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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

456–458

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Wesche, Steffen

Titel/Untertitel:

Gegenseitigkeit und Recht. Eine Studie zur Entstehung von Normen.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2001. 429 S. gr.8 = Studien zur Rechtstheorie, 206. Kart. ¬ 84,00. ISBN 3-428-10536-2.

Rezensent:

Stefan Grotefeld

"Warum gibt es Normen, ein doch eigentlich recht unwahrscheinliches Phänomen, mit dem sich Menschen zu etwas verbinden (wie Kant formulierte), das ihnen gelegentlich gar nicht recht ist?" (7).

Diese Frage bildet den Ausgangspunkt und das Thema der juristischen, von Fritjof Haft und Otfried Höffe betreuten Dissertation von Stefan Wesche (W.). Bei ihrer Beantwortung darf man sich nach Auffassung W.s weder mit einer philosophischen oder theologischen Rechtfertigung von Normen noch mit einer historischen Untersuchung der Entstehungsgeschichte positivierter Normen begnügen. Beides greift seines Erachtens zu kurz. Um den Ursprung von Normen zu erhellen, müsse statt dessen auf die evolutionäre Verhaltenstheorie zurückgegriffen werden, denn nur eine Untersuchung der Gattungsgeschichte und ihrer Auswirkungen auf das menschliche (Norm-) Verhalten könne Aufschluss darüber geben, warum so grundlegende und "die Menschheit seit Urzeiten" begleitende Normen wie "Tötungs-, Lüge-, Diebstahls-, Inzestverbote, Achtungs- und Rücksichtnahmegebote, Goldene Regel und einige mehr" (7 f.) existieren.

Normen, so die von W. in Anlehnung an A. Gibbard formulierte These, gibt es, weil sie "dem genetisch fundierten, unbewussten Interesse an vorteilhaften Bedingungen für genetische Reproduktion" (302) dienen. Dass die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nur so und nicht anders lauten kann, liegt angesichts des (ko-)evolutionsbiologischen Theorierahmens auf der Hand. Aufschlussreich ist jedoch, wie W. die Entstehung von Normen näherhin erklärt - und interessant wäre auch, inwiefern sich hieraus Konsequenzen im Hinblick auf die Gestaltung des Rechts ergeben. W. verzichtet allerdings weitgehend darauf, Folgerungen dieser Art zu ziehen. Um dem Vorwurf des Biologismus bzw. des Sein-Sollens-Fehlschlusses zu entgehen, beschränkt er sich weitgehend auf eine deskriptive Analyse der Normentstehung.

Die Studie ist in fünf Teile gegliedert. Den Auftakt bildet eine ausführliche Einleitung, in der sich W. zunächst aus rechtstheoretischer und rechtssoziologischer Perspektive mit dem Phänomen der Norm und seiner Funktion befasst, um anschließend die Relevanz evolutionstheoretischer Überlegungen für die Entstehung von Normen plausibel zu machen und schließlich sein methodisches und inhaltliches Vorgehen zu erläutern. Das Bedürfnis nach Normen, so W., ergebe sich aus dem Sozialverhalten des Menschen, das einerseits von Geselligkeit, andererseits aber auch von Erwartungsunsicherheit und Konfliktneigung geprägt sei. Konflikte entstünden durch kollidierende Interessen, vor allem durch den Wettbewerb um knappe Güter. Sie "zu entschärfen und den Boden für gedeihliches Sozialleben zu erhalten" sei die "Hauptfunktion von Normen" (32). Normen sind demnach für W. in der Hauptsache Konfliktnormen, die er vorläufig als "hinreichend anerkannte sowie sanktionierte Bewertungen ggf. typisierter Sachverhalte zum Zwecke des Abgleichs konfligierender normativer Erwartungen" (43) definiert. Er geht davon aus, dass solche Normen nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt - sei es in Babylon, sei es am Sinai - erfunden worden sind, sondern sich allmählich entwickelt haben und dass ihre Ursprünge zumindest bis zu den hominiden Vorgängern des Menschen zurückreichen. Von der Evolutionstheorie verspricht er sich Aufschluss darüber, warum Normen entstanden sind, da diese nicht nur die Weiterentwicklung organischer Merkmale, sondern auch die von Verhaltensmerkmalen zu erklären vermöge. Es sei anzunehmen, dass das Normverhalten (und damit auch die Normbildung) wie andere Verhaltensweisen auch der genetischen Fortpflanzung dient, da es sonst im Zuge der natürlichen Auslese verschwunden wäre. Das bedeutet nicht, dass W. der Auffassung ist, Normen seien genetisch determiniert. An die Stelle der Alternative Natur oder Kultur soll vielmehr die Theorie der Koevolution treten, wonach "sich Natur und Kultur ineinander verschränkt entwickeln und wechselseitigen Einflüssen ausgesetzt sind." (54)

In den beiden folgenden Kapiteln wird dieser theoretische Rahmen näher entfaltet. Teil II befasst sich mit der von Darwin entwickelten Evolutionstheorie, Teil III erläutert die Theorie der Koevolution. Aufgabe des vierten Teils ist es dann, diese Theorien für die Analyse des menschlichen Sozialverhaltens fruchtbar zu machen, wobei W. versucht, "versteckte Anpassungen aufzudecken, also Verhaltensweisen, die entgegen erstem Anschein fitnessförderlich sind und deshalb Teil unseres Verhaltensrepertoires wurden" (214) und bis in die Gegenwart hinein fortwirken.

