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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

426–428

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Mieth, Dietmar [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik. Hrsg. unter Mitarbeit v. D. Pfaff.

Verlag:

Tübingen: Attempto Verlag 2000. 286 S. 8. Kart. ¬ 29,00. ISBN 3-89308-328-6.

Rezensent:

Regine Munz

Welche moralische Wirkung kann Literatur haben, wenn Dichter ausschließlich ästhetische Zwecke verfolgen, anders wären sie ja keine? Welche Verbindlichkeit kann das "nicht-naive, ästhetisch erschwerte Erzählen" für die philosophische Ethik und (katholische) Theologie beanspruchen, wenn sich die dem Idealismus entsagende, narrativ konzipierte Ethik der Forderung nach ihrer Letztbegründung jenseits spezifisch gefärbter Traditionen und Weltbilder entzieht? Der Tübinger Moraltheologe Dietmar Mieth hat zum Thema der ethischen Verbindlichkeit im ästhetisch Unverbindlichen einen Sammelband herausgegeben, dessen Beiträge sich allesamt im Spannungsfeld zwischen der narrativen Dimension von Ethik und der ethischen Dimension von genuin nicht im Hinblick auf ihre ethische Reproduzierbarkeit entstandener Literatur bewegen. Die elf Aufsätze sind aus einer interdisziplinären Vorlesungsreihe für das Studium Generale in Tübingen hervorgegangen. Sie haben sowohl einen populärwissenschaftlichen Anspruch im besten Sinne ("Grundlagen der ethisch-ästhetischen Debatte ... werden für ein breiteres Publikum dargestellt, wie auch die Bedeutung der Literatur für den bioethischen Diskurs") als auch die Absicht, über ihre Verwendung als ethisch relevante Erkenntnisquelle hinaus Literatur nicht zu instrumentalisieren, wobei gerade der heuristische Gebrauch von Literatur eine Instrumentalisierung im besten Sinne darstellt.

Marcus Düwell versteht Narrativität als eine besondere Form des Ästhetischen und beschäftigt sich in seinem programmatischen Beitrag "Ästhetische Erfahrung und Moral" mit der Frage, ob es über kontingente Wirkungen des Mediums Erzählung hinaus eine spezifische Beziehung zwischen der ästhetischen Gestaltung und der ethischen Reflexion gibt. Dabei untersucht Düwell in Anlehnung an Martin Seels grundlegende Arbeiten zum Thema der Struktur der ästhetischen Erfahrung. Er bestimmt die ästhetische Erfahrung als dem Begriff der Kunst vorgängig. Anders als bei der ästhetischen Erfahrung der Natur, wo dem Nicht-Hergestelltsein und damit der Kontingenz der ästhetischen Qualität zentrale Bedeutung zukomme, sei der Kunstgegenstand eigens für die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen hergestellt worden. Die Struktur der ästhetischen Erfahrung werde durch die Bezogenheit auf die der ästhetischen Erfahrung vorgängige Lebenswelt - mit einem reflexiv-distanzierenden, anschaulich sinnlich-fassbaren Moment - bestimmt. "Kunst spiegelt außerästhetische Erfahrung. Kunst verfremdet sie und spielt mit ihr." Die selbstzweckhafte Erfahrung von Weltsichten und Erfahrungsmöglichkeiten ermögliche den ethisch relevanten Verhaltensfreiraum gegenüber Erfahrungen und Weltsichten. Denn gerade im durch das Ästhetische eröffneten, moralisch ungerichteten Handlungsspielraum und im Distanzierungspotential, welches durch die ästhetische Erfahrung freigesetzt wird, erkennt Düwell die ethische Relevanz der ästhetischen Erfahrung. In der Kunst erblickt Düwell eine Quelle moralischen Denkens, sowohl in Hinblick auf die Reflexion der Elemente und Bedingungen des guten Lebens als auch auf die sollensethische Frage nach dem moralisch Normativen.

