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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

414–416

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Aertsen, Jan A., u. Martin Pickavé [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ende und Vollendung. Eschatologische Perspektiven im Mittelalter. Mit einem Beitrag zur Geschichte des Thomas-Instituts der Universität zu Köln anläßlich des 50. Jahrestages der Institutsgründung.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. XIV, 763 S. m. zahlr. Abb. gr.8 = Miscellanea Mediaevalia, 29. Lw. ¬ 218,00. ISBN 3-11-017214-3.

Rezensent:

Christoph Auffarth

Das zweite Millennium verpflichtet. Mittelalterliche Eschatologie steht auf dem Themenplan. Gut, aber unter welcher Fragestellung? Ende und Vollendung, Apokalyptik und Himmelreich, da stoßen Vorstellungen aufeinander, die nicht harmonisiert werden können. Die Gegensätze werden aber nicht zur Hermeneutik, sondern der Gegensatz modernes Denken versus "der mittelalterliche Mensch" produziert und reproduziert über weite Teile der Problemstellung die alten Vorurteile. "Die Ausgangsthese der Mediaevistentagung lautete: Für das Verständnis des Menschen und der Welt ist im Mittelalter, im Unterschied zu anderen Perioden, die eschatologische Perspektive konstitutiv." (72) Einspruch: Versuchen wir mal die Gegenthese: In der Moderne ist die eschatologische Perspektive viel radikaler, weil der Tod als individueller Abbruch verstanden wird und weil die religiöse Sinnstiftung mitsamt dem gemeinsamen Durcharbeiten im Ritual verloren gegangen ist. Was unterscheidet die Eschatologie des Mittelalters von der der Moderne, von der anderer Kulturen und ihren Religionen? Wie hat die Eschatologie - oft im Widerspruch - die europäische Religionsgeschichte geprägt? Vergessen die Debatten von Taubes, Eliade, Löwith, Blumenberg, Bloch, Taubes über abendländische Eschatologie und Legitimität der Neuzeit! Der Gegensatz, ob man sich schon im Millennium befindet oder dieses unmittelbar bevorsteht, entschärft die Eschatologie oder verschärft sie zur Apokalyptik. In der Zeit vor dem "apokalyptischen Saeculum", dessen Beginn durch die große Pest um 1350 markiert ist, ist die Apokalyptik des Mittelalters (das ist fast ausschließlich: des lateinischen christlichen Mittelalters - gibt es noch andere Mittelalter?) zwar durch die religiöse Tradition präsent, aber nicht bedrohlich. Sie ist entschärft durch eine "unapokalyptische Lesart der Apokalypse".1

Realisierte, präsentische, individuelle und universelle Eschatologie: Die Begriffe sind nicht mit ihren Gegenbegriffen zu hermeneutischen Werkzeugen entwickelt. Nichts davon ist systematisch entfaltet und die Autoren sprechen von der einen oder der anderen Eschatologie, also aneinander vorbei. "Interdisziplinarität" (72) ist ein hohes Gut, wenn sie an einer gemeinsamen Fragestellung und nicht einfach nebeneinander arbeitet. Hier stehen all die qualitätsvollen Beiträge der internationalen Elite zu diesem Thema nebeneinander. Man kann sie fast ausnahmslos auch in größeren Monographien lesen (die Diss. von Lewis zu Petrus Olivi mit einer umfangreichen Edition müsste längst allgemein benutzbar sein). Es hätte eine interessante Herausforderung werden können: durch eine Fragestellung und die Klärung der Begriffe. Ein Reader's Digest sollten solche Tagungsbände nicht sein.

Ein Blick auf den reichen Inhalt. In einer ersten Abteilung stehen Rückblicke auf "50 Jahre Thomas-Institut" mit Beiträgen von Erich Meuthen, Wolfgang Kluxen, Albert Zimmermann, Andreas Speer und seinem jetzigen Leiter Jan Aertsen. Danach kommt mit der Einleitung (69-75) von Aertsen das Thema der Tagung zur Sprache. Bernard McGinn gibt den Überblick The Apocalyptic Imagination in the Middle Ages (79-94) gefolgt von einer Zusammenfassung der Mystischen Eschatologie von Alois M. Haas (95-114). Beide Altmeister wie gewohnt magistral, aber doch ohne die Perspektiven früherer Arbeiten.2 Carlos Steel vergleicht die christliche und neuplatonische Eschatologie, die Apokalyptik ist vergessen (115-137). Die präsentische Eschatologie als Utopie wird in Marguerite Poretes "Spiegel der einfachen Seelen" bedacht (Irene Leicht, 138-149). Jos Decorte zu Geschichte und Eschatologie (150- 164) vergibt die o. g. Möglichkeiten des Vergleichs von Moderne und Mittelalter. Wo bleibt das moderne Sinn-Äquivalent "Zukunft", "Fortschritt", "fin de siècle"? Das Jahr 1000 wird in den Aufsätzen von Tzotcho Boiadjev behandelt: Der mittelalterliche Apokalyptismus und der Mythos vom Jahr 1000. Ungleich präziser ist Anna-Dorothee von den Brincken: Abendländischer Chiliasmus um 1000? Zur Rezeption unserer christlichen Ära. (179-192; sehr gut dazu auch Miethke, 505-509).

