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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

448–450

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wittrahm, Andreas

Titel/Untertitel:

Seelsorge, Pastoralpsychologie und Postmoderne. Eine pastoralpsychologische Grundlegung lebensfördernder Begegnungen angesichts radikaler postmoderner Pluralität.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. 374 S. gr.8 = Praktische Theologie heute, 53. Kart. ¬ 35,30. ISBN 3-17-016881-9.

Rezensent:

Jürgen Ziemer

Es mehren sich die Arbeiten zu Grundsatzfragen der Seelsorgelehre. Vor allem das pastoralpsychologische Paradigma, vor ca. 35 Jahren - im Zuge der Seelsorgebewegung - als befreiender Impuls in die Praxis und Didaktik pastoralen Handelns eingeführt, bedarf offensichtlich der Überprüfung seiner Validität und seiner Orientierungskraft angesichts der veränderten gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und kirchlichen Verhältnisse. Unter der Titeltrias "Seelsorge, Pastoralpsychologie, Postmoderne" hat der Vf. mit seiner, an der Katholischen Theologischen Fakultät in Bonn eingereichten Dissertation den aktuellen Diskurs aufgenommen und ein wichtiges Stück vorangetrieben. Das Buch zeichnet sich durch scharfe analytische Wahrnehmungen, präzise Fragestellungen und ein sensibles Gespür für die neuralgischen Punkte in der gegenwärtigen Selbstpräsentation pastoralpsychologisch-orientierter Seelsorgelehre aus. Der Versuch seiner Neukonzipierung von Pastoralpsychologie und Seelsorge auf der Basis der dialektisch-kritischen Psychologie Klaus Riegels hat viel Anregendes für sich, auch wenn dessen Überzeugungskraft vom Vf. vermutlich etwas überschätzt wird.

Im Blick auf die aktuelle Auseinandersetzung um die Zukunft der Pastoralpsychologie entfaltet der Vf. zwei wichtige Thesen:

Mit seiner "inhaltlichen" These reagiert er auf die starke "Therapeutisierung" der gegenwärtigen pastoralpsychologisch geprägten Seelsorge, also auf deren, nach seiner Sicht einseitigen Orientierung auf die Defizite, Krisen, Mängel und Konfliktlagen der Individuen. Der Vf. versteht es deutlich zu machen, dass diese Defizitorientierung weder der spezifischen Situation der Individuen in der Moderne noch den Anforderungen einer angemessenen Subjekt-Subjekt-Beziehung in der Seelsorge gerecht wird. Der Vf. lässt hier die neuere Pastoralpsychologie-Kritik Revue passieren (H. Luther, R. Schieder, E. Hauschildt, I. Karle, U. Pohl-Patalong, T. Henke), und er nimmt auch die im Anschluss an Michel Foucault stehenden Fragen an die Pastoralmacht der "Hirten" (H. Steinkamp, M. Weimer) auf. Der Vf. formuliert auf diesem Hintergrund seine These, wonach der "veränderte Lebenskontext" des Einzelnen dazu dränge "neben der dominierend helfend-heilenden bzw. therapeutischen Ausrichtung eine zweite orientierend-herausfordernde, bzw. entwicklungsorientierte Option in der seelsorgerlichen Begegnung wahr(zu)nehmen" (18). Zur damit gestellten Aufgabe sei es auch notwendig, die traditionelle "Individuumszentrierung" (61 ff.) der Seelsorge zu überwinden und nach einer Pastoralpsychologie Ausschau zu halten, "die von der Verknüpfung von Mensch, Geschichte und Gesellschaft ausgeht" (109).

Die zweite - methodologische - These des Vf.s bezieht sich auf das Verhältnis der Pastoralpsychologie zur Seelsorge und Pastoraltheologie, bzw. zur Praktischen Theologie. Der Vf. geht - und darin kann man ihm nur zustimmen - von einem "unbefriedigenden begrifflichen und theoretischen Status der Pastoralpsychologie" (111) aus und kritisiert die wenig präzise wissenschaftstheoretische Verortung der Pastoralpsychologie in der Praktischen Theologie (133 f.). Zur Klärung der anstehenden Fragen stellt der Vf. führende Konzepte der Pastoralpsychologie (J. Scharfenberg, H. Wahl, P. F. Schmid, H. Stenger, E. Baumgartner) dar (136 ff.). Er stellt dabei fest, dass diese Konzepte zwar in ihrem leitenden Interesse an der Verbesserung der didaktischen und mystagogischen Kommunikationsprozesse übereinstimmen, aber dass es doch weder hinsichtlich des Gegenstands und der Aufgaben noch hinsichtlich der Außen- und Innenbeziehungen der Pastoralpsychologie wirklich gemeinsame Vorstellungen zu erkennen gibt (209). Der Vf. möchte die Pastoralpsychologie - und so lautet denn seine These - als eigene "Disziplin innerhalb der Praktischen Theologie verstehen". Er möchte sie als den "Ort des offenen wechselseitig institutionalisierten Dialogs zwischen Psychologie und Theologie im Dienste pastoraler Praxis" (19) etablieren. Es geht dem Vf. also auch darum, das interdisziplinäre Modell einer eigenständigen "Disziplin" im Gegensatz zu einer bloß "dimensionalen" Sichtweise von Pastoralpsychologie, wie sie etwa von H. Wahl deutlich vertreten worden ist, zu stärken und auszubauen.