"Prosozialität", so seine These, "beseitigt nicht Wettbewerb, sondern ist eine Strategie neben anderen, in ihm zu bestehen." (298) Altruistisches und solidarisches Verhalten finde sich vor allem im verwandtschaftlichen Nahbereich, weil der Mensch dadurch seine genetische Gesamtfitness maximiere. Doch auch in Beziehungen mittlerer Reichweite (Freunde, Geschäftspartner usw.) erweise sich prosoziales Verhalten als Selektionsvorteil, wie W. mit Hilfe spieltheoretischer Analysen nachzuweisen versucht. Aus Kooperationen erwachse allen Beteiligten ein Vorteil, sofern sie dem Muster der Reziprozität folgen. Dies könne gewisse Vorleistungen, gerade im Hinblick auf die Etablierung neuer Kooperationsstrategien, durchaus einschließen. Eine wahrhaft altruistische, sich z. B. am christlichen Gebot der Nächstenliebe orientierende Strategie sei allerdings "zum Untergang verurteilt" (295), da kooperatives Verhalten ohne Sanktionen und Vergeltungen ("Wie du mir, so ich dir") Betrügern und Trittbrettfahrern Tür und Tor öffne. Im Fernbereich schließlich, der das Verhalten zu Mitgliedern konkurrierender Gruppen und Fremden umfasst, bilde Prosozialität die Ausnahme, da hier ein Nutzen für die Gesamtfitness nicht zu erwarten sei. Vielmehr lohne sich Kooperation innerhalb der Familie oder von Gruppen gerade deshalb, weil man sich dadurch von anderen abgrenze. Zusammengefasst heißt dies: Prosozialität ist ein abgestuftes Verhalten gemäß der Regel "je näher desto mehr." (295)

Im fünften und letzten Teil wendet sich W. dem eigentlichen Thema seiner Untersuchung zu, der Frage nämlich, warum Normen im Allgemeinen und juridische Normen im Besonderen entstanden sind und welche Bedingungen dabei erfüllt sein müssen. Normen, so seine These, haben ihren Ursprung in der Universalität und Fragilität kooperativen Verhaltens. Zwar hätten Menschen einerseits ein Interesse an funktionierender Kooperation, weil diese ihre genetische Fitness steigere, andererseits aber seien sie dabei stets in der Versuchung, sich selber durch Betrug einen Vorteil zu verschaffen. Angesichts dieser Situation, die der des "Gefangenen-Dilemmas" entspreche, fungierten Normen als Sicherungen ausgeglichener Gegenseitigkeit. Denn diese müsse "wenigstens einigermaßen gewahrt" werden, damit es "lebenserhaltende und fitnesssteigernde Kooperation" geben könne, wobei sowohl die Norm selber als auch das Eintreten für sie "im überwiegenden Interesse der Beteiligten" liegen müsse (378). Was juridische Normen im Besonderen betrifft, so seien diese als "Reaktion auf erschwerte Durchsetzungsbedingungen in zunehmend heterogen-anonymen Großgesellschaften zu verstehen." (362) Denn im Unterschied zu andersgearteten Normen zeichne sich das Recht durch komplexe Regelungs- und besondere Durchsetzungsmechanismen aus.

W. legt, für mein Verständnis, überzeugend dar, dass auch Rechtsnormen in koevolutionär entwickelten Verhaltensweisen wurzeln, ohne deswegen von ihnen determiniert zu sein. Dem Rechnung zu tragen, kommt seines Erachtens auch die heutige Rechtssetzung um ihrer eigenen Effektivität willen nicht umhin. Dass er sich vor weiterreichenden Folgerungen hütet, werden Rechtswissenschaftler und Ethiker, die vor allem an normativen Fragen interessiert sind, mit Bedauern zur Kenntnis nehmen. Dies gilt auch für den Umstand, dass W. der expliziten Auseinandersetzung mit juridischen Normen nur einen geringen Teil seiner Untersuchung gewidmet hat. Wer sich dagegen mit den evolutionären und soziobiologischen Wurzeln normativen Verhaltens befassen will, dürfte seine Überlegungen mit Gewinn zur Kenntnis nehmen.