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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

437–439

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Görgens, Sigrid, Scheunpflug, Annette, u. Krassimir Stojanov [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Universalistische Moral und weltbürgerliche Erziehung. Die Herausforderung der Globalisierung im Horizont der modernen Evolutionsforschung.

Verlag:

Frankfurt a. M.: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation 2001. 342 S. m. Abb. 8 Kart. ¬ 29,80. ISBN 3-88939-560-0.

Rezensent:

Günther Pöltner

Bei dem vorliegenden Sammelband handelt es sich um die Dokumentation einer 1999 an der Universität der Bundeswehr in Hamburg abgehaltenen Tagung, die es sich zum Ziel setzte, auf Basis der Evolutionstheorie als einer "Supertheorie mit universalem Geltungsanspruch hinsichtlich aller Bereiche der individuellen und sozialen Entwicklung" (6) pädagogische und ethische Fragen der Globalisierungsproblematik zu behandeln. Dabei sollten nicht nur die "Möglichkeiten einer universalistischen Moral und einer weltbürgerlichen Erziehung" (6) ermittelt, sondern auch die Leistungsfähigkeit des evolutionären Erklärungskonzepts, insbesondere der soziobiologischen These vom Menschen als dem Nahbereichswesen bzw. des Begriffs des sozialen Mesokosmos geprüft werden.

Nach Vollmer (Können wir den sozialen Mesokosmos verlassen?) ist unter diesem Begriff "der Ausschnitt unserer sozialen Umgebung, auf den wir stammesgeschichtlich geprägt sind" (15), zu verstehen. Dieser den neolithischen Lebensbedingungen angepasste moralische Apparat disponiert den Menschen zu einer auf Fitnessmaximierung ausgerichteten Kleingruppenmoral (soziale Kontakte und Kooperationsbereitschaft mit den Gruppenangehörigen, Mißtrauen und Furcht vor den Fremden, den anderen). Damit ist die für das Gesamtthema zentrale Frage aufgeworfen, ob und wie der solcherart disponierte Mensch den sozialen Mesokosmos verlassen und den Herausforderungen einer Weltgesellschaft gerecht werden kann. Wie steht es um die Möglichkeit einer universalistischen Moral angesichts der soziobiologischen Behauptung einer genetischen Disposition für eine Binnenmoral? Wie kann der Fernbereich an den Nahbereich angebunden werden? Nach Vollmer kann der soziale Mesokosmos verlassen werden. Die Aufgabe von Ethik und Pädagogik liege in der Umstrukturierung menschlichen Verhaltens dergestalt, dass wir "moralisches Verhalten als unseren Vorteil empfinden und in konkretes Handeln umsetzen" (32). Ähnlich argumentiert Mohrs (Interkulturalität als Anpassung?) in Auseinandersetzung mit Huntingtons These vom unausweichlichen Kampf der Kulturen. Die die Kleingruppen übersteigenden sozialen Gebilde (staatlicher und überstaatlicher Art) sind soziobiologoisch gesehen "letztlich nichts anderes als kulturelle Anpassungsleistungen der Menschen an sich verändernde Bedingungen des Lebens und Überlebens in ihren jeweiligen ökologischen Nischen und schließlich auf der Erde als ökologischer Gesamt-Nische" (87). Interkulturalität - als Anpassung begriffen - sei weniger ein theoretisches, sondern primär ein praktisch-politisches Problem der Umsetzung von Handlungsoptionen.

