Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2003

Spalte:

433 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ahmann, Martina

Titel/Untertitel:

Was bleibt vom menschlichen Leben unantastbar? Kritische Analyse der Rezeption des praktisch-ethischen Entwurfs von Peter Singer aus praktisch-theologischer Perspektive.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2001. XVI, 589 S. gr.8 = Theologie und Praxis, 11. Kart. ¬ 30,90. ISBN 3-8258-5333-0.

Rezensent:

Lars Klinnert

Angeregt durch die Debatte um Peter Singer untersucht die katholisch-theologische Dissertation von Martina Ahmann die in der Gesellschaft vorhandenen Einstellungen zum Umgang mit behinderten Menschen und gibt Anregungen für eine Standortbestimmung von Kirche und Theologie.

Im ersten Teil (33-221) stellt A. den Ansatz der Praktischen Ethik vor und setzt ihn in Beziehung zu tatsächlichem medizinischen Handeln: Auch wenn Ärzte sich prinzipiell der Gleichwertigkeit menschlichen Lebens verpflichtet wüssten, werde in Pränataldiagnostik und Neonatologie gesundem und beeinträchtigtem Leben faktisch unterschiedlicher Wert zugemessen. Grund sei zum einen, dass man die Einschätzung von Behinderungen und ihren Auswirkungen einseitig Humangenetikern überlasse, ohne die Perspektiven von Kinderärzten, Pädagogen oder betroffenen Familien zu berücksichtigen. Zum anderen würden die Lebensmöglichkeiten behinderter Kinder zunehmend gegen Perfektionswünsche der Eltern und ökonomische Interessen der Gesellschaft abgewogen. Aber nicht nur die Medizin, auch die Kirche müsse sich fragen lassen, ob für sie die Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens nicht nur ein bloßes Postulat bleibe: Inwiefern, fragt A., gelingt es gemeindlicher Praxis, Menschen mit Behinderungen zu integrieren und zu fördern, anstatt sie einfach in institutionelle Sonderräume abzuschieben? Offenbar, so das Fazit, kommt in Singers Thesen ein "nicht offen diskutierter, aber in vielen Bereichen latent vorhandener Wertkonflikt bezüglich menschlichen Lebens mit Beeinträchtigungen" (222) zum Ausdruck.

Diesen weist A. im zweiten Teil (222-387) anhand der unterschiedlichen Füllung zentraler Begriffe wie Unantastbarkeit des Lebens, Person und Interesse durch praktisch-ethische, philosophisch-deontologische, jüdisch-christliche und behindertenpädagogische Entwürfe auf. Da die Diversität vorhandener Auffassungen über Grund und Reichweite der Schutzwürdigkeit (insbesondere behinderten) menschlichen Lebens sich letztlich nicht in einer einheitlichen (universalen) ethischen Konzeption auflösen lasse, bleibe der Kirche letztlich nur der Versuch, die Anliegen von Menschen mit Beeinträchtigungen für diese und mit diesen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Dies aber könne überzeugend nicht durch bloße Appelle, sondern nur durch konsequentes Handeln geschehen.

Der dritte Teil (388-525) entfaltet daher eine "advokatorisch-solidarische Theologie" (432), die die Wahrnehmung der Perspektive behinderter Menschen ermöglicht und einfordert. Von der Schaffung von Begegnungsräumen bis zur Gestaltung entsprechender Gesetze soll nach "Möglichkeiten gesucht werden, das gemeinsame Leben und Lernen von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen zur Normalität werden zu lassen" (529): Eine besondere Legitimierung von Menschenwürde und Lebensrecht bestimmter Gruppen, so die Hoffnung, könnte auf diese Weise entbehrlich werden (vgl. 535).

Die Untersuchung spannt einen weiten Bogen von prä- und perinataler Selektion über strukturelle Benachteiligungen im Sozial- und Gesundheitswesen bis hin zur Diskriminierung im Alltag. Hinzu kommen historische Exkurse, insbesondere zu Eugenik und Euthanasie im Nationalsozialismus. Gemeinsamer Bezugspunkt aller Ausführungen ist die negative Bewertung behinderten Lebens aus einer Außenperspektive, die durch die Integration der Betroffenen in das gemeinsame Leben aller überwunden werden soll.

Allerdings geht bei der Vielfalt der teilweise etwas unsystematisch aneinander gereihten Themen (vgl. z. B. 495-521) der rote Faden mitunter verloren. Man fragt sich, was der eigentliche Schwerpunkt der Arbeit sein soll: eine Analyse der Rezeption der Praktischen Ethik in der deutschen Öffentlichkeit, eine Kritik selektiver Methoden in der Biomedizin oder ein theologischer Entwurf zum Umgang mit Behinderung? Die am Anfang breit aufgerissenen Fragen der Gendiagnostik werden am Ende nur in unbefriedigender Knappheit wieder aufgenommen; in den Ausführungen zur kirchlich-diakonischen Integration behinderter Menschen finden sich kaum noch Bezüge auf die Singer-Debatte. Eine Konkretisierung der Fragestellung und damit verbunden eine Reduzierung des verarbeiteten Stoffes wäre also dringend notwendig gewesen. Auch der Darstellung der ethischen Positionen (259-330) hätte die Beschränkung auf jeweils einen exemplarischen Entwurf gut getan.

Abschließend seien einige formale Kritikpunkte gestattet: In den Anmerkungen wird die verwendete Literatur z. T. seitenweise wörtlich wiedergegeben, was das flüssige Lesen der Arbeit erheblich erschwert. Unbestritten vermitteln Zitate häufig den treffendsten Eindruck von der Haltung eines Autors; dabei scheint es jedoch sinnvoller, sich auf einige charakteristische Spitzensätze zu beschränken. Optisch verwirrend ist die unmotivierte Verwendung verschiedener Schrifttypen und -auszeichnungen in Überschriften, Zitaten und Literaturangaben. Die häufige Benutzung von Klammern, Schrägstrichen und Anführungszeichen lässt bisweilen nahezu unlesbare Sätze entstehen. Hinzu kommen einige grammatikalische und stilistische Mängel. Schade, dass heutzutage immer häufiger offenbar weder dem Verlag noch den Herausgebern an einem gründlichen Lektorat gelegen ist!