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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

441–444

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Vögele, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2000. 528 S. gr.8 = Öffentliche Theologie, 14. Kart. ¬ 49,95. ISBN 3-579-02659-3.

Rezensent:

Andreas Großmann

Die protestantische Theologie hat erst sehr spät, nach 1945, zu einem positiven Verhältnis zu den Menschenrechten gefunden. Noch 1938 meinte selbst Karl Barth, den Gedanken der Würde des Menschen als theologisch illegitim brandmarken zu müssen. Angesichts der nicht eben glücklich zu nennenden Geschichte der Beziehung des Protestantismus zu modernem Rechtsstaat und Menschenrechten bleibt die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Recht und Theologie zweifellos eine der bedeutendsten Herausforderungen theologischer Reflexion. Ihr stellt sich die vorliegende Studie Wolfgang Vögeles.

V.s Interesse zielt erklärtermaßen auf die Menschenwürde als jenes Konzept, das Theologie und Rechtswissenschaften verbindet, ein "Zwischen" von Theologie und Recht indiziert, ohne aber einer der beiden Seiten exklusiv zugeschlagen werden zu können. So soll einerseits dem Sachverhalt Rechnung getragen werden, dass theologisches Gedankengut bei der Entstehung und Formulierung von Menschenrechten eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat. Andererseits geht es darum, theologische Engführungen aufzubrechen, wie sie sich, bei W. Pannenberg etwa, in einem exklusiven Begründungsanspruch bekunden. Auch V. will keineswegs auf eine Begründung (oder sogar "Letzt"begründung) verzichten. Doch könne eine theologische Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten nurmehr eine Begründung unter anderen sein: Von Begründungen (im Plural) und nicht mehr von der einen Begründung (im Singular) ist deshalb dezidiert im Untertitel der Untersuchung die Rede. "Begründungsoffenheit" lautet das entscheidende Stichwort, das für den Plural möglicher Begründungen, "das Nebeneinander verschiedener Letztbegründungen" (48) einstehen soll, "öffentliche Theologie" das Markenzeichen des gesamten Unternehmens.

Den Einfluss (auch) theologischer Argumente auf Genese und Interpretation der Menschenrechte sucht V. anhand dreier Fallstudien zu belegen, die zugleich den Hauptteil des Buches ausmachen. Im Blick des Vf. sind drei zentrale Dokumente: die Verfassung der USA, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (60-412). Der Leser sieht sich in V.s Darlegungen mit einer Überfülle von Informationen und Konzeptionen konfrontiert, die an dieser Stelle auch nicht annähernd zu referieren sind. Man erfährt zunächst Grundlegendes zur amerikanischen Verfassungsgeschichte und -diskussion, findet gelegentlich freilich auch kurios anmutende Details vermerkt - wie die Auskunft, dass die Bundesverfassung von Montana in ihrer Präambel dem Schöpfer u. a. für "the grandeur of our mountains" Dank sagt, die Verfassungen von Kentucky und Utah das Recht, Waffen zu tragen, als angeborenes und unveräußerliches Recht kennen (114.116). Nicht minder informativ gestalten sich die vom Verfasser so genannten "Durchgänge" durch Entstehungsgeschichte sowie juristische, philosophische und theologische Interpretationen der Allgemeinen Menschenrechtserklärung und des Grundgesetzes. Man erfährt erneut manch Lehrreiches aus der Feder eines Autors, der sein Material fleißig und kenntnisreich gesammelt hat. Man fragt sich indessen auch, ob die Fülle des ausgebreiteten Materials der Kohärenz des Gedankens unbedingt zustatten kommt. Was Niklas Luhmann als Kennzeichen der Religion in der Moderne nicht ohne ironischen Unterton ausgemacht hat, demonstriert dieses Buch in geradezu vorbildlicher Manier: "Man streitet nicht, man vergleicht." Gemessen an dem Aufwand der vorgelegten Fallstudien erscheint der systematische Ertrag der Arbeit jedoch bescheiden. Dieser erschließt sich nach einem dem "Vergleich der Fallstudien" gewidmeten Abschnitt (413-442) im letzten, "Probleme einer öffentlichen Theologie der Menschenrechte" betitelten Kapitel (445-491).

