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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

452–454

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Erwin, Claudia

Titel/Untertitel:

Verfassungsrechtliche Anforderungen an das Schulfach Ethik/Philosophie.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2001. 290 S. m. 5 Tab. gr.8 = Schriften zum Öffentlichen Recht, 847. Kart. ¬ 64,00. ISBN 3-428-10278-9.

Rezensent:

Alfred Seiferlein

Die religiös-ethische Bildung in den Schulen befindet sich in einer intensiven pädagogischen und politischen Diskussion. Obwohl in einigen Länderverfassungen schon seit über fünfzig Jahren ein Ersatz- bzw. Alternativfach für das "ordentliche Lehrfach" (Grundgesetz Art. 7 Abs. 3) vorgesehen ist, blieben die Bestimmungen zunächst angesichts geringer Abmeldezahlen aus dem Religionsunterricht bedeutungslos. Erst als in zunehmendem Maße sowohl konfessionslose als auch kirchenangehörige Schülerinnen und Schüler nicht mehr am ordentlichen Lehrfach teilnahmen, wurden die Verfassungsregelungen relevant.

Das Entstehen eines neuen Schulfachs seit 1972 in fast allen Bundesländern für beinahe alle Schularten ist schon an sich ein außergewöhnlicher Vorgang. Die Diskussion um die Gestaltung eines integrativen religiös-ethischen Fachs neben bzw. anstelle des Religionsunterrichts im Bundesland Brandenburg ("LER") hat die verfassungsrechtliche Frage in den Blickpunkt einer breiten Öffentlichkeit gestellt. Während aus der pädagogischen Perspektive zahlreiche Publikationen vorliegen und sich die Religionspädagogik zwischenzeitlich ebenfalls des eigenen Verhältnisses zum Partnerfach verstärkt annimmt, muss die juristische Problematik als empfindliches Desiderat bezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund ist die von Claudia Erwin bei Pieroth an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster gearbeitete Dissertation von besonderem Interesse.

Die Arbeit gliedert sich in zwei große Teile. In der ersten Hälfte zeigt die Vfn. die schulrechtliche Ausgestaltung des Ethikunterrichts auf. Zuerst legt sie ausführlich die rechtlichen Regelungen für das Verhältnis des Ersatz- bzw. Alternativfachs zum Religionsunterricht dar, dann klärt sie die Voraussetzungen für die Einrichtung des Fachs und sie zeigt Entwicklungslinien auf; des Weiteren wagt sie einen Blick auf mögliche Zukunftsperspektiven der religiös-ethischen Bildung und schließlich referiert sie noch die grundsätzlichen Überlegungen sowohl in der evangelischen wie der katholischen Kirche zur Konfessionalität des Religionsunterrichts bzw. zu möglichen konfessionell-kooperativen Formen.

Im zweiten Teil der Untersuchung prüft die Vfn. einzelne Regelungen des Ethikunterrichts auf ihre Verfassungsgemäßheit. Staatliche Schulhoheit und das Elternrecht, Glaubens- bzw. Weltanschauungsfreiheit und die Problematik der Vermittlung von Werten in der staatlichen Schule, Fragen der Teilnahmeverpflichtung bzw. der freien Wahlmöglichkeit zwischen Religions- und Ethikunterricht werden dargelegt und juristisch eingeordnet. Besonders interessant sind die länderspezifischen Unterschiede, die in ihrer Differenzierung oft bis in Einzelheiten hinein diskutiert werden. Das Phänomen des Ethikunterrichts in Deutschland wird sowohl in seiner Gesamtheit als auch in einzelnen Elementen wahrgenommen. In diesem Zusammenhang ist auch der Anhang mit einer Auflistung der Regelungen in den einzelnen Bundesländern besonders erwähnenswert, weil hier in übersichtlicher Weise jeweils zuerst die Bestimmungen der entsprechenden Landesverfassung (soweit vorhanden) und der Schulgesetze dargestellt werden, dann die "untergesetzlichen Vorschriften" und schließlich in einem dritten Schritt die gesamten landesrechtlichen Regelungen einer verfassungsrechtlichen Beurteilung unterzogen werden.

So überzeugend die gesamte Arbeit in der Darstellung juristischer Einzelfragen um den Ethikunterricht ist, so unbefriedigend bleibt dennoch die Antwort auf das Grundproblem des Ethikunterrichts. Dieser Kritikpunkt ist nicht vornehmlich der Vfn. anzulasten, sondern er beschreibt das immanente Dilemma des Fachs - allerdings wird die Problematik von der Vfn. auch nicht hinreichend diskutiert: Der Staat, der sich bei weltanschaulichen Setzungen nach dem Grundgesetz selbst Zurückhaltung auferlegt hat, kann nicht selber Inhalte in einem Schulfach verantworten, das der Begegnung mit religiösen Phänomenen, den geistigen Strömungen der Gegenwart und der Vergangenheit sowie der Werteerziehung dienen soll. Es müsste auch aus juristischer Sicht eine zumindest umstrittene erkenntnistheoretische Frage sein, ob die Inhalte des Ethikunterrichts überhaupt weltanschaulich "neutral" sein können. Jedenfalls würde doch wohl eine Neutralität des Staates keine Indifferenz bedeuten, weil der Staat sich nicht indifferent zu der ihn tragenden Kultur verhalten kann.

Während der Staat beim Religionsunterricht durch die inhaltliche Verantwortung der Religionsgemeinschaften entlastet wird, steht er im Ethikunterricht in einer zwiespältigen Rolle. Die Vfn. übernimmt die Begriffe "Neutralität", "Nichtidentifikation" und "Toleranz", die sich in der juristischen Diskussion einbürgerten, ohne dass sie im Grundgesetz Verwendung finden. Es wäre spannend zu prüfen, ob diese Begriffe den grundgesetzlichen bzw. auch den staatskirchenrechtlichen Zusammenhängen gerecht werden. Die Formulierungen des Grundgesetzes, die Anlass zu den Auslegungen geben, sind selbst weit weniger umfassend gehalten, als es das Verständnis von einem neutralen Staat in Glaubens- und Weltanschauungsfragen nahe legt. Dem Urteil der Vfn., dass dem Staat "letztlich durch die Berücksichtigung der erforderlichen Toleranz ... ein sehr weiter Bereich möglicher Unterrichtsinhalte offen steht" (112), kann vor diesem Hintergrund nicht gefolgt werden. Wie in keinem anderen Schulfach bleibt am Ende die Person der Ethiklehrkraft in der problematischen Rolle, grundlegende Bildungsinhalte vermitteln zu müssen, für die der auftraggebende Staat selbst nur mangelhafte bis ungenügende inhaltliche Vorgaben liefern kann und darf.

Die Vfn. hat zur Debatte um die rechtliche Grundlegung des Ethikunterrichts einen wichtigen und längst überfälligen Beitrag geleistet. Speziell die verschiedenen, gut begründeten Hinweise auf die notwendige Qualität des Ersatz- bzw. Alternativfachs sind von politischer und pädagogischer Relevanz und sie begründen nicht zuletzt die Bedeutung der religiös-ethischen Bildung in unserem Schulsystem.