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Ausgabe: | April/2003 |
Spalte: | 423–425 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Mittelalter |
Autor/Hrsg.: | Tischler, Matthias M. |
Titel/Untertitel: | Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption. |
Verlag: | Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2001. Teil 1: LXX, 896 S. m. 8 Bildtafeln. gr.8. Teil 2: VIII, S. 897-1828. gr.8 = Monumenta Germaniae Historica, 48. Lw. ¬ 140,00. ISBN 3-7752-5448-X. |
Rezensent: | Lutz E. v. Padberg |
"Die Überlieferungsgeschichte gehört auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht zu den bevorzugten Gattungen der Philologie und Geschichtswissenschaft" (VIII). Diese Warnung schickt T. seiner monumentalen Studie voraus, verbunden mit der Entschuldigung an den Leser, dass auf Grund fehlender Voruntersuchungen eine mehr erzählende Monographie nicht möglich gewesen sei und die exakte kodikologische und paläographische Beschreibung der Handschriften "nicht immer zu einer flüssig lesbaren Darstellung" (ebd.) geführt habe. Das stimmt in der Tat, aber wenn sich der Interessierte durch die über 1800 Seiten und 5200 Anmerkungen gekämpft hat, wird er am Ende feststellen können, dass sich die Mühe gelohnt hat. Denn eine detailliertere Überlieferungsgeschichte eines frühmittelalterlichen Quellentextes ist zumindest dem Rezensenten nicht bekannt.
Ausgangspunkt der Bemühungen von T. war die 1979 erhobene Klage von Bernd Schneidmüller, es gebe keine Zusammenstellung aller Handschriften der Vita Karoli, die diese genau lokalisiert und datiert (Karolingische Tradition und frühes französisches Königtum, Wiesbaden 1979, 24). Einer gesonderten Begründung, warum dies gerade für Einharts Lebensbeschreibung des großen Karl erwünscht sei, bedurfte es nicht, gehört dieser Text doch zu den wichtigsten seiner Epoche und hat deshalb schon immer intensive Beachtung gefunden. T. hat sich dieser Herausforderung gestellt mit dem Ziel, die älteste maßgebende Überlieferung und Rezeption der Vita Karoli in der Karolingerzeit zu beschreiben und ihre Verbreitung bis in die Zeit des Humanismus zu verfolgen sowie dabei das Verhältnis der verschiedenen redaktionellen Textstufen zueinander zu klären. Auch für seinen stupenden Fleiß war dabei die Fülle des Handschriftenmaterials "aufregend und beängstigend zugleich" (VI). Das kann man verstehen, denn seine auf Handschriftenreisen durch Europa erhobene Liste der überlieferten Einhart-Handschriften ließ den bisher auf rund 80 Zeugen geschätzten Bestand auf 123 sichere Handschriften bzw. Fragmente anwachsen (20- 44). Die dadurch auf eine vollkommen neue Basis gestellte Textgeschichte ist die Voraussetzung für eine Neuedition der Quelle, die seit langem gefordert wird. Insofern ist T.s Werk die unerlässliche Vorarbeit für die Ausgabe. Gering schätzen darf man das nicht, denn "Überlieferungsgeschichte von Texten ist am geschriebenen Wort exemplifizierte Geistesgeschichte. Sie ist von der persönlichen Initiative der einzelnen Menschen getragen und erhellt durch die Beleuchtung der Textinteressen, des Leseverhaltens oder der literarischen Rezeptionshaltung vor allem in der Neuzeit zunehmend unser Bild von den kulturellen Interessen der jeweiligen Leserschaft" (11).
