald wieder beraubt, aber nicht entwöhnt, besuchte ich in Magdeburg das traditionsreiche Kloster- und Domgymnasium, das von der Walter-Ulbricht-Administration sehr bald in Humboldt-Schule umgetauft wurde. Doch den Geist Wilhelm und Alexander von Humboldts vermochte der neue Name nur bedingt und nur in sehr engen Grenzen zu vermitteln. Es war anderer Herren Geist, vielmehr Ungeist, der uns erobern und beherrschen sollte. Und das war nicht etwa der Geist von Karl Marx und Friedrich Engels, die gründlich zu studieren ich nur jedem empfehlen kann, sondern das war der Geist der beiden anderen, die auf den überall in Stellung gebrachten Emblemen, Marx und Engels zu hintergründigen Ahnen relativierend, zu sehen waren.

Übrigens: Ein theologischer Zeitgenosse hatte später den grotesken Einfall, den Schutzumschlag seiner Habilitationsschrift mit diesem Emblem zu zieren und dabei das Haupt Josef Wissarionowitsch Stalins durch den Kopf Karl Barths zu ersetzen. Nur mein leidenschaftlicher Protest bei dem zuständigen Verleger konnte diesen veranlassen, den skandalösen Umschlag einzustampfen - freilich nicht, ohne dass der Verleger mir erbost mitteilte, der Umschlag habe ihn immerhin 947,- DM gekostet. Die Arbeit selbst war der eifrige und eifernde Versuch, Karl Barths Gottesbegriff als einen "gesellschaftlich disponierte[n] Gottesbegriff", und zwar genauerhin als einen sozialistisch disponierten Gottesbegriff auszuweisen.2 Man kann diesem Versuch einen gewissen zelos wahrhaftig nicht absprechen. Aber war es ein zelos kat epignosin? Ich habe mir auf dem Titelblatt dieses Buches einen Satz Franz Overbecks notiert, der vielleicht etwas übertrieben, aber doch irgendwie wahr ist und insofern jede theologische Existenz trifft. Er lautet: "Es ist das grösste Unglück, das einem Text passiren kann, ausgelegt zu werden, und je eifriger man sich seiner in diesem Sinne annimmt [je eifriger man ihn also deutet], um so grösser ist das Unglück."3 Wer der Wahrheit dieser Äußerung Overbecks auch nur einiges abzugewinnen vermag, der wird ermessen, was es heißt, dass das ewige Leben im Reich der Freiheit das Ende aller Deutungen mit sich bringen wird. Nicht nur dies, dies aber gewiss auch. Darüber habe ich mich in der gestern zu Ende gegangenen Eschatologie-Vorlesung ausführlicher ausgelassen.

Doch zurück ins damalige Magdeburg! In unserer Humboldtschule wurden uns Treuebekenntnisse zum Geiste von Marx, Engels, Lenin und Stalin und zu Stalins ergebenstem Diener Walter Ulbricht abverlangt. Ein Beispiel: Zu Stalins Geburtstag wurden servile Glückwunschschreiben an den "teuren Josef Wissarionowitsch" verfasst, die dann von uns unterschrieben werden sollten. Und da dieser Geburtstag jährlich unmittelbar vor dem Weihnachtsfest fällig war, schlug unser hinterlistiger, von uns geliebter Griechischlehrer vor, den Diktator doch gleich mit "Josef, lieber Josef mein" anzureden.

Solche Ironie war freilich gefährlich. Und die Verweigerung der obligaten Treuebekenntnisse war es erst recht. Von der Freiheit des Geistes war in der nach den beiden Humboldts benannten Schule so gut wie nichts mehr zu spüren. Und vom Geist der Freiheit erst recht nichts. Wer die Wahrheit - oder was er dafür hielt - zu sagen wagte, der lief Gefahr, Schaden zu nehmen. Am Tag vor dem Abitur wurde ich zusammen mit einer besonders verantwortungsbewussten Klassenkameradin als "Feind der Republik" aus dem Gymnasium entfernt.

In einer solchen Situation lernte ich die evangelische Kirche als einen Ort kennen, an dem man Wahrheit, und zwar nicht nur geistliche, sondern auch weltliche, politische Wahrheit zu hören bekam und an dem man selber in aller Freiheit sagen konnte, was man nach dem Maß seiner Einsicht für wahr hielt. Und als ich dann im Johannesevangelium (Joh 8,32) den verheißungsvollen Satz entdeckte "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird Euch frei machen" - da war's um mich geschehen. Da begann ich zu ahnen, was die Kirche Jesu Christi ist und immer wieder werden muss: ein Ort befreiender Wahrheit. Und ich war begierig, diese befreiende Wahrheit und den Ort, an dem sie gedeiht, näher kennenzulernen. Ich glaubte und deshalb wollte ich verstehen, was ich glaubte. Damit begann meine theologische Existenz vor nunmehr ziemlich genau 50 Jahren. Und es versteht sich nahezu von selbst, dass ich meine spätere theologische Lehr- und Forschungstätigkeit immer zugleich als einen kirchlichen Dienst, als ein auch in Synoden, kirchlichen Ausschüssen und Kammern, vor allem aber als ein auf der Kanzel auszuübendes ministerium wahrgenommen habe. Ja, als verbi divini minister vollzieht sich bis heute meine theologische Existenz.