Die folgenden Beiträge weiten das Feld auf die politische Dimension, auf Kulturen außerhalb Europas und des Christentums: Hannes Möhring: Der Arabersturm, die Endkaiser-Weissagung der Christen und die Mahdi-Erwartung der Muslime, 193-206. Friedrich Niewöhner berichtet über Maimonides' Weissagung vom Ende der Welt auf 1210 (227-238). Zum Mendikanten-Streit schreiben Roberto Lambertini und Francisco Bertelloni über Aegidius Romanus. In der folgenden Abteilung (279-370) erscheinen Beiträge zur Eschatologie in Kunst und Liturgie (Alex Stock, Peter Kurmann, Bruno Boerner, Silke Tammen, Johannes Zahlten). Hier kommen die Gegensätze von individueller und universaler Eschatologie noch am deutlichsten zum Ausdruck.

Das "Kerngeschäft" des Thomas-Instituts, Philosophie und Eschatologie, bleibt trotz guter Darstellungen von Thomas, Albertus Magnus, Dietrich von Freiberg bis zu Ockham (Willemien Otten, Henryk Anzulewicz, Caterina Rigo, Wouter Goris, Karl-Hermann Kandler, Dominik Perler, Günther Mensching, 373-477) ohne Profil, weil die Gegensätze universal/individuell, gegenwärtiges/zukünftiges Heil, Prolepse oder Prädestination nicht mit bedacht sind. Thomas von Aquin wird in einer eigenen Abteilung bearbeitet (warum nicht gleich anschließend? Jean-Pierre Torell, Rudi Te Velde, William Hoye, Wilhelm Metz, 561-637). Auch hier ist zu wenig davon die Rede, gegen wen sich die Konzeption richtet - zwischen der eigenen Verurteilung jedenfalls einzelner Aussagen und den Gutachten zur Verurteilung anderer.

Die nächste Abteilung gilt Joachim von Fiore mit seiner innerweltlichen Utopie des Dritten Reichs des Geistes (481- 557, Kurt-Victor Selge, Jürgen Miethke, Sabine Schmolinsky, Elisabeth Reinhardt, Josep-Ignasi Saranyana). Hier und in Petrus Johannis Olivi steckt eine Herausforderung, was eigentlich mittelalterliche Eschatologie auch sein kann, und warum die mittelalterliche Apokalyptik bis zum Spätmittelalter ein zahmer Tiger ist (641-683). Es folgen die Auseinandersetzung über die visio beatifica im Ponifikat Johannes XXII. (Christian Trottmann und Volker Leppin, 687-717) und eine Abteilung über die Eschatologie im Spätmittelalter, wieder zwei völlig unterschiedliche Perspektiven, eine auf die ars moriendi, die andere auf die Eschatologie als politisches Programm unter den Hussiten (721-744: Rolf Schönberger, Vilém Herold). Das Namensregister erschließt den gewaltigen Band.

Der Band ist eine Pflichtveranstaltung, auf hohem Niveau, aber ohne eine Fragestellung gefunden zu haben. Miscellanea ohne roten Faden. Es gibt gute Sammelbände mit einem klaren Fokus, in denen sich die Beiträge wirklich auf ein Thema beziehen, etwa auf Apokalyptik (z.B. Emmerson/McGinn 1992; die Ausstellung Himmel, Hölle, Fegefeuer mit der Einleitung von Peter Jezler 1994). Am meisten überrascht, dass in einem Buch über mittelalterliche Eschatologie Religion nicht vorkommt und keine religionswissenschaftliche Perspektive enthält. Das Thema ist keine akademische Frage unter Philosophen, auch nicht nur unter Theologen. Man wird einzelne Aufsätze lesen, Bibliographien werden sie erschließen, aber man hat hier keine Synthese zur mittelalterlichen Eschatologie.

Fussnoten:

1) Vgl. dazu Christoph Auffarth: Mittelalterliche Eschatologie. Diss. Groningen 1996; erweitert und überarbeitet als: Irdische Wege und himmlischer Lohn (s. ThLZ 128, [2003], 417).

2) Apokalyptik im Mittelalter in der Encyclopedia of Apocalypticism, ed. John J. Collins; Bernard McGinn; Stephen J. Stein. Vol. 2, New York 1998. Dazu die Rezension des Rez. in: Arcadia 35 (2000), 354-357.