Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2003

Spalte:

417–419

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Auffarth, Christoph

Titel/Untertitel:

Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem und Fegefeuer in religionswissenschaftlicher Perspektive.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 320 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 144. Lw. ¬ 36,00. ISBN 3-525-35459-2.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

"Was trieb die Kreuzfahrer an, den riskanten Weg nach dem irdischen Jerusalem zu unternehmen, wenn sie das himmlische Jerusalem in jeder Kirche vor Ort betreten konnten? Was führte zu dem beispiellosen Erfolg des Fegefeuers?" Mit den vorliegenden Untersuchungen zur mittelalterlichen Eschatologie unternimmt der Vf. den Versuch, "ein zentrales Motiv in den mittelalterlichen Religionen aus der Perspektive und mit den Methoden eines Religionswissenschaftlers zu beschreiben". Er ist überzeugt davon, dass die Religionswissenschaft einen eigenen Beitrag - neben der Kirchen- und Geistesgeschichte - dazu leisten kann (11). Das vorgelegte Buch stellt eine Göttinger Dissertation von 1996 dar. Es enthält keine systematische Darstellung eines Themas, sondern ein Florilegium von Beiträgen, die mehr oder weniger zusammengehören, der letzte Beitrag hat mit den übrigen wenig gemeinsam.

Folgende Beiträge sind aufgenommen: 1. Auf dem Wege zu einer Europäischen Religionsgeschichte des Mittelalters - Programm und Modelle (15-35), 2. Das Paradies - zwischen lustvoller Utopie und leidenschaftlicher Selbstdisziplinierung (36-72), 3. Himmlisches und irdisches Jerusalem (73-122), 4. "Auferstanden in den Himmel": Die Makkabäer - Jüdische Heilige als Modell für die Kreuzfahrer (123-150), 5. Die "Geburt" des Fegefeuers aus dem "Geist" der Inquisition (151-198), 6. Mißverstehender Dialog und Polemik der Religionen (199-209), 7. Das zukünftige Reich: Die Wissenschaftsgeschichte als Teil der Religionsgeschichte der Jahrhundertwende 1900 (210-252). Eine Bibliographie und Indices sind beigefügt.

Auffallend ist, dass in dem vorgelegten Buch prinzipielle, wissenschaftsgeschichtliche und kulturgeschichtliche Beiträge nebeneinander stehen. Ob das "Religionswissenschaft" ist, wird der Autor anders als der Rezensent sehen. Er versteht sie erklärtermaßen als Kulturgeschichte (23 ff.), nicht als Religionsphänomenologie. Letztere, aber nicht erstere würde ein neues Bild auf die dargestellte Zeit werfen; kulturgeschichtliche Untersuchungen gibt es zuhauf.

Der Vf. diagnostiziert bei der gegenwärtigen Lust am Mittelalter "eine alternative Erweiterung der Gegenwartserfahrungen" (20). Er sieht die Religion "funktional eingebunden in die diese Religion lebende Gesellschaft" (30) und meint, Eschatologie des Mittelalters sehe keinen Weltuntergang vor. Was aber dann? (33)

Im Mittelalter waren die Menschen auf den Himmel hin orientiert und von der Sehnsucht nach dem wahren Vaterland bestimmt. Lange Zeit jedoch habe das Christentum nur die Schrecken der Hölle ausgemalt, hinsichtlich der Freuden des Paradieses sei es sprachlos geworden. Dem ist kaum zu widersprechen. Allmählich wurde jedoch nach muslimischem Vorbild der "Hortus inclusus" zum Vorbild des Paradieses, bleibt aber - im Unterschied zum Islam - ziemlich blutleer. Die Anlage des Paradieses als Verdichtung der Heilsgeschichte wird mancherorts - in den Klostergärten (Idealplan von St. Gallen) bzw. in der Anlage eines Kreuzganges - vorgenommen. Der Vf. resümiert: "Für die mittelalterlichen Christen mit ihrer Trennung von religiösen Virtuosen und Laien ist das Leben im Paradies anstrengend; es ist nur wenigen vorbehalten. Kein Paradies für alle, wie im Islam!" (72) Solche Beobachtungen sähe man gern öfter.

Die "Kreuzzugseschatologie" sieht der Vf. als "pathologischen Exzeß". Er unterscheidet: Das himmlische Jerusalem stand für das jenseitige Heil, das irdische für das ferne, aber reale Ziel der Kreuzfahrt. Es gab etwas zu gewinnen, materiell wie eschatologisch (81). Da dies der Fall war (dem stimmt Rez. zu), kann doch wohl kaum so klar zwischen jenseitigem und irdischem Jerusalem unterschieden werden. Ging nicht beides Hand in Hand? Es ist widersprüchlich, wenn der Vf. schreibt: "Wohl brennen die Teilnehmer vor Verlangen zu sterben, bevor sie wieder in ihre Eigentümer zurückkehrten, aber es ist ein seltenes Geschenk Gottes, im Heiligen Land sterben zu dürfen" (93) bzw. "Das Erreichen oder der Aufenthalt im irdischen Jerusalem ist ohne eschatologische Bedeutung". Wenn es ohne diese ist, warum brennt man danach, dort zu sterben? Ist es eine Lösung, wenn es weiter heißt: Die Jerusalemwallfahrt "ist nicht eschatologisch im apokalyptischen Sinne konzipiert, wohl aber individuell eschatologisch, auf den eigenen Tod bezogen" (95 f.; vgl. auch 146, s. u.)? Kann man das trennen? Kann man verallgemeinern, dass dadurch, dass die heiligen Stätten vielfach nachgebaut wurden, man nicht mehr zu reisen brauchte? Die Jerusalemwallfahrt blieb doch auch über die Kreuzzugszeit hinaus erklärtes Ziel des Abendlandes! Ein Nachbau, das "Heilige Grab", blieb doch immer nur unvollkommener Ersatz, auch dann, wenn Bernhard von Clairvaux es als himmlisches Jerusalem bezeichnet (120).