Äußerlich führte sie mich an die Kirchlichen Hochschulen in Naumburg/Saale und in Berlin. An den Universitäten der DDR zu studieren, wurde mir verwehrt. Zuerst war ich darüber empört und zornig. Doch am Ende habe ich es nicht bereut. Denn die Kirchlichen Hochschulen der DDR waren intellektuelle Oasen in einer ideologischen Wüste. Hier konnte man denken. Hier lernte man denken.

Und das war mir auch nicht eine Sekunde lang zweifelhaft, dass die befreiende Wahrheit des Evangeliums gedacht und denkend verantwortet zu werden verlangt. Dankbar erinnere ich mich deshalb des philosophischen Lehrers Gerhard Stammler, der uns in seinen Logik-Kollegs und in seinen Kant-Übungen in die strenge Schule der logischen Begriffsbildung, die Schulung der Urteilskraft und die Kunst des stringenten Schlussfolgerns einführte. Und siehe da: je strenger, desto schöner! Dass die Stringenz der Konsequenz Vergnügen bereitet, das gehört zu denjenigen Erfahrungen meines Studiums, die mir den Sinn für die pulchritudo einer stringent argumentierenden und sich luzide aufbauenden Theologie öffneten.

Dass hingegen theologische Erkenntnis im Akt der Anerkenntnis der überlegenen göttlichen Wahrheit zu scheiternder Erkenntnis werden müsse und deshalb nur in Paradoxien aussagbar sei, diese von meinem dogmatischen Lehrer Heinrich Vogel mit aller Leidenschaft vertretene Auffassung konnte ich mir schon damals nicht und auch späterhin nie zu eigen machen. Als ich in meiner Barth-Paraphrase den Satz Gott entspricht sich formulierte, hatte ich auch Heinrich Vogels paradox versiegelte Theologie kritisch im Blick. Um so mehr erstaunte es mich, als ausgerechnet dieser Lehrer, der mit Kierkegaard das Paradox für des Denkens Leidenschaft hielt, mich zu eben diesem Satz beglückwünschte. War auch das noch ein Vogelsches Paradox? "Auf diese Aussage wäre ich selber gern gekommen" - lautete sein Kompliment, das er nicht weniger leidenschaftlich an den Mann brachte als sonst seine Paradoxa.

Die auch von mir bejahte particula veri seiner Leidenschaft fürs Paradox war übrigens die Einsicht, dass die Sache der Theologie denkend nur erfasst werden kann, wenn das Denken selber zum Umdenken fähig und bereit ist. Die Linearität eindimensionalen Denkens gerät - wenn nicht schon vorher, so spätestens - in der Theologie in die Krisis. Und so bleibt denn Heinrich Vogel, obwohl ich niemals sein Schüler wurde, mein Lehrer.

Nicht weniger leidenschaftlich, nun aber von schwäbischen Eruptionen durchsetzt, vollzog sich vor unseren - mal vor Entzücken, mal vor Entsetzen - weitgeöffneten Augen die theologische Existenz des aus Tübingen nach Berlin berufenen Neutestamentlers Ernst Fuchs, der dann mein Doktorvater wurde. Was ich bei Theodor Storm nur gelesen hatte, nämlich

... doch zu Zeiten

sind erfrischend wie Gewitter

goldne Rücksichtslosigkeiten4

- hier war's Ereignis. Bei Fuchs konnte man - Eruptionen hin, Eruptionen her - eine mir bis dahin kaum vertraute Weise des Denkens kennen lernen, die nicht weniger streng als der logische und logistische modus cogitandi war. Aber es handelte sich um eine ganz andere Art der Strenge: nämlich um die Strenge des Nachdenkens. War mir bei Gerhard Stammler die Konsequenz des Denkens, bei Heinrich Vogel die Vehemenz des Umdenkens begegnet und nahegebracht worden, so bei Ernst Fuchs die Intensität des Nachdenkens.

Wer nachdenkt, weiß um ein Vorgegebenes, um ein positum. Insofern ist Theologie, wie der große Schleiermacher in einem von der üblichen Rede, die das Positive als Gegensatz zum Negativen versteht, abweichenden - wohl von Schelling übernommenen - Sprachgebrauch formuliert hat, eine "positive Wissenschaft"5. Doch was ist das die Theologie zur positiven Wissenschaft machende positum, was ist das dem Nachdenken Vorgegebene? Schleiermacher - der übrigens heute vor 169 Jahren zu genau dieser Stunde gestorben ist - hat mit dem Motto, das er auf das Titelblatt seiner Glaubenslehre gesetzt hat, einen Hinweis gegeben. Es handelt sich um ein Anselm-Zitat, also lautend: "... qui non crediderit, non experietur, et qui expertus non fuerit, non intelliget."6 Dann wäre es also die Glaubenserfahrung, der es nachzudenken gilt. Ernst Fuchs konnte ähnlich formulieren, gab sich aber mit dieser Auskunft nicht zufrieden. Er wollte den Ursprung aller Glaubenserfahrungen in das positum, dem es in der Theologie nachzudenken gilt, einbezogen wissen. Und damit wurden die biblischen Texte zum eigentlichen Gegenstand theologischen Nachdenkens. Ich habe später daraus die Konsequenz gezogen, dass die den Wahrheitsanspruch der biblischen Texte im Horizont des Wahrheitsbewusstseins der Gegenwart verantwortende dogmatische Theologie im Grunde nichts anderes ist als konsequente Exegese.