Sowohl vom Inhaltlichen als auch vom Methodischen her bietet sich dem Vf. für fachliche Grundierung der Pastoralpsychologie dann die dialektische Psychologie des Deutsch-Amerikaners Klaus Riegel an. Hier gehe es um eine "ganzheitliche Entwicklung der Person in Gemeinschaft", also nicht primär um "Therapie", und hier liege ein psychologisches Konzept vor, welches Dissense und Konflikte nicht durch Empathie und Verstehen auflöse, sondern eben im Rahmen der "dialektischen" Methode "zum fruchtbaren Umgang mit entgegengesetzten Positionen" anleite (226.230 ff.). Von da aus optiert der Vf. für eine "dialektische Pastoralpsychologie als Pastoralpsychologie in der Postmoderne" (279). Und von ihr her werden dann Aufgaben und Methoden pastoralen Handelns auf situationsgerechte Weise neu bestimmt. Für die Seelsorge ergibt sich daraus als Zielbestimmung die "Entwicklung" im Sinne "ständiger Synchronisation" (251). Sie hat also dem Individuum zu helfen, die permanenten Herausforderungen zur Veränderung zu bestehen und Souveränität im Umgang mit Widersprüchen und Konflikten zu erlangen.

Der Rez. gesteht, dass er bei der Lektüre des 3. Teils gelegentlich Motivationsprobleme bekam. Das hängt gewiss auch mit der manchmal überbemühten, von Wiederholungen nicht freien Darstellungsweise des Vf.s zusammen. Grundsätzlich ist dem Vf. darin zuzustimmen, dass Seelsorge sich stärker um Lebens-, nicht nur um Leidensprobleme zu kümmern habe und dass es sehr sinnvoll sein kann, dem psychoanalytischen Paradigma, das die Pastoralpsychologie bisher ziemlich stark geprägt hat, alternative psychologische Konzepte an die Seite zu stellen. Dem Vf. ist auch zuzustimmen, dass es immer wieder darauf ankommt, dem dialogischen Prinzip in der Seelsorge größere Beachtung zuzuerkennen. Hier muss stets neu realisiert werden, was wir in der Praktischen Theologie seit Martin Buber, Hans-Georg Gadamer und Karl Rahner, seit dem christlich-jüdischen sowie dem christlich-marxistischen Dialog und in Zusammenhang mit den ökumenischen Dialogprozessen gelernt haben. Mit dem Rückgriff auf Klaus Riegels dialektische Psychologie hat der Vf. in die pastoralpsychologische Diskussion ein psychologisches Konzept eingeführt, das ausdrücklich vom dialektischen Denkmodell und von der dialogischen Methode ausgeht.

Der wichtigste Impuls, der von diesem Buch ausgeht, zielt darauf, sich verstärkt um den Status der Pastoralpsychologie zu bemühen und nach Dialogpartnern auch außerhalb von Psychoanalyse und humanistischer Psychologie zu suchen. Dieser Partner könnte die "dialektische Psychologie" sein, der gewiss manche Leser wie auch der Rez. in diesem Buch das erste Mal begegnen. Aber das könnten doch auch andere Konzepte sein, die der Vf. nicht in den Blick nimmt, die aber durchaus bereits in pastoralpsychologischen Konzepten diskutiert werden (wie z. B. der systemische Ansatz bei Christoph Morgenthaler). Wichtig wäre es, wenn die Überlegungen des Vf.s auch dahin führten, Pastoralpsychologie wieder stärker in den Dialog mit der so genannten "Universitätspsychologie" zu bringen und sie damit im wissenschaftlichen Diskurs stärker als bisher zu verankern.