Unter Einbezug von Paul Ricurs Theorie und der Überlegungen des Phänomenologen Wilhelm Schapp ("In Geschichten verstrickt") widmet sich Hille Haker der moralischen Identität. Wenn Alasdair MacIntyre Recht hat, und der Mensch ein Geschichten erzählendes Tier ist, und die Frage "Was soll ich tun" nur dann beantwortet werden kann, wenn die vorgängige Frage "Als Teil welcher Geschichte oder welcher Geschichten sehe ich mich?" beantwortet ist, dann ist gerade die Verschränkung von narrativer Identität und moralischer Identität mit der Verschränkung von "Erzählen und Moral" in ein Verhältnis zu setzen. Haker tut dies, indem sie die verschiedenen Konstitutionsmerkmale der Identität einer Person skizziert und auf den Zusammenhang von Identität und Erzählung fokussiert. So ist nach Haker Identität durch Erzählung grundlegend bestimmt. Es ist allerdings ein großer und weithin übersehener Unterschied, ob es sich um eine authentische oder eine fiktive Erzählung handelt. Unter Einbeziehung der Mimesistheorie Ricurs bestimmt Haker den Unterschied von Lebensgeschichte und literarischer Geschichte in einem je anderen Bezug zur Wirklichkeit. Ethisch relevant würden Erzählungen und Lebensgeschichten immer dann, wenn sie zur gelungenen Identität beitragen - d. i. zur Verantwortung für die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft anleiten. Entscheidend ist für Haker hierbei das freie Spiel der Einbildungskraft.

Als literarische Konkretion Hakers kann Dietmar Mieths Beitrag verstanden werden. In "Identität - wie wird sie erzählt" erklärt Mieth Milan Kunderas Roman "Die Identität" zum Paradigma der Identitätsfrage. Identität werde von Kundera als Lehre vom identitätsstiftenden Blick der Liebe entfaltet, wobei Identität als Dichtung, nicht als Abbildung der Realitäten erscheine: "Identität ist eine charakterliche Konzentration" der Merkmale der Person. Moralische und ästhetische Erfahrung begegnen sich in der reflexiven Aufarbeitung von Wahrnehmungen, Erlebnissen und Begegnungen.

Anhand der Briefe über die Moralität des jungen Werthers von Jakob Michael Reinhold Lenz stellt der Germanist Jürgen Brummack in "Daß Handeln die Seele der Welt sei. Über das Verhältnis des Ethischen und Ästhetischen in Lenz Soldaten" die Frage nach der ethischen Relevanz der Literatur unter den Bedingungen ihrer Autonomie. In dem genuin literaturwissenschaftlichen Beitrag buchstabiert Brummack die Grenzen der Literatur und deren Ergänzungsbedürftigkeit anhand des Dramas "Soldaten" sowie anhand der ästhetisch-philosophischen und politischen Schriften von Lenz. Brummack entfaltet die These, daß erst eine produktions- und wirkungsästhetische Analyse von Lenz' Soldaten den ethischen Gehalt des Stücks eigentlich sichtbar macht, wobei das im Stück verhandelte sachliche Problem erst in seinem vollen politischen Umfang durch Lenz' Reformschrift über Soldatenehen ergänzt und deutlich wird. Hier werden also politische Verantwortung und praktisch-ethische Verhaltensanweisungen in einer produktiven Spannung zur individuierenden Funktion der Literatur gehalten.

Bei den übrigen Beiträgen handelt es sich um ethisch imprägnierte Lektüren literarischer Werke - Warren Thomas Reich, Sorge in Goethes Faust. Goethe als Moralist; Hub Zwart, What is a whale? Moby-Dick, marine science and the sublime; Regina Ammicht-Quinn, Franz Kafkas und Aleksandar Tismas Strafkolonien. Ethik, Offenheit und Verbindlichkeit; Karl-Josef Kuschel, "Mein Gott, die Menschen ..." Probleme einer Erziehung zur Humanität bei Thomas Mann anhand der Mose-Novelle Das Gesetz; Christoph Gellner, Weisheit, Kunst und Lebenskunst - Hermann Hesse und Bertolt Brecht - und um detaillierte und wohlinformierte Analysen von Schriften zur ästhetischen Theorie - Christian Schenk, Ästhetik und Moral bei Friedrich Schiller: Zukunft in der Vergangenheit?; Dominik Pfaff, Heinrich Heine im Spiegel der Poetik Martin Deutingers.

Der interdisziplinäre Zugang zur Frage nach der Literatur als Quelle moralischen Denkens und Handelns ist schon mit der Ausrichtung der Autoren und Autorinnen gegeben: Einige vereinigen theologische und literaturwissenschaftliche Ausbildung in ihrer Person. Bedauerlicherweise findet dieser Fächer übergreifende Ansatz seine Grenze im interkonfessionellen Gespräch.