Zu den Instrumenten solchen den biblischen Texten geltenden Nachdenkens gehört die historisch-kritische Methode. Die Angst, der Wahrheitsanspruch der biblischen Texte könne unter dem Zugriff der historisch-kritischen Exegese verloren gehen, wurde bei Fuchs zwar nicht - wie leider so oft - als infantile Ängstlichkeit der Lächerlichkeit preisgegeben. Fuchs hatte im Blick auf seine eigene theologische Existenz den schönen Satz formuliert: "Ich freute mich über jedes fromme Wort, wenn es klug war." Das galt auch für seinen Umgang mit der Angst einiger Studierender vor der historisch-kritischen Exegese. Dieser Angst wurde dadurch begegnet, dass die hermeneutische Haltlosigkeit eines bloß positivistischen Fragens nach den sogenannten bruta facta dargetan wurde. Denn für Fuchs hat die historisch-kritische Methode erst dann ihre Arbeit getan, "wenn sich aus dem Text die Nötigung zur Predigt ergibt".7 Und unter Predigt ist dabei diejenige Kommunikation zwischen dem Wahrheitsanspruch des Textes und dem gegenwärtigen Menschen zu verstehen, in der der Mensch nicht nur informiert, sondern vielmehr auf sich selber angesprochen wird. Das aber wiederum so, dass er in den Lebensraum des Textes versetzt wird, um dort Gott selbst als den in ursprünglicher Weise Redenden zu erfahren. Einkehr in das Wort hieß die Parole, die das eigentliche telos historisch-kritischer Exegese auf den Begriff brachte.8

Theologische Existenz ist in der Tat nicht möglich, ohne eine solche stets aufs Neue zu wiederholende Einkehr in die biblischen Texte. Karl Barth, der den Begriff der theologischen Existenz meines Wissens geprägt hat, hat ihn definiert durch den Bezug auf das in der heiligen Schrift bezeugte Wort Gottes: "... theologische Existenz, d. h. ... Bindung an das Wort Gottes".9 "Wo die heilige Schrift Meister ist, da ist theologische Existenz".10 Doch damit die heilige Schrift Meister sein kann, muss ich erst einmal in die Werkstatt versetzt werden, in der ich des Meisters ansichtig werden und dann von ihm lernen kann. Und das sind eben die einzelnen biblischen Texte, die erst dann zu heiligen Schriften werden, wenn in ihnen der redende Gott selber vernehmbar wird. Deshalb gehört zur theologischen Existenz der immer wieder zu vollziehende existentiale Ortswechsel hinüber und hinein in den weiten Raum der biblischen Textwelt, und das wiederum so, dass die ganze Topik meiner gegenwärtigen, von mannigfachen Urteilen und Vorurteilen immer schon geprägten Lebenswelt mit einkehrt z. B. in einen Psalm, um dann in diesem Psalm "gericht und urteil" über die eigene Lebenswelt und die in ihr geltenden Autoritäten und Imperative zu "holen".11 "gericht und urteil" aber kann man in diesen Texten nur deshalb holen, weil in ihnen die befreiende und eben deshalb tröstliche Macht der Wahrheit erfahrbar wird.

So entsteht in der Theologie "wissenschaftliche Sachkompetenz", die nach dem treffenden Urteil Werner Heisenbergs nur durch "Intimität im Verhältnis zur Sache" zustande kommt.12 Die unerlässliche "Intimität im Verhältnis zur Sache" der Theologie besteht in dem die theologische Existenz auszeichnenden intimen Verhältnis zum biblischen Text. Und zu dieser Intimität gehört - und zwar nicht etwa als Zusatz, der notfalls auch entbehrlich sein könnte, sondern - konstitutiv die Freude an der Wahrheit, die in diesem Text entdeckt wird. Es ist Entdeckerfreude, die uns zu Theologen und aller freudlosen Reflexion, allem lustlosen Räsonieren ein Ende macht.

Die Erfahrungen, die man dabei mit Gott und mit sich selber und seiner Welt macht, verlängern allerdings nicht die lange Reihe unserer sonstigen Welt- und Lebenserfahrungen. Aber sie sind Erfahrungen mit diesen weltlichen Erfahrungen. Das hat mich dazu veranlasst, den Glauben als eine Erfahrung mit der Erfahrung zu bestimmen.

Es lag auf der Linie der bei Ernst Fuchs gewonnenen Einsichten, dass ich mir die in der Theologie üblich gewordene Dialektik von Frage und Antwort, der gemäß der Mensch nicht nur nach etwas fragt, sondern, weil über alle fälligen Antworten wieder hinaus und weiter fragend, in seinem eigenen Dasein selber eine einzige große Frage ist, auf die dann Gott die Antwort sein soll - dass ich mir diese kunstvolle (von Paul Tillich, Karl Rahner, Gerhard Ebeling, Wolfhart Pannenberg bravourös, von vielen anderen freilich nur ermüdend stupid durchgespielte) Dialektik nicht zu eigen machen konnte. Ist das dem theologischen Nachdenken Vorgegebene der biblische Text und das in ihm bezeugte Wort Gottes und entdecken wir im biblischen Text nicht nur Gottes Urteil und Gericht über uns, sondern zugleich seine uns befreiende Wahrheit, dann ist der Mensch nicht eine Frage, auf die wir die Antwort nicht - noch nicht! - kennen, sondern dann ist der Mensch eine schon gegebene Antwort, zu der wir die angemessene Frage finden müssen. Solange die Frage noch nicht gefunden ist, bleibt der Mensch - mit Hölderlin zu reden - "ein Zeichen ..., deutungslos"13. Doch dass man die Deutung erst in der Ewigkeit finden kann und bis dahin also weiterhin alles in der Schwebe bleiben muss, das klingt zwar eminent tiefsinnig, ist aber in aller scheinbaren Tiefsinnigkeit einfach nur eschatologischer Unsinn. Erst von der Ewigkeit erwarten zu sollen, was schon hier und jetzt zu entdecken und zu realisieren möglich ist, das gehört zu jenen pfäffischen Vertröstungen, die das Christentum in Misskredit gebracht haben. Davor bewahre uns, lieber Herre Gott!