Nach der Vorstellung der Überlieferung der Vita Karoli (17-77) beschäftigt sich T. zunächst mit Textredaktion und Entstehungszeit (78-239). Dabei kam es darauf an, die Frage nach der originalen Textgestalt und ihrer seit langem umstrittenen Datierung zu verbinden mit der "Literaturszene der Herrschaftsphase Ludwigs d. Fr." (78). Der entscheidende Unterschied zur bisherigen Forschung ist dabei die schon früher vermutete, jetzt von T. bewiesene neue Abfolge der Recensionen B ("Widmungsfassung") und A ("Kompendienüberlieferung"). Der Schlüssel dazu war die Bereitschaft, die paläographische Erschließung der gesamten Einhart-Überlieferung zu untersuchen. Davon hängt auch die Frage der Datierung ab, die bislang zwischen den Jahren 817 und nach 830 schwankte. T. verbindet zu Recht den Text mit Reformaufforderungen Ludwigs des Frommen und "möchte daher die Vita Karoli als Antwort Einharts auf diese Reformaufforderung verstehen und eine Feindatierung auf das Jahr 828 vorschlagen" (210). In seiner Auseinandersetzung mit der Forschung fehlt übrigens, wenn ich recht sehe, der Beitrag von Karl-Heinrich Krüger, Neue Beobachtungen zur Datierung von Einhards Karlsvita (in: Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, 124-145), der einen deutlichen "Hinweis für die Entstehung der Karlsvita schon bis Sommer 823" (145) sieht. Insgesamt gesehen versteht T. sie als ein literarisches Spätwerk in Einharts Leben. Die "Karlsvita ist nicht das Werk eines realitätsfern gewordenen kaiserlichen Beraters, der angesichts der längst eingetretenen Entwicklung des neuen karolingischen Herrschaftsprogramms zu einem Idealisten geworden ist; sie ist vielmehr die Quintessenz eines karolingischen Denkers, der sich die Einsicht in das politisch Machbare bewahrt hat" (238 f.).
Den Hauptteil der Arbeit macht die überaus detaillierte Analyse der Handschriftengruppen aus, nämlich der Widmungsfassung (Recensio B: die ältesten karolingischen Textschichten, zurückgehend auf das Aachener Urexemplar; 240-589), der Kompendienüberlieferung (Recensio A 1a, die älteste ostfränkisch-deutsche Einhart-Überlieferung; 590-896), der Offiziellen Ausgabe (Recensionen A. A 2. 2a. A 3. 3a, der westfränkisch-französische Überlieferungsraum; 897-1313) und der überarbeiteten Offiziellen Ausgabe (Recensio A 5. 5a. C, Handschriften der Metzer und Mailänder Überlieferung sowie der Reimser Redaktion; 1314-1658), jeweils durch Stemmata zusammengefasst (588 f.893.1312 f.1658). Die Handschriften werden nach einem bestimmten Schema (Inhalt des Codex, kodikologische und paläographische Diskussion, Zusammenstellung von Abweichungen, Verhältnis zu anderen Handschriften usw.) einzeln vorgestellt und genauestens beschrieben. Der gelehrte Apparat ist immens, bisweilen freilich auch überfrachtet, so etwa, wenn zum englischen Physiologus latinus in einer über drei Seiten reichenden Anmerkung Unmengen an Literatur verzeichnet werden (978 ff.). In einem knappen Fazit (1659 ff.) wird die Überlieferung der Vita Karoli im europäischen Vergleich diskutiert, der sich aus ihrer Verbreitung im ostfränkisch-deutschen sowie westfränkisch-französischen Raum und den angrenzenden Kontaktzonen ergibt. Nachweisen kann T. damit auch, dass "nach dem karolingischen 9. Jahrhundert im hieran anknüpfenden ottonischen Zeitalter überlieferungsgeschichtliche Verbindungen zwischen dem ehemaligen Ost- und Westreich für die erneute Bereitstellung einzelner Vorlagen gesorgt haben" (1660).
Nach einer Editionsgeschichte der Vita (1662-1732) runden mehrere Register den voluminösen Band ab, wobei das der Handschriften und Archivalien besonders wichtig ist, erschließt sich dadurch doch ein regelrechter Handschriftenkatalog, und als solchen werden vermutlich die meisten Forscher die Arbeit nutzen wollen. Das Buch ist, dem Standard der Monumenta Germaniae Historica entsprechend, sorgfältig redigiert (Versehen sind kaum zu registrieren; S. 224 sollte der Dänenkönig Göttrik besser in der Form Godfred geschrieben werden; S. 806 Anm. 699 muss es A., nicht K. Hauck heißen). Wie lange T. an diesem Werk gearbeitet hat, lässt sein Vorwort nicht erkennen. Mehr als die Hälfte, nämlich rund 900 Seiten, wurden 1997/1998 an der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Referat Walter Berschin) eingereicht, die Ausdehnung auf die westfränkisch-französische Überlieferung danach vorgenommen. In einer Zeit, in der auf einen zügigeren Abschluss der akademischen Qualifikationen gedrängt wird, wirkt eine solch umfangreiche Dissertation anachronistisch. Das freilich geht kaum zu Lasten des Verfassers, der mit seiner Arbeit Maßstäbe für die Handschriftenforschung gesetzt hat.