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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

439–441

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Grabenstein, Andreas

Titel/Untertitel:

Wachsende Freiheiten oder wachsende Zwänge? Zur kritischen Wahrnehmung der wachsenden Wirtschaft aus theologisch-sozialethischer Sicht.

Verlag:

Bern-Stuttgart-Wien: Haupt 1998. 494 S. gr.8 = St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik, 22. Kart. ¬ 49,00. ISBN 3-258-05869-5.

Rezensent:

Frank Surall

Die Neuendettelsauer Dissertation untersucht die These der Dominanz der Wirtschaft und das vielfältig zu beobachtende Hineingreifen ökonomischer Kategorien in nahezu alle Bereiche der Gesellschaft. Im knappen ersten Hauptteil (19-76) werden in einem ökonomiegeschichtlichen Überblick Begründungen für die Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums und wachstumskritische Positionen vorgestellt.

Im zweiten, sozialphilosophischen Teil (75-274) werden die Ansätze von Karl Homann und Peter Ulrich dargestellt und bewertet. Das vertragstheoretisch fundierte Modell Homanns beansprucht dem Vf. zufolge, deskriptiv eine umfassende ökonomische Rekonstruktion der Gesellschaft vorzunehmen. Diesen "Allzuständigkeitsanspruch" der Ökonomik wirft der Vf. Homann vor und fordert stattdessen eine Sensibilität für "das Eigenrecht anderer Zugänge zu den gesellschaftlichen Wirklichkeiten" (116). Wenn Homann z. B. für moralisches Handeln Kostenersparnisgründe in Anschlag bringt, indem er es auf den Gewinn von Verlässlichkeit zielen sieht, hält es der Vf. durchaus für hilfreich, so den Wert moralischer Überzeugungen monetarisieren zu können. Es sei jedoch ein Irrtum zu meinen, für moralisches Verhalten wären allein ökonomische Gründe bestimmend. Homanns scheinbar voraussetzungsloses Modell beruhe in Wahrheit auf idealistischen Prämissen, insbesondere einer realitätsfernen Unterscheidung zwischen langfristig denkenden Staatsbürgern, die feste Regeln als kollektive Güter etablieren, und einem nur am Gewinn orientierten homo oeconomicus mit minimalem Handlungsspielraum.

Sieht der Vf. in der Konzeption Homanns ein "trendkonservatives" Extrem, so wird das Modell P. Ulrichs als "trendänderndes" Extrem in Anspruch genommen. Die im Anschluss an Habermas vorgenommene Unterscheidung "kontextfreier Formalsprachen", zu denen auch das Geld gehöre, und "Lebenswelten", in denen jene institutionalisiert würden, berücksichtigt dem Vf. zufolge den von Homann vernachlässigten systemfremden Kontext ökonomischen Handelns. Anders als bei Habermas habe nicht nur das Recht eine Scharnierfunktion zwischen Lebenswelt und System, sondern könnten alle Systemcodes lebensweltlich rekonstruiert werden.

Ulrichs These einer fortschreitenden emanzipatorischen Rationalisierung der Lebenswelt schließt sich der Vf. nicht an. Die Integration in die Lebenswelt mache ökonomische Abläufe zwar dem kommunikativen Handeln im gesellschaftlichen Diskurs zugänglich, ohne dass jedoch der "Sog des Geldmediums" allein mit Hilfe sozialer Rahmenregeln bewältigt werden könnte. Der ökonomische Geldcode schaffe einen "erkenntnistheoretischen Filter" (261), durch den nur wahrgenommen werde, woran Verfügungsrechte etabliert werden können. Dies führe zu entsprechenden Handlungsmustern in den Lebenswelten. Allerdings können nach Auffassung des Vf.s im System vorhandene Spielräume kreativ genutzt werden: Lebensweltliche Überzeugungen könnten z. B. als ethisch motivierte Nachfragepräferenzen in die Sprache der Wirtschaft oder in andere Systemmedien wie Macht, Recht und Wissen übersetzt werden, um das ökonomische System zu steuern. Andererseits müssten auch Bedürfnisse respektiert werden, die sich nicht in ökonomische Anreize übertragen lassen.

Damit ist ein Rahmen vorgezeichnet, in dem auch religiöse Überzeugungen relevant werden können. Auch im theologischen Hauptteil (275-477) nehmen die eigenen Reflexionen des Vf.s ihren Ausgang bei zwei "extremen" Positionen. Artur Rich setze im Anschluss an Barth bei der Offenbarung ein und gelange über die vom biblischen Zeugnis her begründete Basiskategorie der Humanität zu wirtschaftsethischen Konkretionen. Nach Rich hat sich die Wirtschaft neben dem Sachgemäßen (Effizienz) am Menschengerechten auszurichten. Durch Partizipation der Arbeitenden und sogar der Nicht-Arbeitenden bleibe das legitime Gewinninteresse kein Selbstzweck, sondern könne auf humane, soziale und ökologische Zwecke umgeleitet werden.