Von einer schon ergangenen Antwort her das Fragen zu lernen - das war es, was ich dann bei Karl Barth, aber auch beim späten Martin Heidegger beobachten konnte und selber einzuüben nicht müde wurde. Und wie schon bei Fuchs lernte ich nun noch einmal, wenn auch mit anderen Konnotationen, dass es Gottes in der Person Jesu Christi zu uns gesprochenes Ja ist, dem die Theologie nachzudenken hat. Ja und nicht etwa Jein. Es ist eine in die Irre gehende Theologie, die zwar Ja, zugleich aber doch auch Nein sagen zu können und sagen zu müssen meint. Und die dann dem klaren Entweder-Oder von Ja und Nein dadurch zu entkommen meint, dass sie zwar für ein Entweder-Oder, zugleich aber ebenfalls für ein Sowohl-Als auch zu plädieren sich gedrängt weiß: non solum aut-aut, sed etiam et-et. Und so redet man dann auch. Und bleibt dem anderen das Wort der Wahrheit schuldig. Da ist es hilfreich, auf die uralte Weisheit Platons zu hören und bei ihm die Unterscheidung der Geister neu zu lernen.

Platon hat unterschieden zwischen so genannten Wortgefechten und echtem dialegesthai. Die so genannten Wortgefechte waren so etwas wie ein intellektuelles Gesellschaftsspiel, in dem es darauf ankommt, wer gewinnt. Wer an diesem Spiel teilnimmt, will gewinnen. Soweit alles Spiel bleibt, geht das in Ordnung. Denn wer spielt, muss gewinnen wollen und verlieren können. Will er nicht gewinnen, ist er ein miserabler Spieler. Und kann er nicht verlieren, ist er ein doppelt miserabler Spieler. Doch wenn aus dem Spiel der Ernstfall gemacht wird, wenn man nicht nur innerhalb des Spieles gewinnen will, sondern mit Hilfe des Spieles außerhalb des Spiels an Ansehen und an Macht gewinnen will, dann sind die Wortgefechte der Wahrheitsfindung Feind.

Im echten dialegesthai geht es hingegen um ein gemeinsames Suchen nach dem, was wahr ist. syzetein nennt Platon das. Und bei diesem gemeinsamen nach der Wahrheit fragenden Suchen "gewinnt" man nur gemeinsam. Wer eine falsche Antwort in Vorschlag bringt, freut sich an der richtigen, die ein anderer gefunden hat. Und der wiederum weiß, dass die wahre Erkenntnis nicht sein Fündlein ist, sondern allen am dialegesthai Beteiligten zugute kommt. In diesem Wortwechsel ist kritisiert zu werden keine Schande. Es gehört vielmehr sozusagen zum Geschäft und ist ein zu begrüßendes Mittel, der Wahrheit näher zu kommen.

Evangelische Theologie gedeiht nur dann, wenn sie dem auf Gewinn bedachten Missbrauch des logos mit dem notwendigen sittlichen Ernst - wie das im Marburg Wilhelm Herrmanns und Rudolf Bultmanns hieß - entgegentritt und den vom Willen zum Machtgewinn besessenen sogenannten Wissenschaftler einfach der Lächerlichkeit preisgibt. Pfui Dein mal an!- pflegte Luther in solchen Fällen zu sagen. Die Erbärmlichsten unter denen, die den logos missbrauchen, sind aber diejenigen, die sich dem non solum aut-aut, sed etiam et-et verpflichtet wissen.

Der Apostel Paulus hat die theologische Unmöglichkeit solcher non solum aut-aut, sed etiam et-et Existenz dargetan, als er den Korinthern schrieb: Verhalte ich mich etwa so, dass "bei mir das Ja und das Nein anzutreffen ist?" Antwort: "Gott ist getreu, so dass unsere Rede an Euch nicht Ja und Nein" sein kann. "Denn Gottes Sohn Christus Jesus, der bei Euch durch uns verkündigt worden ist, war nicht Ja und Nein, sondern Ja ist in ihm Ereignis geworden" (2Kor 1,17c-19).