V. teilt mit Verfassungsjuristen wie Peter Häberle und Ernst-Wolfgang Böckenförde die Überzeugung, dass der moderne Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann (wie Böckenförde dies in seinem viel zitierten Diktum ausgedrückt hat). Für V. heißt dies, dass das Recht von kulturellen Voraussetzungen abhängig, auf solche, auch religiöse Voraussetzungen angewiesen sei (vgl. 18.35.39.447.449.492). Im Besonderen zeigt ihm der Durchgang durch die in den Fallstudien diskutierten Dokumente, dass die Statuierung von Menschenrechten "eine bestimmte Anthropologie voraussetzt" (465). Eine theologische, im Lichte des Topos der Gottebenbildlichkeit konzipierte Anthropologie als "Voraussetzung" könne indes, wie der Vf. sogleich hinzusetzt, selbst wieder nur eine bestimmte unter "mehreren möglichen anthropologischen Entwürfen" (467) sein. Hinter den Menschenrechten komme "eine Vielzahl kulturell präformierter Menschenbilder zum Vorschein" (471). Eben für diese Situiertheit der (oder sollte man eher sagen: einer?) Theologie in einem vom Pluralismus verschiedener Konzeptionen bestimmten Kontext soll die Vokabel "Begründungsoffenheit" aufkommen. Sofern mit V. unter Begründung freilich immer auch schon Letztbegründung zu verstehen ist (vgl. 48.490), macht der als Signum einer "öffentlichen Theologie" eingeführte Begriff einige Schwierigkeiten. Ist doch Letztbegründung per definitionem eine alternativenlose Abschlussfigur. Die so genannte "Begründungsoffenheit" erscheint denn auch als ein hölzernes Eisen: Ein letzter Grund ist im Visier, von dem um des "Dialogs" willen mit anderen Diskursen und Religionen im selben Atemzug behauptet wird, dass er dies nicht ist. Streitet man ums Letzte, um es als Letztes letztlich zu bestreiten? Vielleicht geht es ja aber gar nicht so sehr um Streit, sondern - um Vergleich und Dialog- bzw., wie es auch gerne heißt, "Anschluß"fähigkeit. Luhmann hat doch Recht: "Moderne Theologen lieben Gespräche" ...

Der derart geführte Diskurs mag uns seiner Liberalität (oder "Offenheit") versichern. Vermag er aber auch zu überzeugen? Wen will er überhaupt überzeugen, wem will er seine Argumente als "plausibel" ansinnen? "Begründungsoffenheit" steht nach V. für einen "Mittelweg, der die Extreme von radikalem Universalismus und radikalem Relativismus zu vermeiden sucht" (490). Andernorts lesen wir im selben Zusammenhang, Begründungsoffenheit stehe "genau zwischen Beliebigkeit der Begründungen und der Option für eine bestimmte Begründung mit universalem Anspruch" (488). Wo läge denn konkret das Zwischen, sagen wir, zwischen Rorty und Pannenberg? Und wie wäre dieses Zwischen auf das im Titel des Buches angezeigte Zwischen von Recht und Theologie zu beziehen?

Wenn V. schließlich das, was er mit "Begründungsoffenheit" insinuiert, in Richtung eines "schwachen Relativismus" (490) auslegt, ist eingestanden, dass der Ort des Sprechens stets nur ein bedingter ist und sein kann. Gesteht man sich dies ein, widerlegt sich freilich der Anspruch auf Letztbegründung von selbst. Im Gegenzug gegen das verfolgte (Letzt-)Begründungsparadigma könnte es eine viel versprechendere Strategie sein, die vom Vf. durchaus zu Recht vermerkte Unbestimmtheit des Menschenwürdekonzepts (310.311.473) und seine Funktion in Verfassung und Rechtsordnung genauer zu erörtern. Eine Unbestimmtheit, die indes keineswegs, wie verstreute Kennzeichnungen bei V. suggerieren, mit Beliebigkeit und Relativismus in eins zu setzen wäre (so sieht sich V. genötigt, "das Mißverständnis der Begründungsoffenheit als Unbestimmtheit" ausdrücklich abzuwehren [488] und andererseits zu betonen, Begründungsoffenheit impliziere "nicht Verzicht auf Letztbegründung" [490]). Die Unbestimmtheit dessen, was mit "Menschenwürde" auf den Begriff gebracht wird, wäre vielmehr in ihrer Normativität zu erfassen: als Unbestimmtheit, die kein bloßer, zu tilgender Mangel ist, sondern als Unbestimmtheit, die die Offenheit der Ordnung des Rechts präzise bestimmt. Ein diese (nicht relativistische, sondern bestimmte) Unbestimmtheit auch theologisch eruierender Diskurs hätte freilich dem in Frage stehenden Zwischen von Recht und Theologie anders, als es in der vorliegenden Studie geschieht, Gestalt zu geben.