Stimmt der Vf. diesen Folgerungen zu, so korrigiert er Richs von Barth herrührende Skepsis, relative Größen mit dem Reich Gottes zu identifizieren, in kritischer Anlehnung an Wilfried Joest dahingehend, dass an Jesus ablesbar sei, wie sich das Reich Gottes in Beziehungen befreiender Liebe fragmentarisch verwirkliche und "welche Strukturen wirklichen Menschseins Gott uns als Geschöpfen zugedacht hat" (339). Dabei ist sich der Vf. bewusst, dass die (wirtschafts-)ethische Identifizierung dieser Strukturen nur im Diskurs mit anderen sich auf Jesus berufenden Konzepten erfolgen kann.

Eilert Herms hingegen versucht dem Vf. zufolge im Anschluss an Schleiermacher christliche Inhalte in allgemein evidente Kategorien zu überführen und für den Bereich der Wirtschaft zu entfalten. Nach Herms erbringen die vier "Interaktionsordnungen" Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Religion notwendige Leistungen für die Gesellschaft. Seit der Industrialisierung reorganisiere die Wirtschaft die anderen Leistungsbereiche nach ihren Bedürfnissen. Nun sei ein Gleichgewicht anzustreben, indem die ausgeblendeten religiös-weltanschaulichen Überzeugungen in die wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurse eingebracht werden.

Der Vf. würdigt die bei Rich vermisste Bemühung um eine Rekonstruktion sozialer Strukturen. Er kritisiert jedoch, dass für Herms deren Erkenntnis "das Privileg der christlichen Perspektive" (382) bleibe. Es sei jedoch nicht Aufgabe des religiösen Bereiches, den anderen Bereichen eine allgemein gültige christliche Gesellschaftstheorie zur Verfügung zu stellen. Da sich kategoriale Grundannahmen auch in den anderen Interaktionsordnungen bildeten, müsse der Diskurs darüber entsprechend ausgeweitet werden. Ebenso wenig akzeptiert der Vf. umgekehrt eine Beschränkung der Kirche auf die Ausbildung weltanschaulicher "Gewissheiten" ohne Konkretionen für die anderen gesellschaftlichen Bereiche.

Die in der Auseinandersetzung mit den theologischen Positionen gewonnenen Ergebnisse werden am Ende des 3. Hauptteils in ein Spannungsfeld von Schöpfung und Versöhnung gestellt. Auch der versöhnende Gott achte die geschöpflichen Vorgaben, nach denen der Mensch eine freie Entscheidung zwischen dem "Notwendigen" und dem von Jesus aufgezeigten "aus Liebe Möglichen" (Track) und über die Institutionen treffe, in denen er dem göttlichen Gestaltungsauftrag nachkommt. Die sich daraus ergebende Uneindeutigkeit sei von Gott gewollt.

Auf einen den philosophischen und den theologischen Hauptteil übergreifenden Schluss meint der Vf. verzichten zu können - wohl weil für ihn beide keine konkurrierenden Zugänge darstellen, sondern schöpfungstheologisch vermittelt arbeitsteilig ineinander greifen. Dadurch wird eine Anschlussfähigkeit der Theologie gegenüber anderen Wissenschaften demonstriert. Den Band beschließt stattdessen ein "Abspann: Wachstum, Krebs, Prozesse, Inseln. Einige letzte Bilder" (479-482). Die Überschrift zeigt exemplarisch das Bemühen um Anschaulichkeit durch Wortwahl und zahlreiche Beispiele, zugleich aber auch, dass manche Formulierungen ("Henne oder Ei? Keine Frage ...") zu Lasten begrifflicher Klarheit gehen.

Das mittels "extremer" Positionen umrissene Panorama, in dem die eigene Position verortet wird, wirft manche Fragen auf. Die Deutung von Richs Ansatz als "offenbarungsbestimmt" ignoriert die bei Barth schwerlich zu findende rationale Plausibilisierung christlich-ethischer Prinzipien, an der Rich durchweg gelegen ist. In verschiedener Hinsicht hat die Positionierung des Vf.s die selbst gesetzten Orientierungsmarken verschoben. Die für seinen Ansatz konstitutive Berufung auf den Menschen Jesus kann trotz ihres inkarnatorischen Bezugsrahmens kaum in ein Spektrum zwischen Rich bzw. Joest und Herms eingeordnet werden. Ferner: Ist das gegenteilige "Extrem" zu einem offenbarungsbestimmten Ansatz tatsächlich eine christliche Gesellschaftstheorie? Der Vf. setzt sich von beiden ab, indem er Anknüpfungspunkte für einen argumentativen Diskurs mit gleichberechtigten nichttheologischen Teilnehmern und damit für eine interdisziplinäre Wirtschaftsethik schafft.