Von diesem christologischen Ja her wird dann auch eine Gott entsprechende Rede von Gott möglich. Da uns dafür freilich nur unsere ganz und gar weltliche Sprache und ihre die Welt beredenden Wörter zur Verfügung stehen, kann sich unser Reden von Gott nur als metaphorisches Reden vollziehen. Doch was heißt hier nur? Unsere ganze Sprache ist, wie Jean Paul bemerkt hat, "ein Wörterbuch verblasseter Metaphern".14 Wir reden also schon dann, wenn wir uns im Blick auf die Welt verständigen, metaphorisch. Aber die Anstrengung des Begriffs kann im Blick auf das Sein der Welt den Schein des Metaphorischen tilgen. Nicht so im Blick auf das Sein Gottes. Ihm wird das sprachlogische Genus der analogen Rede und nur dieses gerecht, und zwar nicht eine inmitten noch so großer Ähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf immer noch größere Unähnlichkeit geltend machende Analogie,15 sondern eine dem zur Welt gekommenen Gott entsprechende Analogie des Advents, in der die noch so große Ferne zwischen Schöpfer und Geschöpf durch eine noch größere Nähe überboten wird. So wird Gott als Liebe aussagbar. Und gerade so ist unsere menschliche Rede wahre Rede von Gott. Deshalb mein den Gleichnissen Jesu geltendes hermeneutisches Interesse, deshalb mein Plädoyer für metaphorische Wahrheit. Die Besinnung auf diese Wahrheit bewahrt davor, Gott als Teil der Welt zu denken und damit zu vergötzen. Und sie leitet doch zugleich und vor allem dazu an, Gott nicht als einen weltlosen Gott, sondern Gott als Geheimnis der Welt zu denken. Das habe ich versucht. Jüngere Theologen wie Wolf Krötke, Richard Schröder, Hans Weder, Johannes Fischer und Ingolf Ulrich Dalferth haben mit diesem Versuch etwas anfangen können, etwas Eigenes anfangen können. Das freut den Älteren.

III. Freude am Leben

Ich komme nun noch einmal auf den äußeren Verlauf meines theologischen Daseins zurück, der in seiner Äußerlichkeit ja immer auch Ausdruck dessen ist, was uns innerlich bewegt. Die Unterscheidung von Innen und Außen ist in der Theologie ohnehin eine problematische Unterscheidung. Ich halte es in dieser Hinsicht mit Augustinus, für den der deus superior summo meo zugleich der deus interior intimo meo ist,16 also der Gott, der mir näher kommt, als ich mir selber nahe zu sein vermag. Goethe hat im Blick auf das, was Natur zu heißen verdient, Ähnliches behauptet:

Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:

Denn was innen das ist außen.

So ergreifet ohne Säumniß

Heilig öffentlich Geheimniß.17

Außen oder äußerlich lief es mit mir so ab: Das Studium an der Berliner Kirchlichen Hochschule wurde für ein Semester durch ein nach DDR-Gesetzen illegales Studium in Zürich, Basel und Freiburg unterbrochen. In Zürich hörte ich u. a. eine Vorlesung Paul Hindemiths über Schönbergs Streichquartette, an der mich besonders beeindruckte, dass Hindemith neben Schönberg schlechterdings keine Rolle spielen wollte: ein Genie der Bescheidenheit. In Freiburg erlebte ich Heidegger "unterwegs zur Sprache" - ein Genie der Konzentration und irgendwie befremdend humorlos. In Basel hingegen konnte man lachen: ich lernte Karl Barth kennen, der mir am Ende des Semesters seine ganze Kirchliche Dogmatik schenkte und in deren ersten Band folgende Widmung schrieb: "Eberhard Jüngel auf dem Weg in Gottes geliebte Ostzone". Als er mir etwa ein Jahrzehnt später nahe legte, einen Ruf an die Universität Zürich anzunehmen, und ich ihn an diese von mir auch als gewisse Verpflichtung ernst genommene Widmung erinnerte, erwiderte er: "Wissen Sie was, nehmen Sie die Seite und reißen Sie sie raus!" Das habe ich natürlich nicht getan. Aber nach Zürich bin ich gegangen. Zuvor war ich in Berlin trotz der eingangs erwähnten Bibelkundeprüfung im Ersten Theologischen Examen Vikar und dann sogar Repetent geworden. Da mein Doktorvater nach Marburg wechselte, musste ich innerhalb kürzester Zeit meine Dissertation vorlegen. Wenige Wochen nach meiner Promotion- ich hatte mich bereits auf ein vierjähriges Habilitationsstipendium der DFG eingestellt - ließ Walter Ulbricht durch Erich Honecker die Berliner Mauer bauen. Und das änderte alles.

Hinter dieser Mauer kam man sich zwar nicht von Gott, aber doch von der Welt einigermaßen verlassen vor. Doch der Schein trog. Schon drei Tage nach dem Mauerbau erschien ein jüdischer Mitmensch, zu dem in einem von Wilhelm Weischedel geleiteten Seminar über Hegels Phänomenologie des Geistes ein engeres menschliches Verhältnis entstanden war. Er erklärte, nachdem er sich versichert hatte, dass niemand mithören konnte: "Jüngel, ich hole Sie hier raus." Ich, einigermaßen überrascht und auch etwas ironisch: "Und wie, bitte? Wie wollen Sie den DDR-Schutzwall überwinden?" Er: "Sie kennen offensichtlich den israelischen Geheimdienst nicht." Den kannte ich wirklich nicht. Und ich wollte ihn auch nicht kennen lernen. Ich bedankte mich und machte dem mir teuren Menschen in aller Freundschaft klar, dass mein Ort jetzt hier, in Ostberlin, sei. Er blickte mich traurig an und ging kopfschüttelnd davon.

