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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

419 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Hamm, Berndt, und Thomas Lentes [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. X, 212 S. gr.8 = Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe, 15. Geb. ¬ 89,00. ISBN 3-16-147414-7.

Rezensent:

Gustav Adolf Benrath

Der Sammelband, der im Wesentlichen die Referate umfasst, die innerhalb der Kirchengeschichtlichen Sektion auf dem Historikertag 1998 in Frankfurt/M. gehalten wurden, enthält sechs Aufsätze sowie im Anhang zwei kleine Texteditionen (Johannes Herolt O. P., 1468; Stephan Fridolin O. F. M., 1498). Die Aufsätze befassen sich mehrheitlich mit Schriften, die von Klerikern verfasst sind und Themen der typisch spätmittelalterlichen, "lebenspraktisch orientierten" monastisch-asketischen Theologie behandeln, z. T. aber auch darüber hinaus die Hebung des Wissens und der Frömmigkeit der Laien zum Ziel hatten. Für die Dominikanerinnen, die sich in Nürnberg 1428, und die Klarissen, die sich ebenda 1452 der strengen Observanz ihres Ordens anschlossen, galt es nach der Ordensreform, ihrer höheren geistlichen Verpflichtung und dem entsprechenden Selbstgefühl gemäß nur eben auf den altbewährten Wegen fortzufahren (Petra Seegets).

In den Schriften des Windesheimer Regularkanonikers Frederik van Heilo ( 1455) hingegen, der nach jahrelanger Tätigkeit als Beichtvater in drei niederländischen Frauenklöstern sein Amt schließlich aufgab, um in seinen Heimatkonvent nach Haarlem zurückzukehren ("reliqui eas, ut me invenirem", 72), ist die Problematik des Gegenübers von Priester und Nonne, Mann und Frau in der Beichtsituation auf überraschend differenzierte Weise zur Sprache gebracht. Ein überzeugter Vertreter der Lehre vom freien Willen und der Möglichkeit des Fortschreitens (profectus) auf dem Weg zur Vollkommenheit, bezeichnete er die Nonnen nicht mehr altväterlich als seine "Beichtkinder" oder seine "Töchter", sondern als Mädchen und Frauen (80). Aber für seine eigene Person resignierte er: "Nullum regimen difficilius et periculosius est regimine feminarum" (Eva Schlotheuber, 68). - Bei der Mitteilung christlichen Grundwissens durch die "Frömmigkeitstheologen" an die Laien ist, dem Aufsatz von Christoph Burger zufolge, nicht nur zunächst die zunehmende Verwendung der Volkssprachen (frz., deutsch, nld.) an Stelle des Lateins bemerkenswert, sondern auch eine nachträgliche Rückwendung zum Gebrauch des Lateinischen, die sich an lateinkundige Vermittler, Propagatoren und Multiplikatoren wendet und sich aus der (enttäuschten) Erkenntnis erklären lässt, "daß die simplices auf direktem Wege eben doch nur sehr unvollständig erreichbar waren" (99). Ein solches Motiv sekundärer "Re-Latinisierung" ist allerdings nicht durchweg beweisbar (104), sondern am ehesten bei Jean Gerson vorauszusetzen (101). In jedem Falle gilt aber: "Die einfältigen Christen wurden weiterhin nur betreut, nicht mündig gemacht." (108)

Die Steigerung des monastischen Ideals der Vollkommenheit rief gleichzeitig auch den Wunsch nach Ermäßigung der vermehrten Forderungen hervor: "Entlastung - ein Trend des Spätmittelalters" (122). Berndt Hamm geht der Minimierung der asketischen Ansprüche an den Menschen (bes. bei Johannes von Paltz) und der parallel zu beobachtenden Wandlung des Gottesbildes (bes. bei Staupitz: "forcierte Barmherzigkeitstheologie", 135) nach und beurteilt von hier aus Spätmittelalter und Reformation zusammen als eine einzige kohärente "Ära einer religiösen Transformation", während er die Ansicht von der "Reformation als Systembruch" ebenfalls beibehalten will (145 f.). - Hans-Martin Kirn schließlich stellt einen Zusammenhang zwischen dem zeitgenössischen Ideal der strengen Nachfolge Christi und einer zunehmenden antijüdischen Profilierung des Glaubenswissens und der Frömmigkeit fest: "Der Jude" wird hier zum Typus des diesseitigen Weltmenschen erklärt, dessen abscheuliches Verhalten christlicher Frömmigkeit stracks zuwiderläuft: "contemptus mundi - contemptus Judaei"! Auch hier ist Kontinuität zu beobachten: Es "überdauern die Grundfiguren mittelalterlicher Judenfeindschaft die Um- und Aufbrüche der Reformation" (178).

Innerhalb des insgesamt anregenden Sammelbandes lässt der ambitiöse Aufsatz von Thomas Lentes, "Die Deutung des Scheins" (1-23) in formaler wie inhaltlicher Hinsicht die meisten Wünsche offen.