Das 4. Kap. zeigt, wie die Makkabäer Vorbild der Kreuzfahrer wurden. "Das Sterben auf dem Kreuzzug gewinnt auch für Nichtkämpfer eine neue Qualität, eher dort zu sterben als in der Heimat" (146).

Im 5. Kap. setzt sich der Vf. mit Le Goff (Die Geburt des Fegefeuers, dt. 1984/90) auseinander. Er wirft ihm vor, er habe nicht den "Anspruch der historischen Verknüpfung in einer histoire totale" erfüllt (158). Der Vf. bezeichnet das Fegefeuer als einen "Ort, der die Funktionen der Hölle übernimmt, aber sie der Herrschaft der Engel unterstellt" und so zum Durchgangsort in den Himmel wird (167). Kann man sagen, im Fegefeuer sei "sogar die Beichte, auch nach dem Tode noch möglich und gültig"? (191) Mit Recht hebt er die unheiligen Allianzen hervor, die die spätmittelalterliche Kirche zur "Kreditgenossenschaft des Heils" durch die Behauptung vom thesaurus ecclesiae machte (193). Le Goff sprach von der Revolution der Laien in der Geburt des Fegefeuers; eine teure Revolution! Zu Gunsten der "Toten Hand" verausgabten sie sich in ihren Testamenten. Die Kirche wurde ihre "Versicherungsgemeinschaft" (197).

Wird man der mittelalterlichen Eschatologie so wirklich gerecht: "Die Gemeinschaft mit Gott im Himmel, sein Angesicht zu schauen, an seiner Hochzeitstafel mitzufeiern, ist kaum ein Thema; Gott wohnt nicht dort, man sucht sich ein möglichst angenehmes Plätzchen zum wohnen im Himmel, bei Verwandten und Freunden. Andererseits wird die Liebesvereinigung bei Bernhard von Clairvaux sehr konkret. Seine aus Tugenden gebauten Himmelsleitern benutzt er dazu, um mit der himmlischen Braut im Hochzeitsbett der Liebe zu frönen ... Das Motiv des fensterlnden Liebhabers ist offenbar nicht so sehr von der Tradition bestimmt als von der modernen Lyrik der Troubadoure" (202)? Sicher, es gab eine ausgesprochen erotische Frauenmystik - von ihr spricht der Vf. nicht -, aber so vulgär kann man die Frömmigkeit nicht schildern! Er selbst wendet sich ja zu Recht gegen das Konzept einer "Einheitskultur" im Mittelalter, diese sei "eine Fiktion des 19. Jahrhunderts" (208).

Das letzte Kap. hat mit den übrigen Themen des Buches wenig zu tun. Jetzt geht es zur Sache, die Theologie um 1900 wird heftig kritisiert. Der Kulturprotestantismus ist nicht Sache des Rez. Aber Kritik muss sachlich bleiben. So behauptet der Vf., zentraler Gedanke der Luther-Renaissance sei gewesen, "Reformation als Germanisierung des Christentums" darzustellen (Böhmer, Der junge Luther; Gerhard Ritter, 211). Das Evangelium sei zur deutschen Religion geworden (218). Er spricht von der "Parole der Berliner Mandarine" (226) und von der "Protestantischen Reichseschatologie" (234). Den Theologen der Bekennenden Kirche wirft er vor: "Ihr Antijudaismus stützte den Antisemitismus" (244). Und inwiefern E. Stauffer mit dem Satz "Das Urchristentum kennt nur eine Kirche. Diese Kirche ist aber weder Nationalkirche noch Weltkirche, sondern Völkerkirche" die "völkische Form des Christentums" stützt (245), bleibt Geheimnis des Vf.s Sicher, manche der in diesem Beitrag gemachten Beobachtungen sind nicht falsch, aber sie sind unseriös, übertrieben und einseitig dargestellt.

Einige Fehler fallen auf: So war Albert Schweitzer nicht reformiert, sondern lutherisch (23); 176 ist von regionalen Unterschieden "als anglikanische Kirche, als reformierte und calvinistische Kirchen" die Rede. "Die zwei Körper des Königs" von E. H. Kantorowicz erschien auf Deutsch erstmals 1990, nicht 1993.

Manches im vorgelegten Buch entspricht der Absicht des Vf.s, das Thema aus religionswissenschaftlicher Perspektive darzustellen. Anderes wird diesem Anspruch kaum gerecht. Auffallend ist, wie oft er geradezu programmatisch redet (z. B. 162.209.210-252).