Nach zwei oder drei weiteren Wochen wurde ich zu Präses Kurt Scharf, dem späteren Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, bestellt. Er: "Jüngel, Sie haben doch gerade Ihren Doktor gemacht." Ich: "In der Tat, Herr Präses." Er: "Wie war das Thema der Doktorarbeit?" Ich: "Das Verhältnis der Verkündigung Jesu zur paulinischen Rechtfertigungslehre." Er: "Na bitte! Sie werden im kommenden Semester eine Vorlesung über die Verkündigung Jesu und ein Seminar über die paulinische Rechtfertigungslehre halten. Sie wissen ja, dass fast alle Professoren der Kirchlichen Hochschule in Westberlin wohnen und von der DDR-Regierung nicht nach Ostberlin hereingelassen werden. Von heute an sind Sie Dozent des Kirchlichen Lehramts mit den Aufgaben eines Theologieprofessors." Ich war noch nicht einmal 27 Jahre alt. Doch die Studierenden ließen mich meine Unerfahrenheit nicht büßen. Ganz im Gegenteil: Sie waren bereit, mit dem Anfänger und so auch mit dem uns vorgegebenen Anfang immer wieder anzufangen. Das fügt zusammen zu gemeinsamer theologischer Existenz.

So wurde ich, weil Walter Ulbricht die Mauer hatte bauen lassen, also sozusagen von Ulbrichts Gnaden (wenn auch gewiss nicht aufgrund seiner Providenz), in den akademischen Himmel aufgenommen, aus dem ich nun wieder in Gnaden entlassen werde. Damals erschrak ich. Denn so unvorbereitet ist wohl noch selten jemand in das Amt eines theologischen Lehrers eingerückt. Ich musste nun ganz anders zu arbeiten lernen, als ich es bisher gewohnt war. Doch akademische Nächte sind lang. Und wenn ich morgens am Schreibtisch die Sonne aufgehen sah und sich die für die Vorlesung notwendigen Blätter doch noch gefüllt hatten, dann freute ich mich meines Lebens.

Trotz langer Arbeitsnächte stellte sich immer wieder eine seltsame Wachheit ein, die mich auch heute noch nicht selten im Augenblick des Denkens umfängt. Der Vorgang des Denkens verlangt offensichtlicht nicht nur Wachheit, sondern er fördert, er intensiviert die Wachheit, auf die die Vernunft genauso angewiesen ist wie der Glaube. Goya hat einem seiner "schwarzen Bilder" den Titel gegeben: "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Im Schlaf der Vernunft wird zweifellos das den Menschen mit dem Menschen Verbindende sistiert. Und dann haben die Ungeheuer ihre Chance. Im Schlaf hat jeder immer nur seine eigene Welt - im Guten wie im Bösen. Die Wachenden hingegen - so kann man es schon bei Heraklit lesen - haben eine gemeinsame Welt.18 - Ich entdeckte sie, nachdem ich den Züricher Lehrstuhl übernommen hatte, in der Schweiz, die sich mir durch die Vermittlung des sich unentwegt als Pontifex betätigenden Robert Leuenberger - nicht zuletzt bei unvergessenen Wanderungen auf Oberengadiner Höhenwegen - als ein aller Gleichschaltung abholdes, die Differenz innerhalb des Gemeinsamen pflegendes und so die eigene Identitätsbildung förderndes Land erschloss: "... sah'n beglückt in die beglückte Schweiz". Ich wäre nur zu gern dort geblieben.

Doch dann kam Ernst Käsemanns Postkarte: "In Zürich sitzen Sie auf hohem Balkone. Aber in Tübingen sind Sie mitten in der Arena. Und da gehören Sie hin. Also kommen Sie!" Ich ging. Und ich fand mich tatsächlich in - sagen wir einmal - reichlich turbulenten Verhältnissen wieder. Die sogenannte Studenten-Revolution hatte auch die Tübinger Theologische Fakultät erreicht und war im Begriff, das Studium genuin theologischer Bücher und das Erlernen der biblischen Sprachen obsolet erscheinen zu lassen. Gemeinsame Welt? Um sie zurückzugewinnen, bedurfte es einer gesteigerten Wachheit. Theologie musste nun zeigen, dass sie eine auf eigenem Boden heimische und auf eigenem Grund bauende Wissenschaft ist. Es begann die Zeit der Streitgespräche - nicht nur mit den Studierenden, sondern auch mit Kollegen, die die Theologische Fakultät gerne quam celerrime in einen religionswissenschaftlichen Arbeitsbereich verwandelt hätten. Zentrum der Auseinandersetzungen war das Tübinger Stift, hinter dessen Mauern es nicht selten hoch her ging. Mich reizte der Streit für eine gemeinsame Welt. Das mag wohl auch der Grund dafür sein, dass ich Tübingen allen lockenden Versuchungen zum Trotz die Treue gehalten habe und schließlich sogar Ephorus des Tübinger Stifts geworden bin. Ja, in Tübingen haben die Wachenden eine gemeinsame Welt.

