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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

859 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wehnert, Jürgen:

Titel/Untertitel:

Die Reinheit des "christlichen Gottesvolkes" aus Juden und Heiden. Studien zum historischen und theologischen Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 311 S. gr.8 = Forschungen zu Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 173. Lw. DM 124.-. ISBN 3-525-53856-1.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Hinter dem im Untertitel genannten, dem Leser möglicherweise als schmal erscheinenden Ausgangspunkt dieser Göttinger Habilitationsschrift, dem in Apg 15,20.29; 21,25 erwähnten und zitierten Aposteldekret, verbirgt sich eine Fülle von neuen Einsichten, die in einer Rezension nicht alle aufgelistet werden können. Sie betreffen a) die Auslegung des lukanischen Geschichtswerks, als dessen Interpret Wehnert bereits durch seine Dissertation zu den ,Wir-Passagen’ bekannt geworden ist, b) die neue Einordnung des Paulus in das Vorfeld des Apostelkonvents und in seine Nachgeschichte, c) die Rekonstruktion des Aposteldekrets, die in ihm zum Ausdruck kommende judenchristliche Theologie und die Rezeption in den ersten beiden Jahrhunderten und d) die Vielfalt neuer Aspekte für die Darstellung der Geschichte des Urchristentums. Selten ist die Quellenbasis zum Aposteldekret so sorgfältig wahrgenommen und ausgewertet worden wie in diesem Buch von W. Mögen die Ergebnisse dem gegenwärtig eher konservativen Trend in der Apg-Forschung entsprechen, gewonnen wurden sie nicht durch bereitwilliges Vertrauen in das von Lukas Gesagte, sondern durch scharfsinnige Redaktionskritik und durch historische Kritik. Das Buch ist von der Sache her ungemein anregend und zweifelsfrei ein maßgeblicher Forschungsbeitrag, von der Form her exakt und nahezu fehlerfrei.

Das für die historische Rückfrage wesentliche Ergebnis sei vorangestellt: Das Aposteldekret geht zurück auf Jerusalemer Christen unter der Autorität des Jakobus, die im Anschluß an den Antiochenischen Streit, den W. dem Apostelkonvent mit neuen Begründungen zeitlich nachordnet (120-123), den Gemeinden außerhalb Palästinas Beschlüsse unterbreiten, "die das Verhältnis zwischen Juden- und Heidenchristen auf eine thoragemäße Grundlage stellen sollten, indem sie es am alttestamentlichen Verhältnis zwischen Israeliten und ,Fremdlingen’ orientierten" (268). Zugleich aber spiegelt die "den Heidenchristen ausdrücklich zugebilligte Beschneidungsfreiheit den Sachverhalt wider, daß die Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen primär nicht auf dem Ideal des Gesetzesgehorsams basierte, sondern auf dem Bekenntnis zu Jesus als dem Christus des Gottes Israels" (250). W. analysiert zunächst die Quellen, die als Zeugnisse für das Aposteldekret in Frage kommen. Es sind dies: Apg 15,1-35; 21,15-26; Gal 2,1-14, sowie weitere mögliche Referenzen in 1Kor und Röm, sodann aus den Pseudoklementinen, die sich an dieser Stelle auf die in der Apg verarbeitete Tradition und nicht auf die Apg direkt beziehen, Hom 7.4,2; 7.8,1b-2a; 8.19,1c und Rec IV 36,4. Es schließt sich eine Darstellung der dem Aposteldekret analogen Enthaltungsvorschriften in antiken (christlichen und paganen) Texten bis zur Wende vom 2. zum 3. Jh. an, in denen allerdings der kirchengeschichtliche Ursprung des Aposteldekrets nicht mehr erkannt wird. Die Arbeit behandelt abschließend Ursprung und Bedeutung der Vorschriften des Aposteldekrets sowie seinen theologischen Hintergrund.

W. folgt derjenigen Interpretation, die in Bestimmungen aus Lev 17 f. den Hintergrund für das Aposteldekret erkennt, findet nun aber in der Targum-Tradition (speziell in einer Tradition, die TPsJ nahesteht) das missing link zwischen Lev 17 f. und dem Aposteldekret. Freilich kann auch dieser, im Anschluß an Gleßmers Untersuchung zur Entwicklung der Targume unterbreitete, sehr erwägenswerte Vorschlag nicht ohne den Vorbehalt, "daß die Targum-Versionen des halachischen Abschnitts Lev 17 f. sehr altes Material enthalten, das so oder ähnlich bereits im 1. Jh. n. Chr. in Umlauf gewesen sein kann", auskommen (218). Für die Annahme der Historizität des Aposteldekrets ist natürlich wesentlich, daß W. neben dem Bericht der Apg in den Pseudoklementinen eine weitere, von der Apg unabhängige Stütze in den Quellen hat (Analyse der Textpassagen und ihre literarkritische Einordnung 145-186).

Nach W. rekurriert Lukas in Apg 15,1-35 auf eine Abfolge von drei geschichtlichen Vorgängen (78), in V. 1-5 und in V. 20-23 auf ursprünglich selbständige, nicht zusammengehörige Traditionen (71): a) in V. 1-5 auf einen in Antiochia entstandenen und Jerusalem fortgesetzten Streit zwischen judaistischen Lehrern und Paulus/Barnabas über die Notwendigkeit der Beschneidung, b) in V. 7-11 auf die petrinische Heidenmission und auf einen Konflikt um die gesetzesfreie Tischgemeinschaft, c) in V. 19-33 auf den Erlaß von vier Enthaltungsbestimmungen. W. ordnet den historischen Ort der Tradition hinter Apg 10 f. sodann V. 7-11 zu, wo die Bekehrung des Kornelius zwischen Konvent und factum Antiochenum eingeordnet wird (74-77.265). Vielleicht sollte man doch vorsichtiger sagen, daß Lukas sich auf das in Apg 10 f. Gesagte nochmals bezieht. W. verbindet mit diesem Ergebnis eine sehr weitgehende, im Ansatz Lüdemanns Kommentar zur Apg zustimmende, in ihrer Tragweite aber als überzogen erscheinende, da aus der Analyse nur eines Kapitels der Apg gewonnene Forderung an die zukünftige Exegese der Apg: "Eine hist. Analyse der Apg steht vor der Aufgabe, die schematische Trennung der luk. Geschichtsepochen zu überwinden und die tatsächlichen chronologischen Orte der in den einzelnen Episoden ausgewerteten Traditionen zu ermitteln, statt aus dem Gesamtentwurf der Apg einen kontinuierlichen Bericht über die frühchristliche Geschichte erheben zu wollen" (79). W. beruft sich nach der Auflösung des redaktionellen Schemas u.a. neben internen und externen Gesichtspunkten auf den "Gesichtspunkt einer logischen Abfolge der Ereignisse" (274).

Bedenkenswert erscheinen hingegen die Vermutungen, daß einerseits der Parteienstreit in Korinth auch dadurch geprägt wurde, daß die auf Petrus sich beziehenden Christen die Gesamtgemeinde mit den Forderungen des Aposteldekrets konfrontierten (136.270), andererseits aber auch Paulus, wie aus Röm 14,1-15,13 erkannt werden kann, eine "Toleranz gegenüber den Vorschriften des AD (Aposteldekrets) signalisiert und folglich ... ein spätes Einlenken im antiochenischen Konflikt" (142). Für W. ist die Annahme, daß Paulus im Aposteldekret zur Zeit des Römerbriefs ein "soteriologisches Adiaphoron" gesehen hat, "eine sehr ernst zu nehmende Möglichkeit" (143).