Nach Voland hingegen (Ziele, Chancen und Grenzen weltbürgerlicher Erziehung - Kritische Zwischenrufe eines Soziobiologen in eine pädagogische Debatte) ist ein Verlassen des sozialen Mesokosmos unmöglich ("Wir können ... nur innerhalb des Mesokosmos lernen, ihn aber nicht überwinden", 336). Seine Skepsis im Hinblick auf eine universalistische Moral begründet er zum einen mit der Unüberwindbarkeit biologischer Angepasstheit: Ist der Mesokosmos definiert als die soziale Welt, an die der Mensch genetisch angepasst ist, und ist genetische Angepasstheit unüberwindbar, ist der soziale Mesokosmos unüberwindbar (335). Zum anderen wird auf einen funktionalistischen Kulturbegriff (Kultur als bessere Antwort auf Lebensprobleme) rekurriert: "Kulturfähigkeit ist ja gerade deshalb biologisch entstanden, weil mit ihr die Lebensprobleme von Selbsterhaltung und Reproduktion nach biologischen Fitnesskriterien besser gelöst werden konnten" (337). Globalisierungsprobleme seien nicht durch Verlassen des Mesokosmos, sondern durch Nutzung der "konstruktiven Möglichkeiten seines [= des Menschen] durch evolvierte Interessen, Strategien und Mechanismen begrenzten Mesokosmos" (337) anzugehen. Eine Gefangenschaft des Menschen "in einer Mesokosmosfalle oder einem Mesokosmosdilemma" (174) wird von Engels (Von der naturethischen Einsicht zum moralischen Handeln. Ein Problemaufriss) bestritten. Sie verweist auf die "Doppelnatur des Menschen" (165). "Die biogenetische Evolution bedeutet für den Menschen Fußangel und Sprungbrett zugleich" (165 f.). Kultur ist nicht einfach das bessere Problemlösungsverhalten, sondern die Weise, wie der Mensch sich "von seiner Evolutionsgeschichte zu befreien" (166) vermag. Es müsse zwischen "genetische[r] Grundlage" und "konkrete[r] Realisation" (169) menschlichen Verhaltens unterschieden werden. Lütterfelds (Die Begründungsneutralität des moralischen Sprachspiels und ihre Folgen für eine weltbürgerliche Moral-Erziehung. Warum kann es keine naturalistische Begründung einer universalistischen Moral geben?) widmet sich der grundsätzlichen Frage einer naturalistischen Moralbegründung. Er geht aus von dem "Moralparadox" zwischen sozio-kulturell invarianten moralischen Universalien (wie z. B. der Goldenen Regel) und moralischem Pluralismus. Eine naturalistische Moralbegründung müsse scheitern, weil sie dieses Paradox nicht auflösen könne. Als Ausweg aus dem Moralparadox biete sich Wittgensteins These an, wonach moralische Phänomene "solche der moralischen Sprache" (38) sind, deren "Bedeutung" (40) die zu tuende oder zu unterlassende Handlung ist. Die Befolgung moralischer Imperative setze das Verständnis der entsprechenden sprachlichen Ausdrücke voraus, das seinerseits nur im Handeln selbst erworben werde. Damit werde Ethik primär zu einer "Grammatik der moralischen Sprache" (43). Die moralische Sprache dürfe freilich nicht mehr in Differenz zur Handlung, müsse "als Einheit von Ausdrucksgebrauch und Handlungsvollzug" (42) genommen werden und habe eine einheitliche Lebensform zu ihrer Voraussetzung. Moralische Erziehung bestehe in der "Vermittlung der moralischen Sprachspiele einer Lebensform und Kultur" (51), die durch Familienähnlichkeit gekennzeichnet sind. Nipkow greift das Problem eines Weltethos auf (Weltethos und Nächstenliebe - universalistische ethische Ansprüche auf dem evolutionstheoretischen, philosophischen und sozialpsychologisch-pädagogischen Prüfstand). Ähnlich wie Engels anerkennt auch Nipkow das relative Recht einer evolutionstheoretischen Deutung sozialer Phänomene, zeigt aber zugleich in kritischer Würdigung deren Grenzen auf. Die Inhalte des Weltethos-Gedankens, aus der Goldenen Regel und vier Grundpflichten bestehend (Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor dem Leben, Solidarität und gerechte Wirtschaftsordnung, Toleranz und Leben in Wahrhaftigkeit, Gleichberechtigung und Partnerschaft von Mann und Frau), seien zwar universalisierbar, damit sei aber "keineswegs der Verpflichtungscharakter der Weisungen des Weltethos in zwingender universalistischer Allgemeinheit begründet" (211). Das relative Recht einer soziobiologischen Erklärung sozialen Verhaltens ("Kooperation aus wechselseitig zugestandenem Eigennutz", 216) ende am Phänomen der sittlichen Verantwortung: "Das Phänomen Verantwortung ist biologisch nicht zureichend zu fassen. Vom Verhalten ist menschliches Handeln zu unterscheiden, das Prozesse voraussetzt wie Selbstbewußtsein, Reflexivität, Zuschreibung von Ursachen und Motiven (Attribution), Begründungsfähigkeit" (213). Es erscheine realistischer, die Hoffnungen einer globalen Ethik weniger auf reinen Altruismus, sondern eher auf "Wege weltweiter Kooperation und des gerechten Interessenausgleichs" (224) zu setzen. Als "Erfahrungsbasis von Universalität" komme der "Bereich emotionaler Betroffenheit" mit der zweifach praktischen Auswirkung in Form "menschlicher Zuwendung" und als "gesellschaftlicher Veränderungswille" (224) in Frage. Der Beitrag von Nipkow stellt in seiner Ausgewogenheit ein vorbildliches Beispiel einer kritischen Würdigung evolutionstheoretischer Erklärungsversuche dar - u. E. der beste in der Sammlung. Die pädagogisch ausgerichteten Beiträge des Sammelbandes betonen die Notwendigkeit, in weltbürgerlicher Absicht zum Umgang mit Differenzen, Aushalten von Unsicherheit sowie zum Pluralismus zu erziehen.

Wer sich über Versuche orientieren will, pädagogische und ethische Probleme im Zusammenhang mit dem Globalisierungsvorgang auf evolutionstheoretischem Boden anzugehen, wird gerne zu dem Sammelband greifen. Dass viele Fragen offen geblieben oder "nur unbefriedigend beantwortet" (Daecke in seinem abschließenden Kommentar, 323) sind, liegt in der Natur der Sache.