Zur theologischen Wachheit gehörte bereits in meiner Ostberliner Zeit allerdings auch die - angesichts der atheistischen Herausforderung durch den real existierenden Sozialismus besonders nahe liegende - Erfahrung, dass die Glaubenden nicht nur eine gemeinsame Welt, sondern auch eine gemeinsame Kirche haben: die una sancta catholica et apostolica ecclesia. Und so habe ich schon in meinen DDR-Zeiten zusammen mit einigen Kollegen den ersten ökumenischen Arbeitskreis katholischer und evangelischer Theologen in Ostdeutschland begründet. Dieser ökumenische Grundimpuls hat mich nicht mehr verlassen. In Zürich unterstützte mich Robert Leuenberger bei dem Versuch, den sogenannten Jesuitenparagraphen aus den Angeln zu heben. In Karl Rahner fand ich einen inmitten aller konfessioneller Grunddifferenzen auf größeres ökumenisches Einverständnis bedachten väterlichen Freund, mit dem man sich über das, was Sakrament genannt zu werden verdient, verständigen konnte und der mit mir die dem Theologen unerlässliche Geduld nicht als Ohnmacht auf Zeit, sondern als den langen Atem der Leidenschaft verstand. Davon waren auch die Begegnungen mit Rahners Schüler Karl Lehmann gekennzeichnet. In meinem Buch über das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen habe ich daran erinnert: "Die Begegnung mit Karl Rahner und seinen Schülern hat ... viel dazu beigetragen, daß ich genuin Evangelisches in der katholischen Theologie zu entdecken lernte. Diese Erfahrung wurde intensiviert durch die in Tübingen entstandene freundschaftliche Nachbarschaft zu Walter Kasper einerseits und durch die ganz besondere nachbarliche Freundschaft zu Hans Küng andererseits."19 Und von Zeit zu Zeit wechseln sogar der Präfekt der römischen Glaubenskongregation Joseph Kardinal Ratzinger und der Ephorus des Tübinger Evangelischen Stifts auf Verständigung bedachte Briefe. Allerdings: ökumenische Verständigung - unbedingt; ökumenische Schummelei - auf keinen Fall! Gerhard Ebelings Insistieren auf eine Verständigung über die konfessionelle Grunddifferenz teile ich. Aber das Herausstellen der Grunddifferenz kann nicht Selbstzweck sein. Die Zukunft der Christenheit, davon bin ich überzeugt, wird eine ökumenische Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins sein, die der trinitarischen Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins, wenn auch nur aus weiter Ferne, entspricht. Die von der theologia crucis geleitete immer intensivere Erforschung des mysterium trinitatis hat mir die genuin biblische Bejahung des Andersseins immer mehr erschlossen und so auch die Entstehung des - die Einheit der Kirche nicht sprengenden, sondern vertiefenden - Konzeptes einer ökumenischen Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins begünstigt. Für dessen Realisierung haben wir mit Gottes Hilfe das uns Mögliche zu tun. Und das nicht zähneknirschend, sondern mit Freude.

Solche Freude gehört zum geistlichen Leben, das die Tiefendimension jeder theologischen Existenz ausmacht. Es gibt aber kein authentisches geistliches Leben, das sich vor der Welt verschließt. Im Gegenteil: je geistlicher, desto weltlicher! Und umgekehrt: je weltlicher, um so geistlicher! Man kann sich über die aufgehende Sonne und den mit ihr frisch und neu beginnenden Tag noch ganz anders freuen, wenn man mit dieser weltlichen Erfahrung noch einmal eine Erfahrung, nämlich die geistliche Erfahrung macht: "all Morgen ist ganz frisch und neu / des Herren Gnad und große Treu ...".

Und insofern galt die meine theologische Existenz begleitende Freude immer auch dem ganz und gar irdischen, dem ganz und gar weltlichen Leben. Das aber ist nur dann wahres Leben, wenn es sich als Zusammenleben vollzieht. Ich meine nicht das wüste Zusammenleben der Rotte Korah. Ich denke vielmehr an das gelingende Zusammenleben, wie es sich von Ewigkeit zu Ewigkeit als das trinitarische Leben Gottes - Urbild und Ursprung allen Lebens! - und wie es sich dank seiner Menschwerdung zwischen ihm und uns vollzieht, wie es sich nun aber Gott sei Dank auch zwischen uns irdischen Menschen ereignet und zum Beispiel in der Freundschaft gedeiht. Und Freundschaften- kaum zu glauben - können auch an einer Universität entstehen und gedeihen. Dass ich Hans-Jürgen Hermisson und Otfried Hofius hier in Tübingen zu meinen Freunden zählen darf, das freut mich einfach.

Mit Freude denke ich auch an die Assistentinnen und Assistenten, die mich gnädig ertragen haben und die den nicht genug zu preisenden Vorzug hatten, mich nicht erziehen zu wollen. Es wäre auch ein Versuch am untauglichen Objekt. Sie sind- Gott sei Dank! - alle ihren eigenen Weg gegangen. Going my way - das war nicht nur meine Maxime, sondern auch die Maxime derjenigen, die mir in meiner akademischen Existenz hilfreich zur Seite standen. Sie gingen und gehen ihren eigenen Weg - sei es in der akademischen Forschung und Lehre in Berlin, Zürich, Bern, Göttingen, Elstal und sonstwo; sei es in einem kirchenleitenden Amt; sei es in dem genauso wichtigen Amt des Pfarrers und Lehrers. Wenn sie dabei die schon von Melanchthon20 und dann wieder von Immanuel Kant21 ausgegebene Parole sapere aude befolgen, wenn sie also den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen - dann sind sie auf dem richtigen Weg. Ich wünsche ihnen allen, dass sie dabei möglichst selten auf Irrwege und in Sackgassen geraten - das bleibt bei einem kreativen Kopf nie ganz aus. Ich wünsche ihnen vor allem, dass sie auf ihrem eigenen Weg - gut aristotelisch - bei jedem Schritt bereits etwas vom Ziel erfahren und sich so ihres eigenen Weges zu freuen vermögen: Going your way und Gott befohlen!

Was werde ich vermissen, wenn ich nun aus dem akademischen Himmel wieder entlassen sein werde? Die Antwort ist einfach: Sie, liebe Studierende, Sie werde ich ganz gewiss vermissen. Denn meine Nächsten, die ich - wie in der heiligen Schrift empfohlen - geliebt habe wie mich selbst und manchmal sogar noch etwas mehr als mich selbst (was gar nicht so einfach ist), das waren, das sind Sie, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen. Sie werden mir fehlen: als Hörerinnen und Hörer, als Seminardisputanten und als gelegentliche Gäste an meinem Tisch.

Denn auch das gehört ja zur Freude am Leben, dass Menschen sich an Brot und Wein erfreuen. Deshalb geht es mir wie dem Prinzen Orlotsky in der "Fledermaus": "Ich lade gern mir Gäste ein ...". Man kann dann nämlich beim Genuss zum Beispiel eines getrüffelten Perlhuhnes oder eines Glases Bordeaux gemeinsam erstaunliche Entdeckungen machen.

Und das hat die Freude am irdischen Leben mit der Freude an der Wahrheit und mit der Freude an Gott ganz gewiss gemeinsam: Sie ist allemal Entdeckerfreude - Entdeckerfreude, die uns zu staunenden Menschen macht. "Das Höchste", hat Goethe einmal bemerkt, "wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen"22. Auf dem Weg theologischer Existenz kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus, da wird man von einem Staunen zum anderen geführt. Und das ist nun wahrhaftig ein Grund zur Freude.

Also habe ich Anlass, so zu schließen, wie ich begonnen habe. Und abermals sage ich: Freuet Euch!

Summary

Eberhard Juengel reflects on the origins of his theology within what was called real existing Socialism, and what has issued from it as liberating truth (John 8:32). His theological biography and his leading theological insights are recapitulated. Jüngel names the basic motive for his theology as a joy in God and joy in truth and in life.

Fussnoten:

*) Vorlesung anläßlich der Emeritierung, gehalten am 12. Februar 2003 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Tübingen.

1) M. Luther, Wie das Gesetz und Euangelion recht grundlich zu unterscheiden sind. Predigt vom 1. Januar 1532 über Galater 3,23-29, WA 36, 9,28 f.

2) F.-W. Marquardt, Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths, 1972, 358.

3) F. Overbeck, Art. Theologie (Wissenschaft) Exegese. Allgemeines, in: ders., Werke und Nachlaß, Bd. 5: Kirchenlexicon Texte. Ausgewählte Artikel J-Z , hg. von B. von Reibnitz, 1995, 593-597, 596.

4) Th. Storm, Für meine Söhne, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, hg. von D. Lohmeier, 1987, 66.

5) F. D. E. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (21830), 1, KGA I/6, 1998, 325. Martin Heidegger hat die Positivität der Theologie aus philosophischer Perspektive eindringlich zur Geltung gebracht: M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: ders., GA I/9: Wegmarken, 1976, 45-78, 51-55.

6) F. D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/ 22), KGA I/7.1, 1980, 1. In Anselms Epistola de incarnatione verbi (= De fide trinitatis) ist übrigens nach der kritischen Ausgabe F. S. Schmitts OSB (S. Anselmi Opera Omnia, Bd. 2, 1984, 9) statt "intelliget" richtig "cognoscet" zu lesen.

7) E. Fuchs, Die der Theologie durch die historisch-kritische Methode auferlegte Besinnung, in: ders., Zur Frage nach dem historischen Jesus (GA II), 1960, 219-237, 226.

8) Vgl. E. Fuchs, Marburger Hermeneutik, 1968, 93.

9) K. Barth, Theologische Existenz heute! (1933), neu hg. von H. Stoevesandt, 1984, 29.

10) A. a. O., 42.

11) M. Luther, Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind, 1521, WA 7, 317,6 f.

12) Vgl. W. Heisenberg, Die Entwicklung der philosophischen Ideen seit Descartes im Vergleich zu der neuen Lage in der Quantentheorie, in: ders., Physik und Philosophie, 51990, 61-79.

13) F. Hölderlin, Mnemosyne (2. Fassung), in: ders., Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. 2,1, 1951, 195-196, 195.

14) J. Paul, Vorschule der Ästhetik, 50, Werke, hg. von N. Miller, Bd. 5, 31973, 184. Vgl. G. Vico, Principi di scienza nuova II, 2,2 u. II, 2,4.

15) Vgl. die Entscheidung des Vierten Laterankonzils, der gemäß inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda (DH 806).

16) Vgl. A. Augustinus, Confessiones, l. III, cap. 6, 11, CSEL 33, 53.

17) J. W. von Goethe, Epirrhema, Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 1. Abt. 3. Bd., 1890, 88.

18) Vgl. Heraklit, Frgm. 89, in: H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von W. Kranz, Bd. 1, 121966, 22 B, 171: tois egregorosin ena kai koinon kosmon einai.

19) E. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, 31999, XIII.

20) Ph. Melanchthon, De corrigendis adolescentiae studiis, 1518, in: Melanchthons Werke in Auswahl, hg. von R. Stupperich, Bd. 3, 1961, 29-42, 42.

21) I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. von W. Weischedel, Bd. 6, 1966, 53-61, 53.

22) J. W. Goethe, Gespräch mit Eckermann am 18. Februar 1829, Anhang an Goethes Werke: Abteilung für Gespräche, hg. von W. Freiherr von Biedermann, Bd. 7: 1829 und 1830, 1890, 21.